Lin Wei-Yun: Drei Gedichte
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Lin Wei-Yun
Drei Gedichte
übersetzt von Alice Grünfelder
Wald
Wald ist mein
Nachname, ein Name, der immer mehr verblasst,
sich in Nichts
auflöst,
bis bloß noch
ein Baum übrig bleibt.
In unserem
neuen Leben gibt es viel Holz.
Unser Esstisch,
mein Stuhl, deine Bauklötze
die Wiege deines
kleinen Bruders,
die Bücher
deines Vaters.
So viel, so
viel Holz.
Das alles nicht
wieder zu einem Wald wird.
Erklärung:
Hier handelt es sich um ein kleines Wortspiel,
denn
木 heißt, Baum, Holz, zwei
Bäume 林ergeben einen Wald.
Wandel
Immer vielfältiger
das Mienenspiel
immer schwächer
die Gefühle
Immer häufiger
die Diskussionen
immer blasser
die Inhalte
immer mehr neue
Freunde
und alte immer
weniger.
Kriegszeiten
In Zeiten des
Kriegs
vernachlässigen
die Menschen nicht mehr ihre Pflicht.
Sie wollen
lieben
Kinder gebären
fremd gehen
Katzen und
Hunde schlagen
Schulen bauen
Straßen
ausbessern
reich werden
Briefe
schreiben
bestochen
werden
lesen schreiben
essen scheißen
erwachsen werden und klug
gleichzeitig
töten
oder getötet
werden.
Lin Wei-Yun, Lyrikerin, Akademikerin und Übersetzerin mit Schwerpunkt Polen.
Alle drei Gedichte sind enthalten in: Lin Wei-Yun: Ziji he bushi ziji de fangjian (Mein Zimmer und doch nicht mein Zimmer), Ecus Publishing House, Taiwan, 2018.