Lilian Peter: Mutter geht aus
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Monika Vasik
Lilian Peter: Mutter geht aus. Essays. Zürich (Diaphanes Verlag) 2022. 224 Seiten. 20,00 Euro.
Diskursdestillate
Was wurde früher, was wird heute von wem wie geschrieben? In ihrem programmatischen Essay „Der Text als Beutel, nicht als Waffe“, der am 2.8. dieses Jahres publiziert wurde (ZEIT online, Serie 10 nach 8), wendet sich die Autorin Lilian Peter offensiv gegen die ihrer Meinung nach im deutschen Literaturbetrieb dominierende patriarchale Idee des Romans. Sie plädiert für ein Abgehen von klassischen, christlich-männlich-weiß geprägten Schreibtraditionen und damit für einen Wechsel von Perspektiven und Inhalten. Peter fordert pointiert andere Literaturen ein, das heißt eine Erweiterung der Genres, ein diverseres Erzählen sowie Textformen, die Poesie, Erzählen und Denken verbinden. In ihrer Argumentation stützt sie sich unter anderem auf den Essay „Die Tragetaschentheorie des Erzählens“ von Ursula K. Le Guin, der 1986 in den USA erschienen ist. Im feministischen Sinn sei eine Erzählung nie als Waffe, sondern als Beutel zu verstehen, in dem der Text durch unheroisches Sammeln und Zusammentragen heterogener Teile gestaltet würde. Die Literatur, die dieser Vorstellung am nächsten komme, sei jene des Essays, weil er die freieste literarische Form sei, in der man die unterschiedlichsten Genres miteinander verbinden könne.
Dieser Text Lilian Peters kann als eine Art Nachbemerkung zu ihrem Debüt „Mutter geht aus“ gelesen werden. Denn die Autorin löst das Desiderat eines intelligenten, nicht hierarchischen Schreibens in ihrem Buch ein und zeigt auf versierte, oft leise humorvolle Weise, wie solch ein Beutel- oder Einkaufstaschentext und damit ein anderes Erzählen beispielhaft funktionieren kann. Movens ihrer Ausführungen ist der Wunsch zu begreifen:
... ich möchte ja nur verstehen, warum man überall auf der Welt jene Körper hasst, die Gebärmütter haben, ich möchte verstehen, wie dieser Hass in Schriftgeschichten zementiert wird, ich möchte verstehen, wie sie leben und wie sie sprechen, die Körper, die Zeichen, in denen jener Traum wächst, der sich „Leben“ nennt, oder: „Literatur“.
Der Titel „Mutter geht aus“ lehnt sich an ein gleichnamiges Spiel an, das Peter als Kind mit ihren Cousinen im Thomas-Mann-Ambiente des Hauses ihrer Großmutter spielte. Und er klingt auch im Titel des letzten Beitrags im Buch an: „über fliegen (Mutter geht aus)“. Peter versammelt in diesem literarischen Essayband sechs längere Texte, die über viele Jahre – geht man von den zahlreichen biografischen Bezügen aus, könnte man auch sagen, Lilian Peters Erinnerungs-bewusstsein lang – entstanden sind. Mit einem dieser Texte, der im Buch als erster abgedruckt ist, nämlich „Diebinnen im Paradies“, gewann Peter 2017 den Edit Essaypreis, ein Ansporn, diesen Weg eines anderen Erzählens konsequent weiter zu gehen. Im Anhang mit dem Titel „Korrespondenzen, Antagonist*innen und Verneigungen“ legt die Autorin schließlich für jeden ihrer Essays Einflüsse offen, die Teil ihrer eigenen Texte wurden, sei es als Hintergrundrauschen, sei es durch Aufnahme von Zitaten und Verweisen. Es ist eine ungeheure Vielzahl, die sie mit „Ich habe gemopst bei“, „Ich habe mir Sätze geliehen von“ oder „Ich habe mich aus dem Fenster gelehnt mit“ auflistet, darunter philosophische, germanistische und literarische Quellen, aber auch psychologisch-psychiatrische, juristische und feministische Zitate. Beispielhaft für eine genreübergreifende Textform und zudem reiche Fundgrube erwähnt Peter etwa „The Glass Essay“, den in Versen verfassten Essay von Anne Carson.
„Lilian Peter spannt weite und feine Bögen“, heißt es im
Klappentext. Denkt man an das von der Autorin evozierte Bild des Beutels,
drängen sich indes alte Kulturtechniken der Menschheit auf, nämlich einerseits
das Spinnen von Garn und andererseits das Weben. Statt Bögen würde ich daher
eher von thematischen Fäden sprechen, die Peter über die sechs Essays hinweg
immer wieder aufgreift und kunstvoll ineinander verwebt, wobei biografische und
andere Motivfäden mal als Kettfäden das Grundgerüst des Gewebes bilden, mal als
Schussfäden die Buntheit des Stoffs assoziativ bereichern. Dies geschieht auch
durch immer wieder in Klammern gesetzte Kommentierungen durch die Autorin.
Hauptfäden dieses Bandes und damit von Peters Gedankenbeutel sind vielerlei
Fragen, die das Nachdenken über die Position der Frau im Leben, in der
akademischen Lehre und in der Literatur in Gang setzen, etwa die Frage:
„Wie kommt es, dass so unterschiedliche Schriftgeschichten wie die chinesisch-japanische und die europäische eine Sache genau gleich groß zu schreiben scheinen, nämlich dass sich „die Frau“ „dem Mann“ zu beugen habe, dass sie geringer sei als er. Wie kommt es, dass europäische und japanische Mythen bisweilen sogar dieselben Bilder verwenden ..., wie leben diese Zeichen weiter und auf welche Weise sind sie wirksam?“
Es sind Auseinandersetzungen mit Lesarten von Weiblichkeit, mit Diskriminierung und misogyner Abwertung über Zeiten, Länder und Kontinente hinweg. Peter forscht Geschlechter-bildern und –identitäten nach, weist auf die Pathologisierung der Frau hin, auf generationen-übergreifende Traumata sowie hierarchische Wertungen. Und sie schreibt gegen diese patriarchalen Strukturen an als ein Weg der (Ab)Lösung.
Zusätzlich zu diesen Fäden, die Peter assoziativ verwebt, finden wir, um in der Diktion der Textiltechnik zu bleiben, Patchwork und Quilting, also das Einarbeiten verschiedener vorhandener Materalien und Stoffe, um damit neues Gewebe entstehen zu lassen. Dazu zählen Träume, Reisesequenzen, Märchen wie Rotkäppchen oder Peter und der Wolf sowie Mythen, etwa altnordische und japanische Sagen oder die Geschichte von Orpheus und Eurydike, allesamt Texte, die sie gegen den Strich bürstet. Teil des Gewebes sind auch Verweise und Auszüge aus Wörterbüchern, etwa dem Grimmschen Wörterbuch, oder präzise Herleitungen heute verwendeter Wörter von ihren lateinischen, hebräischen und altgriechischen Bedeutungswurzeln. Ziel ist es, so „die semantische Bürde des Mangels“ abzuwerfen, „sich aus der Bezeichnung durch den (Be)Deutenden zu entwinden“ und selbst zur rational agierenden Deutenden zu werden. Man entwindet sich der Sprachlosigkeit, indem man sich einen eigenen, festen Sprachboden schafft, sich (literarische) Handlungsmacht zuspricht und damit dem „Prinzip der Zweiheit mit einem Über- und einer Unterlegenen“ entkommt, hin zu einem Prinzip der Gleichheit. Denn:
„Wer hat das Recht, zu erfinden? Und wer nur das Recht, erfunden zu werden? Wer beugt, wer wird gebeugt? ... Es geht um die Frage: Wie richtet man den Körper auf, wie richtet man die Sprache auf, kommend aus den Beugungen vergangener und allgegenwärtiger Fiktionen. Es geht um die Frage: Wie schreiben, ohne zu beugen?“