Linda Vilhjálmsdóttir: Freiheit
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Kristian Kühn
Geister und Höllen Europas
„frelsi“ erschien 2015 als siebenter Gedichtband der Lyrikerin
Linda Vilhjálmsdóttir, die sich seit den 90er Jahren in Island und langsam auch
anderswo einen Namen macht. Auf Deutsch ist der Band nun 2018, übersetzt von Jón
Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, zusammen mit dem Originaltext im
ELIF-Verlag erschienen, welcher sich bereits letztes Jahr mit Denen zum Trost, die
sich in ihrer Gegenwart nicht finden können mit demselben Übersetzerteam einem Bündel
isländischer Gedichte, und zwar von Ragnar Helgi Ólafsson, widmete.
„Freiheit“, ein fast zusammenhängendes Narrativ in drei Kapiteln und einer biblischen Präfatio zur Einstimmung, ist thematisch stark von der isländischen Finanzkrise 2008/11 beeinflusst und beleuchtet nicht nur das Gespenst der Bankenmacht und die menschlichen Anhaftungen, die sich aus einer Sozialisation im Kapitalismus ergeben, sondern nähert sich – was schon an dem programmatischen Titel erkennbar ist – in fast liturgischer Form und zugleich auf sprachlich inspirierte Weise, als handele es sich um eine Litanie aus Trost und Verzweiflung, auch dem Gespenst der Freiheit, religionsphilosophisch betrachtet.
Vilhjálmsdóttir benutzt dazu, ohne darauf einzugehen, als Spannungsfeld die Argumente vor allem von Gottfried Wilhelm Leibniz und dessen Theorie von der besten aller derzeit möglichen Welten („Gott gibt dem Menschen-geschlecht Vernunft: begleitweise geschieht dadurch Unheil“).
Es ist der freie Wille des Menschen, den man nach Leibniz von Gott begrenzt zur Verfügung bekommen hat, um sich zu entscheiden, der positiv wie negativ in Erscheinung tritt, und der einer inneren gefestigten Form bedarf. Pluralistisch, aber ungeformt, mit vielen vielen Selfies, verzehrt sich dieser angeblich freie Wille unserer Zivilisation von selbst. Grenzenlose Freiheit wäre identisch mit einer Selbstvernichtung des Freien. Eine Freiheit, die nur Begriff von Unbegrenztheit ist und nicht erfüllt werden kann, konterkariere sich selbst. Dennoch bleiben Sehnsucht und Drang nach dieser Freiheit ohne jede Bindung. Erfühlen lässt sich aber Freiheit immer nur als eine Form von Ausgleich zwischen „Zuviel“ und „Zuwenig“.¹ oder – wie Vilhjálmsdóttir es in ihrer biblischen Präfatio ausdrückt: „die freiheit / zwischen finsternis / und licht“. Was bekanntlich auf den logos anspielt, den Christen als Matritze alles Werdens und Geschehens ansehen: „zwischen / himmel und erde / ist alles // wie es geschrieben steht“.
Bei Vilhjálmsdóttir geht es, auch wenn sie zynisch darüber schreibt, immer um die dem Menschen verbleibende Verantwortung, im Kleinen wie im Großen, mit den eigenen begrenzten Freiheiten umzugehen. Aus diesem Kontrast, hier das prophezeite Große, dort die kümmerliche Grenze aktiver Möglichkeiten, ergibt sich ihre liturgische Dramaturgie:
es wird als gegeben angesehendass die menschliche rasse zugrunde gehen wirddass sie in kürze in einer flut versinktoder verbrennt mit haut und haarund wir sind gehaltendas gas herunterzudrehen
Das erste Kapitel enthält primär Ideen und Anweisungen, wie wir ökologisch mit unserer Verantwortung und unserer Teilhabe am Weltgeschehen umgehen können, zum Teil versteckt auf grüne Denkmuster („generation latte“) anspielend:
auch wenn die generation latte es als möglich erachtetdie welt vom treibhauseffekt befreien zu könnenindem sie in die erdlöcher zurückkriechtund sich in nachhaltigem dreck suhltsind unsere vorstellungen von leben anderer artzumal wir menschen immer noch auf den beinen stehentrotz alledem
Ihr geht es auch um Würde und Stil im ersten Kapitel, um eine Form zwischen Regelfreiheit und Diktum.
das ist keine frage eines hobbys oder eines lebensstilswie man vielleicht meinen könnte es ist die fragewie man in würde seinen teil der verantwortung trägt
Im zweiten Kapitel begibt sich Vilhjálmsdóttir an den Ausgangspunkt christlicher Aufzeichnungen („mit blick / auf den anfang der zeitrechnung // ist es logisch / in bethlehem zu beginnen“) – hinunter „in die höhle wo der retter geboren wurde“ und dann – nach der Geburtskirche an die Klagemauer, hin zum interkulturellen Streit:
wenn man uns dann verwandelt hatin wahrhaft echte christenlässt man uns an der trennmauer wartenmit musaunserem fremdenführerder ebenfalls um seinen ursprung umhertanztund sich moses nennt wenn es besser passt
Sie ist nun an die Grenze ihrer persönlichen Freiheitserwartung gelangt, im gelobten Land, bei der Präsenz dreier Kulturen und ihrer Religionen:
ihm gefiel das thema meiner freundinüber den krieg der ständig in unseren köpfen wütethielt aber nicht viel von meinem freiheitsstoffmeinte freiheit an sich sei uninteressantes spiele keine rolle ob die menschen frei seiensolange sie mit der freiheit nicht umgehen könnten
Im dritten Teil geht es dann um die Bildung innerer Freiheit trotz äußerer Notwendigkeit - und was uns dazu gesagt wird. Wie wir zu innerem Frieden und Glück gelangen sollen, können, müssen – wieder als Kontrast zwischen religiösem Kontext und politischer Propaganda.
wie seit jeherwird uns gesagt dass wir gut beraten sinddie frohe botschaft ohne murren zu lobsingenwo wir alle vier jahrevor der kommunionsbank knienfrei und ungebunden und wählen dürfenob wir solarzellen oder alu scheibchen kauen wollenwährend der nächsten wohlstandsperiodeund sie hinunterschluckenmit einem ölfilm aus unentdeckten quellenoder pisswarmem wasser aus dem meer am pol
Eine Litanei mit politischem Sprengstoff, über alles, was uns unfrei machen kann, wenn wir zu sehr uns mit Schablonen und apodiktischen Narrativen vermeintlicher Verheißungen beschäftigen – ein bisschen zynisch, ein bisschen verzweifelt – aber immer inspiriert, fließend und sprachlich präzise. Das von Leibniz geforderte innere Urteil, das notwendigerweise allein zur Freiheit führen kann (s. Anmerkung) überlässt sie der kundigen Leserschaft. Doch noch einmal dazu das Leibniz-Zitat: „und hätten wir ein Urtheil ohne einen Trieb zum Handeln, so wäre unsere Seele blos Verstand ohne Willen.“
¹ Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodicee, Abhandlung über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Menschen, 1. Theil: 34. Die physische Mitwirkung Gottes und der Geschöpfe, insofern sie mit Willen geschieht, vermehrt ebenfalls die Schwierigkeiten, welche in Bezug auf die Freiheit bestehen. Ich halte dafür, dass unser Wille nicht blos frei ist von dem Zwange, sondern auch von der Nothwendigkeit. Schon Aristoteles hat bemerkt, dass es in der Freiheit zwei Dinge giebt, die Freiwilligkeit und die Wahl; darin besteht unsere Herrschaft über unsere Handlungen. Wenn wir frei handeln, zwingt man uns nicht, wie es geschähe, wenn man uns in einen Abgrund stürzte oder uns von oben nach unten würfe. Man hindert uns, wenn wir überlegen, nicht an der Freiheit des Geistes, wie es geschehen würde, wenn man uns einen Trank eingäbe, der uns des Urtheils beraubte. Es giebt einen Zufall bei tausend Handlungen der Natur, wenn aber in dem Handelnden kein Urtheil besteht, so hat er keine Freiheit; und hätten wir ein Urtheil ohne einen Trieb zum Handeln, so wäre unsere Seele blos Verstand ohne Willen.
Linda Vilhjálmsdóttir: Freiheit. Gedichte isländisch/deutsch. Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer. Nettetal (Elif Verlag) 2018. 120 Seiten. 18 Euro.