Ludwig Steinherr: Engel in freier Wildbahn
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Timo Brandt
Ludwig Steinherr: Engel in freier Wildbahn. Gedichte. München
(Allitera Verlag – Lyrikedition 2000) 2019. 156 Seiten. 19,90 Euro.
Lichte Flächen, voll
Schwund und Glauben
„Dieser Morgen ist ein verfeinerter Audiometrie-Test –Hörst du die Autotür, die in Michigan zuschlägt?Hörst du die Fuchspfoten knirschenin dem Waldstück bei Tallinn?Hörst du die Gedanken der Freundindie eben erwacht in Stockholm und in die Dämmerung blickt?“
Viele Gedichte sind kleine Schulungen in Aufmerksamkeit –
das mögen manche für eine Binsenweisheit halten, ich fühle mich aber durchaus dazu
berufen, solche zentralen Überlegungen immer mal wieder in Erinnerung zu rufen.
Bei Ludwig Steinherr tritt dieser Aspekt der Aufmerksamkeit noch dazu besonders
zutage. Womit ich nicht sagen will, dass Steinherrs Gedichte uns belehren
wollen – aber sie haben stets im Blick, dass sie das Bindeglied zwischen einer
Erfahrung und dem Verstehen der Erfahrung sind, oder anders gesagt: die
Ausführung der Erfahrung mit anderen Mitteln.
In Steinherrs neustem Band scheint zunächst alles erfüllt
von Licht zu sein, lichtdurchflutet. Hinzu kommt, dass Schnee und Stille eine
Rolle spielen, die Verse peilen oft eine glanzvolle Grundstimmung an.
„Es gibt Tage an denen das Licht im Savoy absteigtmit großem Gefolge –Es gibt Tage an denen das Licht eine Laufmasche hatund es ist ihm egal –Es gibt Tage an denen das Licht den Herbst schlürft wie bitteren Tee –[…]Es gibt Nächte in denen die Worteim Dunkeln miteinander schlafenEs gibt Nächte in denen die Wortedas Licht dabei zuschauen lassen –“
Obgleich ich für diese Art von Besinnlichkeit empfänglich bin, muss ich zugeben, dass, neben der Begeisterung für das ein oder andere Gedicht, während der Lektüre auch ein leichter Zweifel an mir zu nagen begann, ob da nicht mitunter ein bisschen viel Besatz im Spiel ist, ein bisschen viel scheue Heiligkeit. Ich kenne Steinherr als ausgewogenen Autor und einige seiner Gedichte schätze ich besonders für ihren einzigartig feinen Zynismus, dem ohne Verneinung eine kritische Haltung gegenüber dem Zeitgeist (und der Menschheit an sich) gelingt, die viele Gegebenheiten und Erscheinungen hinterfragt und doch ihre Faszination einfängt.
An Faszination herrscht auch in „Engel in freier Wildbahn“ kein Mangel, aber dann und wann ist sie hier gepaart mit leichten Verklärungserscheinungen, zumindest ist das mein Eindruck. Darunter leider zwar nicht die Anschaulichkeit, die Vermittlungsmagie der Texte, aber doch mitunter die Intensität, allzu glatt wirkt manche Darstellung und tritt nicht so ohne Umschweife zu/in uns wie etwa das Gedicht „Raureif“ (hier der Anfang zitiert):
„Die Landschaft hat eine GänsehautAls hätte ihr ein Fingersehr sanft über die Wirbelsäule gestrichengenau zwischen den Schulterblättern –Aber sie ist noch zu verschlafen –“
Steinherr hat ein gutes Gespür für Szenerien und genau
dieses Gespür macht auch die etwas zu hymnischen oder glänzenden Gedichte
zugänglich und erfahrbar, ganz gleich ob es um Gegenstände (wie etwa die
Schneekugel) geht oder um das menschliche Innenleben, in einem der Gedichte
imaginiert als Palast, in dem in vielen, vielen Zimmern alle verschiedenen
Emotionen und Wünsche und Bedürfnisse wohnen, herumtigern, während das Ich nur
das Dachgeschoss bewohnt, von wo man den besten Ausblick hat und wohin alles
heraufhallt.
Alter und Sterblichkeit sind zwei größere Motive, die sich
auch durch den Band ziehen, und natürlich ein gutes Pendant zu den
Herrlichkeiten und dem Licht.
„Mein Geist ist ewig jung, sage ich mir –doch was nützt das?Mein Körper ist eine verwitterte Pyramidetief im Regenwald –Seine Götter sind archaisch –“
Alles in allem liefert Steinherr ein weiteres Kapitel seiner
kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Welt und den
Phänomenen des Ich, für die er immer wieder bestechende Bilder, schöne Wendungen
und Verdichtungen findet, deren Wahrnehmung er ein Blickfeld einrichtet und die
er ohne falsche Scheu sammelt und sammelt. „Engel in freier Wildbahn“ ist
vielleicht hier und da eine Spur zu hell, zu lichtend, aber man wird immer
wieder belohnt mit Stellen, deren Herrlichkeit jede Kitschvermutung sprengt,
wie etwa wenn Steinherr am Ende eines Gedenkgedichts für eine Freundin
schreibt:
„Die nun die Raucherecke des Paradiesesum einen supercoolen Engel vermehrtund um die großen Mozartmessen ihres Lachens –“