Leta Semadeni: Ich bin doch auch ein Tier / Eu sun bain eir sco Tü
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Samuel
Meister
Leta Semadeni: Ich bin doch auch ein Tier / Eu sun bain eir sco
Tü. Gesammelte Gedichte Rätoromanisch-Deutsch. Zürich (Atlantis Verlag) 2022.
192 Seiten. 24,00 Euro.
Ausgepfercht: Zu Leta Semadenis Ich bin doch auch ein Tier
Leta
Semadeni, bekannt für ihre Prosatexte „Amur“ und „Tamangur“, schreibt auch als
Lyrikerin bewusst in der Tradition der rätoromanischen Poesie, die u.a. von
Peider Lansel oder Luisa Famos geprägt worden ist. Die Gedichte schütteln die
Berge, Tiere, die herbsüße Stimmung Graubündens nicht ab, auch wenn wir
zwischendurch in Quito oder Zürich landen. Jedes Gedicht hat Semadeni sowohl auf
Rätoromanisch (oder genauer Vallader) als auch auf Deutsch geschrieben. Das liest
sich zum Beispiel wie folgt (ss. 126–27):
Davant il serragl dals chucals
Al chucal
es l’uman
vacha chavà o chavra
La bes-cha
davant il serragl
nu sa nüglia
da la finezza dal gruogn
da la magia
cur cha saidla
as pozza sün saidla
Vor dem Schweinepferch
Dem
Schwein ist der Mensch
Kuh
Pferd oder Ziege
Das
Getier vor dem Pferch
weiß
nichts
von
der Zartheit des
Rüssels
der Leuchtkraft
der
Nacht wenn Borste
auf
Borste trifft.
Wir
blicken von außen auf uns, aus einer Umgebung, die uns ebenso verschlossen ist,
wie wir ihr. Für das Schwein gehören wir zur Masse des „Getiers“, ohne eigene
Identität, „Kuh Pferd oder Ziege“, die auf Rätoromanisch auch klanglich
verwischt werden, „vacha chavà o chavra“, wir bleiben ohne eigenes,
menschliches Innenleben. Gleichzeitig wissen wir nichts von dem, was das
Schwein innerlich ausmacht, nicht nur in dem Sinn, dass wir nicht
nachvollziehen können, wie das Schwein die Welt erfährt, sondern auch weil wir
keinen Zutritt zu den poetischen Mysterien des Schweins haben, der Magie („la
magia“), von der es sich beseelt fühlt, „wenn Borste auf Borste trifft“ oder
„saidla“ auf „saidla“. Es bleibt eine Fremdheit zwischen dem Menschen und
demjenigen, wovon er umgeben ist, die so weit reicht, dass noch versucht wird,
Schweinen ironisch einen inneren Novalis anzudichten, als letzten Versuch, dort
ein Gegenüber zu finden, wo wir ahnungslos bleiben, was vor sich geht.
Wenn
man auf dem Parkplatz eines winzigen Supermarkts, der in der Schweizer Provinz
immer „Volg“ heißt, steht mit einer Tüte voller Landjäger und Blattspinat, und
die Nacht eben dunkelblau hereingebrochen ist, man aber noch am nahen Horizont fast
schwarz auf schwarz die Waldgrenze am Hang erkennt, fragt man sich, wie es dort
ist, wie es dort für einen wäre, mit Blattspinat und Landjägern. Die Antwort
stellt sich sogleich ein: es wäre trostlos für einen, aber vielleicht nicht für
den anderen, sagen wir den Wolf, der auf den leuchtenden Stern des
Volg-Parkplatzes herabblickt. Es ist eine Schlucht zwischen uns und allem da
draußen, dem in diesem Moment auch der Humor nicht beikommt. Dieses Gefühl
zieht sich durch einige von Semadenis Gedichten, wie in „La not da luf“ / „Die
Nacht des Wolfs“: „Und die Wiese / wird Weite“, „E’l prà / dvainta planüra“ (s.
104).
Hinzu
kommen schlichte, poetologische Gedichte, z.B.: „Jedes Wort / das nicht gewählt
wird / schreit // Jedes Wort / das verworfen wird / schreit // Jedes Wort / das
bleibt / ruft // Nach den nicht gewählten / Nach den verworfenen // Und alle
Wörter / wiegen / gleich schwer“ (Gedichte schreiben, s. 79). Diese
Ästhetik der Aussparung ist allerdings sattsam bekannt, sodass man fast Lust
auf eine entgegengesetzte Poesie der überstopften Wurst bekommt. Das Gedicht
ließe sich übrigens gut mit Punkt und Komma als prosaischer Satz formulieren,
was mich zu einer zweiten Art der Aussparung zumindest der deutschsprachigen
Gedichte bringt: Sie klingen nicht. Damit meine ich nicht, dass sie eine spröde
Musikalität entwickeln, sondern dass sie überhaupt keinen lyrischen Stil haben.
Das mag bewusst so gewählt sein, verhält sich aber bei den rätoromanischen
Fassungen anders, sofern ich dies nicht exotisierend auf sie projiziere. Nur
schon die Rhythmik in „La bes-cha / davant il serragl / nu sa nüglia / da la
finezza dal gruogn“ ist wesentlich prägnanter als in „Das Getier vor dem Pferch
/ weiß nichts / von der Zartheit des / Rüssels“. Es wird im Nachwort betont,
beide Fassungen seien gleichermaßen ursprünglich, keine nur die Übersetzung der
anderen, aber mein Eindruck ist, dass die natürliche poetische Stimme die
rätoromanische bleibt.
Als
deutschsprachige Gedichte wirken die Texte zudem merkwürdig bezugspunktlos. Die
Sprache scheint unberührt von den Entwicklungen der deutschen Lyrik der letzten
Jahrzehnte. Das ist zunächst befreiend; coole Verrenkungen bleiben aus. Andererseits
bleiben die deutschen Gedichte in einer hermetisch angepuderten Erlebnislyrik
stecken, deren Gemütlichkeit mir ungemütlich wird. Und wieder ist es
erstaunlich, dass sich diese Wirkung auf Vallader nicht einstellt. Auf
Vallader, dem Vallader sei Dank, haben die Gedichte einen Hintergrund und eine
Orientierung. Und da wir es hierhin gebracht haben, empfehle ich desweiteren
Luzius Kellers neue Übersetzung der Gedichte von Luisa Famos (Unterwegs
/ In viadi, Limmat-Verlag, 2021) und ebenfalls von Keller Quarta
Lingua Quadrophon (Chasa Editura Rumantscha, 2018), wo er deutsche,
französische und italienische Übersetzungen rätoromanischer Gedichte einander
gegenüberstellt. Es ist eine Sprachwelt für sich, dort oben.