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Linda Vilhjálmsdóttir: das kleingedruckte

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Jan Kuhlbrodt

Linda Vilhjálmsdóttir: das kleingedruckte. Gedichte. Deutsch / isländisch. Übersetzt von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer. Nettetal (ELIF Verlag) 2021. 110 Seiten. 20,00 Euro.

Defizite im Islandbild. oder: Endlich das Traumschiff verlassen
Zu den Gedichten von Linda Vilhjálmsdóttir


bevor das jahrhundert zur hälfte vorüber ist
werden die finger und die vorgedrückten kinnspitzen
unserer vorfahrinnen

wie
wegweiser oder steinwarten
aus den schmelzenden gletschern ragen

Was ich bislang mit nordischer Landschaft verbunden habe, und nicht nur mit nordischer Literatur, war wohl auf einem romanischen Acker gewachsen. Bilder von Fjordlandschaften, Weite und Schnee auf der einen Seite und eine spezifische Form des Regionalkrimis auf der anderen. Brutale Morde vor schneebedeckter Landschaft.

Aber diese Vorstellung trug im Grunde schon lange nicht mehr, eigentlich trug sie noch nie, sondern war immer mediale Ideologie. Schon seit ich in der Schulzeit begann, mich für Ibsen zu begeistern, eine Begeisterung, die heute noch anhält; hätte ich es besser wissen können.
    Dennoch trieben mir mediale Traumschiffbilder durchs Hirn. Und dann auch noch Island, jene abgelegene Insel auf der sich Reagan und Gorbatschow trafen, um das Ende des Kalten Krieges einzuleiten. Die Insel mit den unaussprechlichen Vulkanen, die hin und wieder mit Asche den europäischen Flugverkehr lahmlegen. Die Insel, auf der sich nach Verne der Eingang zu einer prähistorischen Unterwelt findet, in die eine Forschergruppe, begleitet von einer Gans namens Ruth, hinabsteigt und auf allerlei, seit Millionen Jahren ausgestorbener Lebewesen, trifft. Ungeheuer, als müsse man Jahrtausende zurückgehen, um Ungeheuer zu sehen. Und dergleichen romantisch verträumte Geschichtchen mehr, die ganz sicher kaum was mit dem Island zu tun haben, was da heute vor Europas Küste schwankt.

Umso dankbarer bin ich, dass mittlerweile ein paar Verlage sich um skandinavische und isländische Literatur verdient machen. Und dankbar bin ich auch dem Übersetzerduo Gislasson/Schiffer, das kontinuierlich den hiesigen Markt mit Übersetzungen Isländischer Lyrik speist.

Gerade ganz frisch erschienen ist der Band „das kleingedruckte“ von Linda Vilhjálmsdóttir. Es ist der zweite Band von ihr, der in dieser Reihe erscheint, nachdem schon „Freiheit“ erschienen war, mit Gedichten, die mich aus einer verträumten Romantik mitten in eine sozial strukturierte von Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnissen durchzogene Gegenwart katapultierte. Und Vilhjálmsdóttir macht nicht viel Worte, redet nicht darum herum. Ihre Texte zielen unmittelbar auf die gegenwärtigen Wunden. Und wenn der erste Band Freiheit hieß, dann um das anzuzweifeln, was wir in unserem Dasein vielleicht als Freiheit verstehen. Eine Freiheit, die im politischen und ökonomischen Kontext auf Unfreiheit gründet, die uns letztlich nur im wahrsten Sinne des Verbs „Verkaufen“ als Freiheit verkauft wird.

In den Texten regt sich Zorn, und das ist das Phänomenale an Vilhjálmsdóttir, dass sie aus dem Zorn (ähnlich wie Pasolini) ein ästhetisches Erleben destilliert, ohne dass der soziale Hinter-grund, das Reale des Zornes also, verschwindet.

Und so auch hier in diesem zweiten Band, der aus Zyklen oder Langgedichten besteht, deren Abschnitte man guten Gewissens als einzelne Gedichte lesen kann. Als Grundschlag, aber auch als Trommelwirbel, Kraft für beides entwickeln die Texte allemal.

Gerade der zweite Zyklus des Bandes hat dieses treibende Schlagen einer Galeerentrommel.

manchmal
wie eine turbine im dampfkraftwerk

und manchmal wie eine frau
in einem pflegeberuf


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