Leo Trotzki: Stalin. Zehntes Kapitel: Der Bürgerkrieg II
Portraits
Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
Zehntes
Kapitel.
Der Bürgerkrieg II
Im Frühjahr 1919 unternahm die
»Freiwilligenarmee« des Nordwestens unter dem Kommando des Generals Judenitsch
unerwarteterweise eine Offensive und bedrohte Petrograd. Gleichzeitig fuhr die
englische Flotte in den finnischen Meerbusen ein. Oberst Bulak-Balachowitsch
stieß an der Spitze seiner Truppen gegen Pskow vor, die estländischen Truppen
ihrerseits gingen auf der ganzen Frontlinie zum Angriff über. Am 14. Mai
drückte das Armeekorps des Generals Rodsjanko die Front der Siebenten Armee ein
– die dadurch sehr geschwächt war, daß ihr Truppen entzogen und an Fronten
gesandt worden waren, an denen größere Aktivität herrschte – besetzte Jamburg
und Pskow und nahm zu gleicher Zeit den Vormarsch gegen Gatschina, Petrograd
und Luga auf. Der Kommandeur der Siebenten Armee, die in der Nähe von Petrograd
stand, nahm mit Judenitsch Verbindung auf und organisierte eine Verschwörung in
den Garnisonen, die die Hauptstadt der Oktoberrevolution umgaben: Kronstadt,
Oranienbaum, Krassnaja Gorka, Sieraja Loschad, Krassnoje Selo. Die Verschwörer
trafen im Einverständnis mit Judenitsch Vorbereitungen, um die Hauptstadt
zugleich mit Judenitschs Truppen zu besetzen. Sie hofften auf Unterstützung
durch die unzufriedenen Matrosen und auf aktive Hilfe seitens der Flotte. Aber
die Matrosen der beiden sowjetischen Panzerkreuzer unterstützten den Aufstand
nicht, und die englische Flotte beschränkte sich auf wachsames Abwarten. Das
Unternehmen schlug fehl, aber am 12. Juni 1919 waren Krassnaja Gorka und
Sieraja Loschad noch in Händen der Verschwörer, und während vier Tagen wurde
kein Versuch gemacht, sie zu vertreiben. Schließlich wurde Krassnaja Gorka nach
einem Artillerieduell mit Kronstadt am 16. Juni von einer Abteilung roter
Matrosen eingenommen.
Stalin kam in den letzten Maitagen des Jahres
1919, vom Zentralkomitee der Partei und der Regierung mit außerordentlichen
Vollmachten versehen, in Petrograd an. Zwei Wochen später telegrafierte er an
Lenin:
Nach Krassnaja Gorka ist Sieraja Loschad auf dieselbe Weise liquidiert worden. Die Kanonen sind vollständig in Ordnung. Die Säuberung und Verstärkung des Forts und der Festungen werden aktiv durchgeführt. Die Marinespezialisten versichern, daß die Einnahme Krassnaja Gorkas von der Meerseite aus gegen alle Regeln der Seekriegswissenschaft ist. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, daß man diese sogenannte Wissenschaft über den Haufen werfen muß. Die schnelle Einnahme von Gorka erklärt sich durch das brutalste Eingreifen in die militärischen Operationen durch mich und andere Zivilisten, das soweit ging, daß wir zu Land und Wasser bereits erteilte Befehle zurücknehmen ließen und die unsrigen durchsetzten. Ich halte es für meine Pflicht zu erklären, daß ich in Zukunft genau so handeln werde, trotz meines Respekts vor der Wissenschaft.
Lenin war über diesen Ton provokatorischer
Prahlerei ungehalten. Von Petrograd aus war es in jedem Augenblick möglich,
sich mit dem Kreml in Verbindung zu setzen, unfähige oder unzuverlässige
Kommandeure abzuberufen und das Oberkommando straffer zu gestalten, das heißt,
das zu tun, was die Parteiarbeiter an der einen oder der anderen Front taten,
ohne dabei die elementaren Regeln einer angemessenen Haltung umzuwerfen, die
für die Aufrechterhaltung freundschaftlicher Beziehungen unumgänglich sind, und
ohne die Autorität des Oberkommandos und des Generalstabs zu untergraben.
Stalin aber konnte so nicht handeln. Um sich anderen überlegen zu fühlen, mußte
er sie beleidigen. Seine Arbeit bot ihm nur Befriedigung, wenn er seiner
Verachtung für die ihm Unterstellten auf die gröbste Art Luft machen konnte. Da
ihm kein anderes zur Verfügung stand, griff er zur Grobheit als dem Mittel, mit
seinem besonderen Genie zu prunken, das in der Verachtung für Institutionen und
Männer bestand, die allgemeine Achtung genossen. Sein Telegramm endete mit den
Worten: »Sendet eiligst zwei Millionen Geschosse zu meiner Verwendung für sechs
Divisionen.«
Dieses typisch Stalinsche Postskriptum deckt ein
ganzes System auf. Die Armee hatte natürlich ihre eigenen Verantwortlichen für
das Munitionswesen. Granaten waren immer nur in ungenügender Zahl vorhanden und
mußten unter Zugrundelegung der verfügbaren Reserven und der jeweiligen
Wichtigkeit der Fronten und der Armeen aufgeteilt werden. Über all das setzte
sich Stalin hinweg. Er tat, als ob die Leitung für Munitionsversorgung nicht
vorhanden wäre, und verlangte durch die Vermittlung Lenins Munition, und zwar
nicht, um sie dem Armeekommando zuzustellen, sondern um sie zur eigenen
Verfügung zu haben und sie wie ein Geschenk demjenigen Kommandeur zukommen
lassen zu können, dem er imponieren wollte.
(Zehn Jahre später wurde dieser kurze Aufenthalt
Stalins in Petrograd im Frühjahr 1919 von Woroschilow dazu benützt, eine neue Geschichtsfälschung vorzunehmen, die heute zu einem
der unerhörtesten Mythen der Stalinlegende geworden ist: »Stalin, der Retter
von Petrograd.« In Wirklichkeit) hat Judenitsch 1919 zweimal versucht,
Petrograd einzunehmen – im Mai und noch einmal im Oktober.
Judenitschs erster Vorstoß wurde mit
geringfügigen Kräften unternommen und diente nur der Erkundung; er wurde von
der Partei, deren Aufmerksamkeit sich auf die Vorgänge an der Ost- und Südfront
konzentrierte, praktisch nicht zur Kenntnis genommen. In den folgenden Monaten
stellte Judenitsch, mehr denn je unterstützt von England und durch Estland
gedeckt, eine neue, mit zahlreichen Offizieren und sehr guter Ausrüstung
versehene Armee auf. Dieser zweite Versuch war die eigentliche Kampagne gegen
Petrograd. Lenin nahm an, daß wir uns nicht an allen Fronten gleichzeitig
würden verteidigen können, und schlug vor, Petrograd aufzugeben. Ich stellte
mich dem entgegen. Die Mehrheit des Politbüros, mit Einschluß von Stalin,
unterstützte mich. Ich war schon in Petrograd, als Lenin mir am 17. Oktober
schrieb:
Habe die vergangene Nacht auf dem Verteidigungsrat verbracht. Ich sende Ihnen das Dekret, das beschlossen worden ist. Wie Sie sehen, ist Ihr Plan angenommen worden. Aber die Evakuation der Petrograder Arbeiter ist natürlich nicht rückgängig gemacht worden. (Es heißt, daß Sie in einem Gespräch mit Krassin und Rykow für diese Maßnahme eingetreten sind.) In der Anlage ein Appell, mit dessen Abfassung mich der Rat beauftragt hat. Ich war in Eile; er ist schlecht herausgekommen. Besser, meine Unterschrift unter die Ihrige zu setzen. Grüße.Lenin.
Der Kampf um Petrograd nahm äußerst dramatischen
Charakter an. Der Feind gelangte bis in Sichtweite der Hauptstadt, die sich auf
den Straßenkampf vorbereitete. Ich zweifelte nicht daran, daß die
fünfundzwanzigtausend Mann starke weiße Armee, selbst wenn es ihr gelänge, in
die über eine Million Einwohner zählende Stadt einzudringen, dem Untergang
geweiht war, wenn sie auf ernsthaften und gut organisierten Widerstand stieß.
Darüber hinaus hielt ich es für notwendig – vor allem für den Fall, daß sich
Estland und Finnland am Feldzug beteiligten –, für die Armee und die Arbeiter
einen Rückzugsplan nach dem Südosten vorzubereiten: das war das einzige Mittel,
die Elite der Petersburger Arbeiterklasse, der Ausrottung drohte, zu retten.
Der 21. Oktober wurde zum entscheidenden Tag; am
22. Oktober ergriff die Rote Armee ihrerseits die Offensive. Judenitsch hatte
Zeit gehabt, Verstärkungen heranzuholen und seine Reihen wieder aufzufüllen.
Die Kämpfe wurden immer heftiger. Am Abend des 23. Oktober
nahmen wir Djetskoje Selo und Pawlowsk ein. Unterdes marschierte die Fünfzehnte
Armee, die in der Nachbarschaft stand, von der Südseite aus heran und bedrohte
mehr und mehr die rückwärtige und die rechte Flanke der Weißen. Nun erfolgte
ein Umschwung. Jene Teile unserer Truppe, die von der Offensive überrascht
worden und über eine Reihe von Rückschlägen in Aufregung geraten waren,
übertrafen einander nun an Opfergeist und Heroismus. Mit Hinblick auf den
wilden Charakter der Gefechte erließ ich am 24. Oktober einen Tagesbefehl, in
dem es hieß: »Wehe dem unwürdigen Soldaten, der seine Waffe gegen einen
Gefangenen erhebt!« Und nachdem drei unserer Torpedobootzerstörer auf Minen
gelaufen waren, wiederholte ich meine Warnung: »... Aber selbst jetzt, wo wir den
gedungenen Söldner Englands, Judenitsch, mit Erbitterung bekämpfen, fordere ich
Euch auf, niemals zu vergessen, daß es nicht nur ein England gibt. Neben dem
England des Profits und der Korruption gibt es ein England der Arbeit, das voll
geistiger Kraft und dem Ideal der internationalen Solidarität ergeben ist. Wir
haben das England der Börsenjobber gegen uns. Das werktätige England, das Volk,
ist mit uns.« Mit den Aufgaben, die der Krieg stellte, verbanden wir eng die
hehre Aufgabe der sozialistischen Erziehung.
Heute fällt es schwer, sich den Sturm von
Begeisterung vor Augen zu führen, ja, sich seiner überhaupt zu entsinnen, der
anläßlich des Sieges bei Petrograd losbrach. Sinowjew ließ mir folgendes
Dokument zukommen:
Das rote Petrograd schützen; hieß, dem Weltproletariat und infolgedessen der Kommunistischen Internationale einen unschätzbaren Dienst leisten. Der erste Platz in der Verteidigung Petrograds kommt selbstverständlich Ihnen zu, teurer Genosse Trotzky. Im Namen des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale lasse ich Ihnen Fahnen überbringen, die ich Sie bitte, den verdienstreichsten Elementen der von Ihnen geführten glorreichen Roten Armee zu übergeben.Sinowjew.
Ähnliche Dokumente erhielt ich vom Petrograder
Sowjet, von den Gewerkschaften und anderen Organisationen. Ich übergab die
Fahnen den verschiedenen Regimentern, meine Sekretäre klassierten die Dokumente
in den Archiven. Die offizielle stalinistische Geschichtsschreibung lehrt
jedoch heute, daß Petrograd von Stalin gerettet worden ist.
In den ersten Monaten des Jahres 1919 führte die
Rote Armee einen entscheidenden Schlag gegen die Konterrevolution im Süden, wo deren Hauptstütze die Armee der Donkosaken unter dem
Befehl des Generals Krasnow war. Hinter Krasnow aber zog Denikin im Kubangebiet
und im nördlichen Kaukasus seine Armee zusammen. Mitte Mai ging unsere Armee
weiter vor; sie war jedoch von den Anstrengungen des Feldzuges sehr mitgenommen
und begann zurückzuweichen, als sie auf frische Truppen Denikins stieß.
Schließlich verloren wir alles wieder, was wir gewonnen hatten, so vor allem
die erst kürzlich von uns befreite Ukraine. An der Ostfront hingegen, die der
ehemalige Oberst Kamenew mit Smilga und Laschewitsch als Mitgliedern des
Kriegskomitees befehligte, hatte sich die Lage so weit gebessert, daß ich es
für unnötig hielt, mich dorthin zu begeben. Vom Erfolg berauscht, nahmen
Smilga, Laschewitsch und Gussew ihren Kommandeur auf die Schultern und sandten
begeisterte Berichte über ihn nach Moskau. Als der Oberkommandierende Watsetis,
prinzipiell mit meinem Einverständnis, vorschlug, die östliche Frontlinie den
Winter über am Ural zu halten, um die Überführung mehrerer Divisionen an die
Südfront möglich zu machen, an der die Lage bedrohlich wurde, setzte Kamenew,
von Smilga und Laschewitsch unterstützt, dem einen lebhaften Widerstand
entgegen.
Stalin bemächtigte sich dieses Konflikts zwischen
der Ostfront und jenem Oberkomman-dierenden, der es offen verurteilt hatte, daß
sich Stalin in strategische Fragen einmische. Stalin stand Watsetis feindselig
gegenüber und wartete nur auf eine Gelegenheit, sich an ihm zu rächen. Jetzt
war die Gelegenheit gekommen, Laschewitsch und Gussew schlugen, natürlich im
Einverständnis mit Stalin, vor, Kamenew zum Oberkommandierenden zu ernennen.
Die Erfolge, die die Ostfront davongetragen hatte, machten es möglich, Lenin
für diese Ansicht zu gewinnen, und brachen meinen Widerstand. Kamenew wurde am
3. Juli 1919 zum Oberkommandierenden ernannt, und das Revolutionäre
Kriegskomitee wurde vom Zentralkomitee folgendermaßen umgebildet: Trotzky,
Skljansky, Gussew, Smilga, Rykow; Oberkommandierender S. Kamenew.
Die erste Aufgabe des neuen Oberkommandierenden
war, einen Plan auszuarbeiten, der die Streitkräfte an der Südfront
zusammenzufassen erlaubte. Kamenew zeichnete sich durch Optimismus und lebhafte
strategische Einbildungskraft aus. Doch blieb seine Sicht immer ziemlich
beschränkt. Die Bedeutung per sozialen Faktoren an der Südfront – der Arbeiter,
der ukrainischen Bauern, der Kosaken – sah er nicht
genügend klar. Er betrachtete die Südfront mit den Augen des Kommandeurs der
Ostfront. Seiner Auffassung nach war es das richtigste, die aus dem Osten
abkommandierten Divisionen längs der Wolga aufzustellen und den Angriff gegen
den Kuban vorzutragen, wo sich Denikins Hauptquartier befand.
In strategischen Fragen hatte ich immer dem
Oberkommandierenden das letzte Wort überlassen. Meine Vertrautheit mit der
Südfront gab mir jedoch unmittelbar die Überzeugung ein, daß dieser Plan
grundfalsch sei. Es war Denikin gelungen, seine Basis vom Kuban nach der
Ukraine zu verlegen. Jetzt gegen die Kosaken vorgehen, hieß unbedingt, sie
Denikin in die Arme treiben. Es war mir klar, daß der Hauptangriff der Linie
entlang ausgelöst werden mußte, die Denikin von den Kosaken trennte – in einem
Gebiet, in dem die ganze Bevölkerung gegen die Kosaken, gegen Denikin und für
uns war. Mein Widerstand gegen den Plan Kamenews wurde aber als eine
Fortführung des Konfliktes zwischen dem Kriegskomitee und der Ostfront
ausgelegt. Smilga und Gussew, immer in Zusammenarbeit mit Stalin, behaupteten,
daß ich gegen den Plan wäre, weil ich in den neuen Oberkommandierenden in bezug
auf die allgemeinen strategischen Grundsätze kein Vertrauen setzte. Lenin
teilte offenbar diese Befürchtung. Diese Auffassungen waren aber vollkommen falsch.
Ich überschätzte Watsetis nicht. Ich hatte Kamenew durchaus freundschaftlich
aufgenommen und bemühte mich, ihm seine Aufgabe in jeder Beziehung zu
erleichtern. Doch lag der Irrtum seines Plans so klar zutage, daß ich mich
entschloß, meine Demission einzureichen, als der Plan vom Politbüro bestätigt
wurde, wo alle, mit Einschluß von Stalin, gegen mich gestimmt hatten. Am 5.
Juli antwortete mir das Zentralkomitee mit folgendem Entscheid:
Das Organisationsbüro und das Politische Büro des Zentralkomitees haben die Erklärung des Genossen Trotzky in allen ihren Aspekten geprüft und diskutiert und sind einstimmig zu der Schlußfolgerung gekommen, daß sie auf keinen Fall seiner Bitte nachkommen und seine Demission akzeptieren können. Das Organisationsbüro und das Politische Büro werden alles tun, was von ihnen abhängt, um dem Genossen Trotzky die Arbeit an der Südfront – die augenblicklich die schwierigste, die gefährlichste und die wichtigste ist und die der Genosse Trotzky selbst gewählt hat – zu erleichtern und sie für die Republik so fruchtbar wie möglich zu gestalten. Als Volkskommissar für den Krieg und Vorsitzender des Revolutionären Kriegskomitees ist der Genosse Trotzky vollauf ermächtigt, auch als Mitglied des Kriegskomitees der Südfront gemeinsam mit dem von ihm selbst ernannten Frontkommandeur, den das Zentralkomitee bestätigt hat, zu handeln. Das Organisations-büro und das Politische Büro lassen dem Genossen Trotzky völlige Freiheit, um mit allen Mitteln das zu erreichen, was er für eine Verbesserung an der Generallinie in der Militärfrage hält, und werden sich, wenn er es wünscht, bemühen, die Einberufung des Parteitages zu beschleunigen.Lenin, Kamenew, Krestinsky, Kalinin, Serebrjakow, Stalin, Stassowa.
Wie man sieht, trägt dieser Beschluß auch die
Unterschrift Stalins. Nachdem er hinter den Kulissen seine Intrige
weitergesponnen und Lenin des Mangels an Mut und Festigkeit geziehen hatte,
entschloß sich Stalin jedoch nicht dazu, im Zentralkomitee offene Opposition zu
machen.
Ich zog meine Demission zurück und begab mich
sofort an die Südfront.
Die Vorbereitung der Offensive an der Südfront
ging inmitten ernsthafter Schwierigkeiten vor sich. Gegen Ende der ersten
Augustwoche – das heißt, ungefähr eine Woche nach Auslösung der Offensive –
stand das Politbüro vor mehreren Problemen von höchster Bedeutung. Es war
völlig klar, daß Denikin seinen Angriff nicht in östliche Richtung, sondern
gegen die Ukraine lenken wollte, um die Verbindung mit Rumänien und Polen
herzustellen und seine Basis von Jekaterinodar nach Odessa und Sewastopol zu
verlegen. Außer den Maßnahmen, die das Oberkommando traf, um dieser Gefahr zu
begegnen, die für den Augenblick die ernsthafteste war, mußte sofort
entschieden werden, was im Hinblick auf die in der Ukraine unmittelbar
bevorstehende Schlacht unternommen werden sollte. Vor allem war es unerläßlich,
die Verbindung zwischen der Zwölften und der Vierzehnten Armee herzustellen,
die, da es an telegrafischen Leitungen fehlte, von der Südfront abgeschnitten
war. Nicht nur hatten sich ihre rückwärtigen Abteilungen schon miteinander
verschmolzen, sondern beide Armeen waren überhaupt mehr und mehr gezwungen,
gegen denselben Feind, nämlich Denikin, vorzugehen. Infolgedessen schlug ich
vor, die Vierzehnte Armee der Befehlsgewalt der Südfront zu entziehen, die
Kommandogewalt über die beiden Armeen in der Person des Kommandeurs der
Vierzehnten Armee, Jegorow, und seines Stabes zu vereinigen, diese neue
Frontgruppe als Südwestfront zu bezeichnen, deren Hauptquartier in Konotop sein
würde, und sie der Befehlsgewalt des Oberkommandierenden und des Generalstabs
zu unterstellen. Um an dieser Front ein Mindestmaß von Kampfkraft
aufrechtzuerhalten, war es vorerst notwendig, mit Hilfe von kommunistischen
Einheiten, die für eine Zeitlang aus ruhigeren Frontabschnitten herauszuziehen
waren, eine außergewöhnliche Anstrengung zu machen, die dem
Räuberunwesen und der Zerstörung der Eisenbahnlinien ein Ende setzen würde.
Alle zur Verfügung stehenden roten Offiziere wurden sofort mit Sonderzügen in
die Ukraine überführt. Alle zu anderen Armeen beorderten Parteiarbeiter wurden
gleicherweise mit aller Ausrüstung, die aufgetrieben werden konnte, dorthin
gesandt. Der Zwölften Armee fehlte es an Munition. Die Kriegskomitees beider
Armeen waren schwach. Im Einverständnis mit dem ukrainischen Verteidigungsrat und
den Kriegskomitees beider Armeen wurde Woroschilow dazu bestimmt, den Kampf
gegen die Rebellion im Rücken der Armeen zu leiten.
(Ähnliche Schwierigkeiten, obwohl von je nach dem
Gebiet verschiedener Natur, tauchten überall und in jedem Augenblick auf. Lenin
war sehr besorgt. Noch zu Beginn der Offensive schrieb er an Skljansky:)
Ich bin krank. Muß das Bett hüten. Antworten Sie also durch Boten. Der Zeitraum für die Offensive in Richtung Woronesch (vom 1. bis zum 10. August!) ist ungeheuerlich. Denikins Erfolg ist alarmierend.Was geht vor? Sokolnikow sagt, daß unsere Kräfte dort unten viermal stärker waren als die des Feindes.Was ist also los? Wie konnten wir derart die Gelegenheit verpassen?Sagen Sie dem Oberkommandierenden, daß die Sache so nicht weitergehen kann. Er muß ihr seine ganze Aufmerksamkeit widmen.Lenin, Vorsitzender des Verteidigungsrates.
(Die Offensive an der Südfront begann nach den
Plänen S. Kamenews Mitte August. Sechs Wochen später, Ende September) schrieb
ich an das Politbüro, das meinen Plan zurückgewiesen hatte: »Die längs der
Linie des größten Widerstandes eingeleitete Offensive hat sich wie vorausgesehen
als ausschließlich zugunsten Denikins verlaufend herausgestellt ... Jetzt ist
unsere Lage schlimmer, als sie es war, als der Generalstab seinen a priori
gefaßten Plan auszuführen begann. Es wäre kindisch, das nicht sehen zu wollen.«
Zu diesem Zeitpunkt war der fatale Irrtum des Plans vielen seiner ehemaligen
Verteidiger klar geworden, so auch Laschewitsch, der von der Ostfront an die
Südfront überstellt worden war. Drei Wochen früher, am 6. September, hatte ich
von der Front aus dem Oberkommandierenden und dem Zentralkomitee telegrafiert,
daß sich »der kritische Schlachtenpunkt an der Südfront in die Richtung
Kursk-Woronesch verlagert hat, wo keine Reserven vorhanden sind.« Ich hatte
gleicherweise die Aufmerksamkeit auf folgende Probleme gelenkt:
»Die Bestrebungen, Mamontow zu liquidieren, haben bisher kein praktisches Resultat gezeitigt. Die motorisierten Maschinengewehrabteilungen sind nicht aufgestellt worden, weil keine Maschinengewehre und nicht die kleinste Anzahl von Automobilen eingetroffen sind. Mamontow sucht offensichtlich seine Truppen an der Kursker Front aufzustellen. Unsere schwachen und zerstreuten Infanterie-Einheiten stören ihn kaum. Laschewitschs Kommandeur ist durch das Fehlen von Verbindungen paralysiert. Die Gefahr eines Durchbruchs im Abschnitt Kursk-Woronesch wird sichtbar. Laschewitschs nächste Aufgabe wäre, den Feind zu verfolgen, um zu versuchen, die Lücke zu stopfen.«
Darüber hinaus schlug ich vor, daß die Armeen
einige Umstellungen vornehmen sollten, die auf ein Fallenlassen des
fehlgeschlagenen Plans hinausliefen. Serebrjakow und Laschewitsch
unterzeichneten mit mir das Telegramm. Doch der neue Oberkommandierende hielt
ebenso hartnäckig an seinem Irrtum fest wie sein Vorgänger, und das Politbüro
gewährte ihm weiterhin entschiedene Unterstützung. Am selben Tage, dem 6.
September, empfing ich in Orel folgende Antwort: »Das Politische Büro des
Zentralkomitees, das das Telegramm von Trotzky, Serebrjakow und Laschewitsch
geprüft hat, hat die Antwort des Oberkommandierenden bestätigt und drückt seine
Verwunderung darüber aus, daß versucht wird, den angenommenen strategischen
Plan wieder in Frage zu stellen. – Lenin.«
Der Verlauf der Kriegshandlungen während der
beiden verflossenen Monate hatte den ursprünglichen Plan veralten lassen;
außerdem waren in diesen zwei Monaten andauernder fruchtloser Schlachten viele
Straßen vollständig zerstört worden, und die Zusammenfassung der Reserven war
unvergleichlich schwieriger als im Juni oder Juli. Eine Umgruppierung der
Kräfte war also um so notwendiger. Ich regte an, das berittene Korps Budjennys
im Eiltempo nach Nordosten zu senden und mehrere andere Einheiten in diese Richtung
zu überführen. (Aber das Politbüro, selbstverständlich mit Einschluß Stalins,
fuhr damals fort, diese und andere Vorschläge zurückzuweisen, und bestätigte
systematisch) die Anweisungen des Oberkommandierenden, (der weiterhin
wiederholte, daß) »der grundlegende Plan eines Vormarsches nach Süden
unverändert bestehen bleibt; mit anderen Worten, der Hauptangriff muß von der
Sondergruppe Schorin ausgelöst werden, deren Aufgabe darin besteht, den Feind
im Don- und im Kubangebiet zu vernichten«. Indes hatte sich die Offensive völlig festgefahren. Die Situation im Kubangebiet,
wohin die besten Truppen geschickt worden waren, wurde äußerst ernst, während
Denikin nach Norden vorstieß.
»Um den Operationsplan einzuschätzen«, schrieb ich Ende September, »ist es nicht ohne Nutzen, die Resultate zu betrachten. Die Südfront hat mehr Kräfte erhalten als jemals irgendeine andere Front; zu Beginn der Offensive verfügte sie über nicht weniger als hundertachtzigtausend Bajonette und Säbel und eine entsprechende Anzahl von Kanonen und Maschinengewehren. Nach anderthalb Monaten Kampf stecken wir in der Osthälfte beunruhigend fest und sehen in der Westhälfte einen schwierigen Rückzug, den Verlust von Einheiten, die Zerstörung der Organisation ... Der Grund für die Niederlage ist ausschließlich im Operationsplan zu suchen. Einheiten von mittlerem Wert sind in Ortschaften geleitet worden, die ausschließlich von Kosaken bewohnt sind, die uns nicht bedrohten, die aber ihre Dörfer und Heimstätten verteidigten. Die Atmosphäre eines nationalen Krieges des Dongebiets übte einen demoralisierenden Einfluß auf unsere Einheiten aus. Unter diesen Umständen erhielt der geschickt manövrierende Denikin durch seine Tanks ein enormes Übergewicht.«
Bald war nicht länger die Rede vom Plan, sondern
von seinen vernichtenden materiellen und psychologischen Folgen. Der
Oberkommandierende, der hier der Maxime Napoleons folgte, hatte anscheinend
gehofft, daß er, indem er auf seinem Irrtum beharrte, aus diesem doch noch alle
irgendmöglichen Vorteile herausholen und schließlich den Sieg davontragen
könnte. Das Politbüro, obschon es das Vertrauen verlor, hielt dennoch an der
eigenen Entscheidung fest. Am 21. September gaben unsere Truppen Kursk auf. Am
13. Oktober nahm Denikin Orel ein, das ihm die Straße nach Tula öffnete, wo die
bedeutendsten Fabriken konzentriert waren und jenseits dessen Moskau lag. Ich
stellte das Politbüro vor die Alternative: entweder die Strategie ändern oder
Tula räumen, die dortige Kriegsindustrie zerstören und den Widerstand gegen die
direkte Bedrohung Moskaus organisieren. Nunmehr gab der Oberkommandierende, der
schon selbst seinen Plan teilweise hatte fallen lassen, seinen Starrsinn auf,
und das Politbüro unterstützte ihn nicht länger. Mitte Oktober war die
Umgruppierung unserer Kräfte im Hinblick auf die Offensive vollzogen. Eine
Heeresgruppe wurde im Nordosten von Orel für die Aktion gegen die Bahnstrecke Kursk-Orel zusammengezogen. Eine andere Gruppe, an deren
Spitze das Reiterkorps Budjennys stand, wurde im Osten von Woronesch
aufgestellt. Das entsprach durchaus dem Plan, für den ich vergeblich
eingetreten war. (Die neuesten Darstellungen dieser Periode durch die
stalinistische Geschichtsschreibung sind lehrreich. In einer heißt es:)
Im September und Anfang Oktober hatte Denikin
beträchtliche Erfolge an der Südfront. Am 13. Oktober nahm er Orel ein. Um die
äußerst schwierige und bedrohliche Lage zu verbessern, die sich aus den
weittragenden Niederlagen an der Südfront ergeben hatte, sandte das
Zentralkomitee der Partei den Genossen Stalin zum Kriegskomitee dieser Front.
Der Genosse Stalin arbeitete einen neuen strategischen Plan für den Kampf gegen
Denikin aus, der von Lenin und dem Zentralkomitee der Partei gutgeheißen wurde.
Die Durchführung dieses Plans bewirkte die vollständige Niederlage und den
Zusammenbruch Denikins.
(Stalins eigene Version über den Schöpfer jenes
Plans, der uns den Sieg gebracht hat und den Verantwortlichen für den Plan, der
uns so teuer zu stehen gekommen ist, ist je nach der Epoche verschieden. 1923
schilderte Stalin die Ereignisse an der Südfront, angeblich um einige
politische Grundsätze klarzustellen, in Wirklichkeit, um seine eigenen
politischen Ziele zu fördern:)
Eine Analogie zwischen diesen Grundsätzen der
politischen Strategie und den Grundsätzen der militärischen Strategie kann
leicht gebildet werden; nehmen wir zum Beispiel ... den Kampf gegen Denikin.
Jeder erinnert sich an das Ende des Jahres 1919, als sich Denikin Tula näherte.
Zu dieser Zeit fanden unter den Militärs interessante Diskussionen über die
Frage statt, von wo aus der entscheidende Schlag gegen die Armeen Denikins
geführt werden sollte. Gewisse militärische Führer ... schlugen die Linie Zaritzyn-Noworossijsk
vor, andere ... die Linie Woronesch-Rostow. Der erste Vorschlag war nicht
günstig, weil er beinhaltete, daß unser Vormarsch mitten durch der
Sowjetregierung feindliche Gebiete führte, was schwere Opfer kosten mußte; er
war auch deshalb gefährlich, weil er den Armeen Denikins über Tula und
Serpuchow den Weg nach Moskau eröffnete. Der zweite Plan ... war der einzig
richtige, weil er den Marsch unserer Hauptgruppen durch Gebiete vorsah, die mit
der Regierung sympathisierten und infolgedessen keine außergewöhnlichen Opfer
verlangte; außerdem desorganisierte er die Tätigkeit der Hauptgruppen Denikins,
die auf Moskau marschierten. Die meisten militärischen Führer sprachen sich für
den zweiten Plan aus. So wurde das Schicksal Denikins besiegelt.
Es mochte scheinen, als bediene sich Stalin
dieser Darstellung nur als einer zufälligen Illustration für gewisse
Konzeptionen auf dem Gebiete der politischen Taktik. In Wirklichkeit war diese
Illustration durchaus nicht zufällig gewählt. Wir befanden uns im Jahre 1923;
Stalin sah einen heftigen Angriff von Lenin her kommen; deswegen versuchte er
systematisch, Lenins Autorität zu untergraben. In den leitenden Kreisen der
Partei wußte man sehr wohl, daß hinter dem irrtümlichen und
kostspieligen Plan nicht nur »gewisse militärische Führer« gestanden hatten,
sondern die Mehrheit des Politbüros mit Lenin an der Spitze. Er zog es jedoch
vor, von einer Meinungsverschiedenheit unter den »Militärs« zu reden, ohne den
Kampf im Innern des Politbüros zu erwähnen. Er wußte, daß sich die leitenden
Parteiarbeiter sehr gut daran erinnerten, daß der zweite Plan der meinige
gewesen war, für den ich seit Juli eingetreten war und für den er erst Ende
Oktober oder Anfang November eintrat, nachdem der Oberkommandierende selbst auf
sein eigenes Projekt praktisch vollständig verzichtet hatte. Am 19. November
1924 aber, zehn Monate nach dem Tode Lenins, ging Stalin sehr viel weiter. Er
machte damals den ersten Versuch, die Kämpfe an der Südfront in einer gegen
mich gerichteten, absichtlich verlogenen Weise darzustellen:
Es war im Herbste 1919. Die Offensive gegen
Denikin war gescheitert .. . Denikin nahm Kursk ein. Denikin ging gegen Orel
vor. Der Genosse Trotzky wurde von der Südfront geholt, um an einer Sitzung des
Zentralkomitees teilzunehmen. Das Zentralkomitee hielt die Lage für bedrohlich
und beschloß, neue militärische Kräfte an die Südfront zu bringen und den
Genossen Trotzky abzuberufen. Die neuen Kräfte verlangen die ›Nichteinmischung‹
des Genossen Trotzky in die Angelegenheiten der Südfront. Der Genosse Trotzky ist
nicht mehr direkt an den Angelegenheiten der Südfront beteiligt. Die
Operationen an dieser Front werden fortgesetzt, bis zur Einnahme von Rostow am
Don und von Odessa, die ohne den Genossen Trotzky stattfindet. Man versuche
doch, diese Tatsachen zu leugnen!
Es ist richtig, daß ich die Südfront am 10.
Oktober verlassen hatte, um nach Petrograd zu gehen. Unser Gegenangriff an der
Südfront sollte mit diesem Datum beginnen. Alles war vorbereitet; die
Zusammenfassung unserer Einheiten für den Angriff war fast vollständig
durchgeführt, und meine Gegenwart war weit mehr nötig in Petrograd, das in
diesem Augenblick in der großen Gefahr stand, von Judenitsch eingenommen zu
werden. Wenn ich auf die drei Jahre Bürgerkrieg zurückschaue und mir meine
Aufzeichnungen und meine Korrespondenz über meine Reisen an die verschiedenen
Fronten ansehe, muß ich feststellen, daß ich fast nie Gelegenheit hatte, eine
siegreiche Armee zu begleiten, an einem Angriff teilzunehmen, die Siege einer
Armee mit ihr zu teilen. Meine Reisen waren sicherlich alles andere als
Spazierfahrten. Ich ging nur in die bedrohten Abschnitte, in denen der Feind
unsere Front eingedrückt hatte. Meine Aufgabe war, die Regimenter aufzuhalten,
die flohen, und sie an die Front zum Angriff zurückzuführen. Ich zog mich mit
unseren Truppen zurück, ging aber niemals mit ihnen vor.
Sobald die zurückflutenden Divisionen wieder Vertrauen gewonnen und der
Kommandeur das Signal zum Vormarsch gegeben hatte, sagte ich der Armee Lebewohl
und ging an einen anderen in Schwierigkeiten geratenen Abschnitt oder kehrte
für einige Tage nach Moskau zurück, um die Probleme zu behandeln, die sich
inzwischen angehäuft hatten. So hatte ich während der drei Jahre nicht ein
einziges Mal Gelegenheit, nach dem Siege die glückstrahlenden Gesichter der
Soldaten zu sehen oder mit ihnen in eroberte Städte einzumarschieren. Während
der ganzen Periode unserer siegreichen Offensive besuchte ich die Südfront
nicht ein einziges Mal. Stalins Fälschung besteht darin, daß er einer
unleugbaren Tatsache eine völlig falsche Bedeutung unterlegt.
(Hier wird aber noch nicht suggeriert, daß
Trotzky der Urheber des Plans ist, dem das Mißlingen der
Juli-September-Offensive gegen Denikin geschuldet ist.) Noch läuft alles nur
auf eine nicht näher spezifizierte Anspielung auf neue militärische Ratgeber hinaus,
die (von wem?) die »Nichteinmischung« Trotzkys gefordert hätten. In
Wirklichkeit waren die 13 Dekrete, die das Zentralkomitee am 15. Oktober
erließ, von mir schriftlich vorgeschlagen und von allen Mitgliedern einstimmig
angenommen worden, das heißt, auch von Stalin, Lenin, Kamenew und Krestinsky;
diese Dekrete betrafen die Kommission, die, in Übereinstimmung mit meinen
Vorschlägen, beauftragt war, neue Parteiarbeiter an die Südfront zu beordern,
um die alten abzulösen, die durch die ständigen Niederlagen ermüdet und
entmutigt wären. Stalin gehörte nicht zu denen, die an die Front gesandt
wurden. Wer von ihnen meine »Nichteinmischung« verlangt hätte und von wem, das
sagt Stalin nicht. (Woroschilow erklärte 1929:)
Stalin formulierte vor dem Zentralkomitee drei
Hauptbedingungen: 1. Trotzky darf sich in die Angelegenheiten der Südfront
nicht einmischen und darf die Demarkationslinie nicht überschreiten; 2. eine
ganze Reihe von Parteiarbeitern, die Stalin für unfähig hält, die Kampfkraft
der Truppen wiederherzustellen, müssen sofort von der Südfront abberufen
werden; und 3. an diese Front werden sofort neue, von Stalin ausgesuchte
Parteiarbeiter geschickt, die imstande sind, diese Aufgabe zu erfüllen. Diese
Bedingungen wurden vollständig angenommen.
Wo? Wie? Wann? Von wem? Weder Stalin noch sein
Satellit antworten auf diese Fragen. Indem er jedoch die Revision des falschen
Plans auf Stalins Habenseite buchte, wagte Woroschilow 1929 noch nicht zu
behaupten, daß der falsche Plan mein Plan gewesen wäre.
Indem er über diesen Punkt nichts sagte, gab er stillschweigend zu, daß ich ein
Gegner dieses Plans gewesen war. In der neuesten Geschichtsschreibung aber wird
diese Lücke ausgefüllt. (Jetzt wird kraft der Autorität Sinaida Ordschonikidses
verkündet:)
Stalin ... wies kategorisch den alten Plan zur
Vernichtung Denikins zurück, den das von Trotzky geleitete Hauptquartier
aufgestellt hatte ... »Dieses unsinnige Projekt eines Marsches durch eine
feindliche Gegend ohne Straßen, droht uns den vollständigen Untergang zu
bringen«, schrieb er in einer Note an Lenin ... Das Leben selbst hatte diesen
Plan verworfen, und darum stellte Stalin einen Plan für den Vormarsch der Roten
durch das proletarische Charkow und das Donezbecken nach Rostow auf ... Die
Strategie des großen Stalin sicherte der Revolution den Sieg.
Stalin wiederholte (in seiner »Note«) nur Wort
für Wort die Argumente gegen den Juli-September-Plan, die ich seinerzeit sowohl
schriftlich wie mündlich auseinandergelegt hatte und die von der Mehrheit des
Politbüros zurückgewiesen worden waren. Da alle Mitglieder des Politbüros über
diese Dinge auf dem laufenden waren, konnte es Stalin damals nicht in den Sinn
kommen, mir die Verantwortung für den alten Plan zuzuschieben. Im Gegenteil, er
tadelte den Oberkommandierenden und den diesem attachierten »jungen Kampfstrategen«
Gussew, auf den er im Juli beim Kommandowechsel gesetzt hatte.
(Am 4. Dezember 1919 berichtete Iwan Smirnow von
der Ostfront, daß) »Koltschak seine Armee verloren hat ... Es wird keine Kämpfe
mehr geben ... Das Tempo der Verfolgung ist dermaßen schnell, daß Barnaul und
Nowonikolajewsk am 20. Dezember in unseren Händen sein werden«.
(Judenitsch war
im Nordosten vollständig geschlagen worden. Denikin floh nach Süden. Seine
Versuche, die Bauernschaft durch zweifelhafte »Agrarreformen« zu gewinnen,
waren fehlgeschlagen, die Großgrundbesitzer konnten ihn infolge der Niederlage,
die ihm die Rote Armee beigebracht hatte, nicht mehr unterstützen – Denikin
verlor das Vertrauen der Weißen. Am 26. März 1920 gab er seinen
Oberkommandierendenposten zugunsten Wrangels auf, dem es gelungen war, die
zersprengten weißgardistischen Gruppen in der Krim wieder zusammen-zufassen.)
(Die Weißen gingen immer wieder gegen die roten
Kavallerie- und Infanterie-Einheiten an der Kaukasusfront vor, wo unsere Reihen
nicht nur durch die Kampfverluste, sondern auch durch eine Typhusepidemie
dezimiert worden waren. Erhoffte Verstärkungen und Verpflegung trafen wegen des
jämmerlichen Zustands der Eisenbahnen nicht ein. Energische
Maßnahmen waren notwendig. Lenin und Trotzky sandten Stalin, der damals im
Kriegskomitee der Südwestfront war, folgendes Telegramm:)
Das Zentralkomitee hält es für notwendig, daß Sie sich sofort an den westlichen Flügel der Kaukasusfront begeben. Treffen Sie alle notwendigen Maßnahmen für die Überführung von beträchtlichen Verstärkungen und von Arbeitern von der Südwestfront.3. Februar 1920.Lenin, Trotzky.
(Wir haben den Text der Antwort Stalins nicht zur
Hand. Offensichtlich machte er Einwendungen, die ihm folgende Erwiderung
eintrug:)
Das Zentralkomitee besteht nicht auf Ihrer Reise, unter der Bedingung, daß Sie in den kommenden Wochen Ihre ganze Aufmerksamkeit und Ihre ganze Energie auf die den Bedürfnissen der Südwestfront vorangehende Hilfe richten, die der Kaukasusfront zukommen muß.4. Februar 1920.Lenin, Trotzky.
(Ein weiteres Telegramm Lenins vom 20. Februar:)
Die Situation im Kaukasus wird ständig ernster. Nach den Nachrichten von gestern zu urteilen, ist die Möglichkeit eines Verlustes von Rostow und Nowotscherkassk nicht ausgeschlossen, ebenfalls nicht ein Versuch des Feindes, seinen Erfolg nach Norden hin auszuwerten und das Dongebiet zu bedrohen. Ergreifen Sie die notwendigen Maßnahmen für die Überführung der 42. Division und der lettischen Division und für die Verstärkung ihrer Kampfkraft. Im Hinblick auf die allgemeine Lage rechne ich darauf, daß Sie Ihre ganze Energie aufwenden und eindrucksvolle Resultate erzielen. Lenin.
Stalins Antwort:
Lenin, Kreml, Moskau.Abschrift für das Zentralkomitee der Partei.Es ist mir nicht klar, warum gerade mir die Dinge übertragen werden, die die Kaukasusfront betreffen. Normalerweise liegt die Verantwortung für die Verstärkung der Kaukasusfront gänzlich beim Revolutionären Kriegskomitee, dessen Mitglieder sich meinen Informationen nach bei ausgezeichneter Gesundheit befinden, und nicht bei Stalin, der übrigens mit Arbeit überlastet ist.20. Februar 1920.Stalin.
(Lenins Antwort:)
Die Aufgabe, Verstärkungen von der Südwestfront nach der Kaukasusfront zu expedieren, ist Ihnen übertragen worden. Im allgemeinen sollte man versuchen, in jeder möglichen Art zu helfen, und nicht über Zuständigkeitsfragen Haarspalterei treiben.20. Februar 1920.Lenin.
(Die polnische Republik war der Sowjetregierung
von Anfang an feindlich gesinnt. Nachdem sie sich 1919 – trotz Völkerbund –
Wilnas bemächtigt hatten, fielen die Polen im Herbst in Weißrußland ein,
besetzten Minsk und große Teile Wolhyniens und Podoliens. Angesichts der
Erfolge Denikins blieben sie untätig, da sie von den Siegen der weißen Armeen
unangenehme Folgen für ihre territorialen Absichten
befürchteten. Sobald aber die Rote Armee ihre entscheidenden Schläge gegen
Denikin zu führen begann, nahm die polnische Armee ihren Vormarsch wieder auf.
Auf die Truppen der lettischen Republik gestützt, besetzte die polnische Armee
im Januar 1920 Dwinsk, zwang die Rote Armee zur Aufgabe von Lettgallen, nahm im
März Motzir ein und begann im April unter dem persönlichen Kommando Pilsudskis
gemeinsam mit den Streitkräften der vormaligen Petljura-Regierung, eine starke
Offensive gegen die Ukraine. Der Krieg war der Roten Armee aufgezwungen worden;
die Sowjetregierung wollte nun nicht nur den Angriff zurückschlagen, sondern
die Revolution nach Polen vorantragen.)
Am 30. April schrieb ich wegen dieser polnischen
Offensive an das Zentralkomitee der Partei: »Gerade weil es sich um einen
entscheidenden Kampf handelt, wird er äußerst erbittert sein.« Daher die
Notwendigkeit, »den Krieg mit Polen nicht nur als eine Aufgabe der Westfront zu
betrachten, sondern als die Hauptaufgabe für das ganze Arbeiter- und
Bauernrußland«. Am 2. Mai erließ ich durch die Zeitungen eine allgemeine
Warnung vor übertrieben optimistischen Hoffnungen auf eine Revolution in Polen:
»Daß der Krieg mit einer Arbeiterrevolution in Polen enden wird, daran ist
nicht zu zweifeln, andererseits aber ist kein Grund zu der Annahme vorhanden,
daß der Krieg mit einer solchen Revolution beginnen wird ... Es wäre
äußerst leichtsinnig, zu glauben ... daß uns der Sieg einfach in den Schoß
fallen wird.« Am 5. Mai sagte ich in meinem Bericht auf einer gemeinsamen
Sitzung aller Sowjetinstitutionen: »Es wäre ein schwerer Irrtum zu glauben, daß
die Geschichte, um uns unsere Aufgabe zu erleichtern, mit der polnischen Arbeiterrevolution
beginnen und uns von der Notwendigkeit befreien wird, einen bewaffneten Kampf
zu führen.« Und ich schloß: »Genossen, ich möchte vor allem, daß Ihr aus dieser
Versammlung mit der Überzeugung heimgeht, daß der Kampf, der vor uns steht, hart
und heftig sein wird.« Alle meine öffentlichen Erklärungen und militärischen
Instruktionen in dieser Zeit waren von dieser Idee durchdrungen. »Heute ist die
Westfront die wichtigste Front der Republik«, heißt es in einer von mir in
Smolensk am 9. Mai gezeichneten Proklamation. »Die Nachschuborganisation muß
nicht für einen leichten und kurzen Feldzug, sondern für einen langen und
erbitterten Kampf aufgebaut werden.« Ich war gegen den Marsch auf Warschau,
weil er infolge der Schwäche unserer Streitkräfte und
unserer Nachschubmöglichkeiten nur unter der Bedingung mit Erfolg durchgeführt
werden konnte, daß in Polen selbst unmittelbar eine Erhebung ausbrach, und
dessen waren wir absolut nicht sicher. Ich habe das Wesen dieses Konflikts in
meiner Selbstbiographie in allgemeinsten Wendungen dargestellt.
Der eigentliche Urheber des Feldzuges war Lenin.
Er wurde gegen mich von Sinowjew, Stalin und sogar dem vorsichtigen Kamenew
unterstützt. Rykow war eins der Mitglieder des Zentralkomitees, die meinen
Standpunkt teilten, aber er war noch nicht im Politbüro. Radek war ebenfalls
gegen das polnische Abenteuer. Alle Geheimdokumente aus dieser Zeit stehen den
gegenwärtigen Beherrschern des Kreml zur Verfügung, und wenn es in diesen
Dokumenten eine Zeile gäbe, die die Versionen, die heute fabriziert werden, bestätigen
würde, dann wären sie seit langer Zeit veröffentlicht worden. Eben daß diese
Versionen auf keinen Dokumenten fußen und daß sie sich untereinander radikal
widersprechen, zeigt, daß es sich auch hier wieder nur um thermidorianische
Mythologie handelt.
Einer der Gründe, weswegen die Katastrophe bei
Warschau so unerhörte Ausmaße annahm, war das Verhalten des Kommandostabes der
Westgruppe der Südarmeen, die gegen Lemberg vorging. Die politische Hauptfigur
dieser Gruppe war Stalin. Er wollte um jeden Preis in Lemberg zur selben Zeit
einmarschieren, wie Smilga und Tuchatschewsky in Warschau. Der schnelle
Vormarsch unserer Armeen an die Weichsel hatte die polnische Regierung
gezwungen, alle ihre Kräfte zusammenzureißen und mit Hilfe der französischen
Militärmission bedeutende Reserven aus den Gebieten Warschau und Lublin
heranzuführen. In diesem entscheidenden Augenblick wich die Kampflinie an der
Südwestfront im rechten Winkel von der Kampflinie an der Hauptfront, der
Westfront nämlich, ab: Stalin führte seinen eigenen Krieg. Als die Gefahr, die
Tuchatschewskys Armee bedrohte, offenbar wurde und der Oberkommandierende der
Südwestgruppe den Befehl erteilte, sich ohne Zögern auf Samostije-Tomaschew hin
zu bewegen, um die polnischen Truppen bei Warschau von der Seite her
anzugreifen, ging der Südwestkommandeur – von Stalin ermutigt – weiter gen
Westen vor: war es nicht wichtiger, sich selbst der Stadt Lemberg zu
bemächtigen, als »anderen« zu helfen, Warschau einzunehmen? Drei oder vier Tage
hindurch konnte unser Generalstab nicht erreichen, daß sein
Befehl ausgeführt wurde. Erst nach von Drohungen begleiteten wiederholten
Aufforderungen änderte der Südwestkommandeur die Marschrichtung seiner Truppen
– da hatte aber die Verzögerung von mehreren Tagen schon ihre fatale Wirkung
ausgelöst. Am 16. August unternahmen die Polen eine Gegenoffensive und zwangen
unsere Truppen zum Rückzug.
Auf einer – der geheimen Debatte über den
polnischen Krieg gewidmeten – Sitzung des Zehnten Parteitages versuchte Stalin,
seinen Kopf mit der verblüffenden, verlogenen und perfiden Erklärung aus der
Schlinge zu ziehen, daß Smilga, der ein führendes Mitglied des Kriegskomitees
der Westfront war, »das Zentralkomitee getäuscht« habe, indem er »versprach«,
an einem bestimmten Datum Warschau einzunehmen und daß er sein »Versprechen«
nicht gehalten habe. Die Operationen an der Südwestfront – das heißt, Stalins
eigene Maßnahmen – wären von Smilgas »Versprechen« diktiert gewesen, auf den
infolgedessen die Verantwortung für die Katastrophe zurückfalle. Der Parteitag
hörte den finsteren Redner mit dem gelblich schimmernden Blick in feindseligem
Schweigen an. Mit dieser Rede schadete Stalin niemand denn sich selbst. Nicht
eine Stimme wurde für ihn abgegeben. Ich erhob sofort Protest gegen diese
boshafte Unterstellung: Smilgas »Versprechen« hatte nie etwas anderes bedeutet
als die Hoffnung, Warschau einzunehmen, aber diese Hoffnung konnte nicht
das Element des Unvorhergesehenen eliminieren, das allen Kriegen innewohnt und
konnte in keinem Falle irgendjemand das Recht verleihen, auf Grund
aprioristischer Spekulationen vorzugehen, anstatt der wirklichen Entwicklung
der Kampfhandlungen Rechnung zu tragen. Lenin, von diesem Meinungsstreit sehr
unangenehm berührt, griff in die Diskussion ein: »Wir sollten niemand
persönlich tadeln«, sagte er. Warum veröffentlicht Stalin nicht das
stenographische Protokoll der Diskussion?
Im Jahre 1929 unternahm A. Jegorow, (Kommandeur
der Südwestfront während des polnischen Feldzuges, in einer »Lwow
[Lemberg]-Warschau« betitelten speziellen Abhandlung den ersten öffentlichen
Versuch, sein Verhalten zu rechtfertigen; er sieht sich darin gezwungen,
zuzugeben:)
... Gerade in dieser Hinsicht haben alle unsere Historiker die Kampagne an der Südwestfront kritisiert. Niemand, der diese Kampagne auf der Grundlage der vorhandenen Schriften untersucht hat, hat es für ein Geheimnis gehalten, daß die Erklärung für das Mißlingen der Operationen im Westen direkt mit den an der Südwestfront unternommenen Operationen verbunden ist. Die Anschuldigungen, die in diesem Sinne gegen den Frontkommandeur erhoben worden sind, laufen im wesentlichen hierauf hinaus: daß die Südwestfront völlig selbständig vorging, ohne die allgemeine Lage an der polnischen Gesamtfront oder die Unternehmungen der benachbarten Westfront in Betracht zu ziehen und daß sie mit der letzteren im entscheidenden Augenblick nicht in der Weise kooperierte, wie es notwendig gewesen wäre ... Das ist in großen Zügen die Version, die man in allen Werken, mit Einschluß der erst kürzlich erschienenen, findet, die mehr oder weniger der Frage der gemeinsamen Aktion an der Front von 1920 gewidmet sind ... Zum Beispiel befindet sich in der interessanten und gewissenhaften Arbeit von M. Mowschin ein direkter Hinweis auf die ›Nichtbeachtung der kategorischen Instruktionen des Oberkomman-dierenden, den Vormarsch der ersten berittenen Armee gegen Samostije-Tomaschew betreffend, durch die Südwestfront.‹ Auf der Basis dieser und ähnlicher Texte haben die Gradierten unserer Kriegsschule den polnischen Feldzug studiert und verbreiten solche Auffassungen in unserer Armee weiter. Kurzum, die Legende von der Versagerrolle der Südwestfront im Jahre 1920 erweckt anscheinend heute überhaupt keinen Zweifel und wird als eine Sache betrachtet, die die künftigen Generationen von Taktikern und Strategen studieren müssen.
Es ist keineswegs überraschend, daß Jegorow, der
als Oberkommandierender der Südwestfront für Stalins willkürliche Strategie
stark mitverantwortlich ist, versucht, das Gewicht seines Fehlers zu mindern,
indem er eine für ihn weniger ungünstige Interpretation der Kriegsereignisse
des Jahres 1920 liefert. Jedoch entsteht unwillkürlich ein Verdacht, weil
Jegorow den Versuch der Selbstverteidigung erst neun Jahre nach den Ereignissen
unternimmt, als es der »Legende von der Versagerrolle der Südwestfront« seinen
eigenen Worten nach schon gelungen ist, ihre definitive Bestätigung zu finden
und sogar in die Kriegsgeschichte einzugehen. Diese Verspätung erklärt sich aus
der Tatsache, daß die Armee und das Land, die unter den Folgen des Fehlschlags
im Polenkrieg sehr zu leiden hatten, über jede Verfälschung, besonders wenn sie
von den für die Niederlage Verantwortlichen ausging, entrüstet gewesen wären.
Er mußte sich still verhalten und abwarten.
Was mich selbst betrifft, so war ich von der
Sorge um das Prestige der Regierung und von dem Wunsch geleitet, keinen Streit
in die ohnehin schon reichlich demoralisierte Armee hinein-zutragen und
erinnerte mit keinem Wort an den heftigen Konflikt, der der Kampagne
vorausgegangen war. Jegorow mußte für seinen Vorstoß die Errichtung des
totalitären Regimes abwarten. Der vorsichtige Jegorow, von dem bekannt ist, daß
es ihm an Selbständigkeit mangelt, hat zweifellos auf direkten Befehl Stalins
hin geschrieben, obwohl Stalins Name in seinem Buche, so
unglaublich das scheinen mag, nicht ein einziges Mal erwähnt wird. Es sei daran
erinnert, daß das Jahr 1929 die erste Periode der systematischen Revision der
Vergangenheit eröffnet.
Wenn aber Jegorow auch indirekt versucht, Stalins
und seine eigene Schuld zu verkleinern, so versucht er doch nicht, andere zu
tadeln. Woroschilow tat es in dem von ihm gezeichneten und »Stalin und die Rote
Armee« überschriebenen apologetischen Artikel, der auch 1929 veröffentlicht
wurde, ebenfalls nicht. Er drückt sich unbestimmt aus: »Nur die Niederlage
unserer Truppen bei Warschau unterbrach den Vormarsch der Reiterarmee, die sich
anschickte, Lemberg anzugreifen und nur noch zehn Kilometer von der Stadt entfernt
war.« Doch konnte es bei dieser einfachen Selbstrechtfertigung nicht bleiben.
In solchen Dingen bleibt Stalin nicht auf halbem Wege stehen. Schließlich kam
die Zeit, in der die Verantwortung für die Niederlage denen aufgebürdet werden
konnte, die wegen des Marsches auf Lemberg eingegriffen hatten. (1935 schrieb
der rote Professor S. Rabinowitsch in seiner »Geschichte des Bürgerkriegs«:)
Die Erste Armee, die in den Kampf um Lemberg
eingriff, konnte der Westfront nicht direkt helfen, ohne Lemberg einzunehmen.
Trotzdem verlangte Trotzky kategorisch, daß sich die Erste Reiterarmee von
Lemberg zurückziehen und bei Lublin Aufstellung nehmen sollte, um die
polnischen Armeen, die gegen die Flanke unserer Truppen an der Westfront
vorgingen, vom Rücken her anzugreifen. ... Die Folge dieser völlig verkehrten
Direktive Trotzkys war, daß die Erste Reiterarmee darauf verzichten mußte,
Lemberg einzunehmen, ohne andererseits imstande zu sein, den Armeen an der
Westfront zu Hilfe zu kommen.
Es ist völlig unverständlich, wieso die Einnahme
von Lemberg, das 300 Kilometer vom Hauptkampfschauplatz entfernt lag,
ermöglichen konnte, »vom Rücken her« die polnischen Stoßtruppen anzugreifen,
die in der Zwischenzeit der Roten Armee schon bis hundert Kilometer östlich von
Warschau gefolgt waren. Um zu versuchen, den Polen »im Rücken« einen Schlag zu
versetzen, wäre vor allem nötig gewesen, sie zu verfolgen, und dazu mußte an
erster Stelle Lemberg aufgegeben werden. Wozu mußte Lemberg besetzt werden? Die
Einnahme dieser Stadt, obwohl sie nicht ohne militärische Bedeutung war, hätte
eine revolutionäre Bedeutung nur durch die Auslösung eines Aufstandes der
Galizier gegen die polnische Regierung gewinnen können. Aber das erforderte
Zeit. Der Rhythmus der militärischen stimmte mit dem der revolutionären
Aufgaben nicht überein. Von dem Augenblick an, wo die Gefahr eines
entscheidenden Gegenangriffs bei Warschau auftauchte, wurde es offenbar, daß die Weiterführung des Vormarsches auf Lemberg nicht nur
gegenstandslos, sondern geradezu verbrecherisch war. Aber da brach die
Rivalität zwischen den beiden Fronten aus. Wie bekannt, hat Stalin, nach
Woroschilows eigenen Erklärungen, niemals gezögert, dem Reglement und den
Befehlen zuwider zu handeln.
»Unsere Lage schien völlig hoffnungslos«, schrieb
Pilsudski. »Den einzigen hellen Streifen auf dem dunklen Horizont sah ich in
dem Fehlschlag, den Budjenny beim Angriff auf meine rückwärtige Flanke erlitten
hatte ... in der Schwäche, die die Zwölfte Armee zeigte«, das heißt die Armee,
die sich – unter dem Befehl des Kommissars Stalin – geweigert hatte, der Armee
Tuchatschewsky zu Hilfe zu kommen und sich von ihr entfernt hatte. (Jahre
später rief der »Rote Stern« – in der Absicht, Stalins Führung zu rechtfertigen
– empört aus:) »Der Verräter Trotzky deckte seine widerlichen defaitistischen
Manöver auf, indem er absichtlich und bewußt die Reiterarmee nach Norden
führte, angeblich, um der Westfront zu helfen.« Unglücklicherweise, könnte ich
hinzufügen, setzte er diese Umstellung erst durch, als es zu spät war. Wenn
Stalin und Woroschilow und der Analphabet Budjenny nicht in Galizien »ihren
eigenen Krieg« geführt hätten und wenn die Rote Kavallerie rechtzeitig in
Lublin gewesen wäre, hätte die Rote Armee nicht die Niederlage erlitten, die
uns zwang, den Frieden von Riga zu unterzeichnen, der, indem er uns von
Deutschland abschnitt, auf die Entwicklung in beiden Ländern einen
entscheidenden Einfluß ausübte. Nach den Hoffnungen, die der schnelle Vormarsch
auf Warschau geweckt hatte, bewirkte die Niederlage in der Partei eine
erdbebenartige Erschütterung und warf ihr Gleichgewicht über den Haufen.
(Der Parteihistoriker N. Popow schrieb am 23.
Februar 1930 in der »Prawda«, nachdem er zugegeben hatte, daß der Vormarsch auf
Warschau ein Fehler des Politbüros gewesen war:)
»Trotzky ... war gegen diesen
Vormarsch, in der Art eines kleinbürgerlichen Revolutionärs, der es als
unzulässig betrachtet, die Revolution von außen her nach Polen hineinzutragen.
Aus denselben Gründen war Trotzky im Februar 1921 dagegen, daß die Rote Armee
den Aufständischen in Georgien half. Die kautskystischen, antibolschewistischen
Ausführungen Trotzkys wurden im Juli 1920 im Falle Polen und im Februar 1921 im
Falle der menschewistischen Regierung von Georgien vom Zentralkomitee mit
Entrüstung zurückgewiesen.« Fünf Jahre später schrieb
Rabinowitsch in seiner »Geschichte des Bürgerkriegs« die Fehler Trotzkys im
Polenkrieg der grundlegenden Tatsache zu, daß »unsererseits der Krieg die
Revolution in Polen beschleunigen und stimulieren sollte, daß die Revolution
auf der Spitze der Bajonette der Roten Armee nach Europa hineingetragen werden
sollte... weil sonst der Sieg des Sozialismus in Rußland unmöglich sei. Deshalb
erklärte Trotzky, im Gegensatz zu den Argumenten Lenins und Stalins, daß die
polnische Front die Front des Lebens oder des Todes für die Sowjetrepublik
sei«. So wurde die Anklage nun also umgekehrt: noch 1930 war anerkannt worden,
daß ich gegen den Marsch auf Warschau war, und das Verbrechen, mit dem ich
belastet wurde, bestand darin, daß ich nicht geneigt war, den Sozialismus auf
der Spitze der Bajonette einzuführen. 1935 aber wurde proklamiert, daß ich für
den Marsch auf Warschau gewesen war, von meiner Absicht geleitet, Polen den
Sozialismus auf den Bajonetten zu bringen.
So löste Stalin Stufe um Stufe das Problem auf
seine eigene Weise. Er unterschob mir die Verantwortung für die Warschauer
Kampagne. Dabei war es eine Tatsache, daß ich gegen diese Kampagne opponiert
hatte. Die Verantwortung für die Niederlage der Roten Armee, die vom
Nichtvorhandensein einer Erhebung im Lande herrührte und durch seine eigene
selbständige Strategie vertieft wurde, schob er mir ebenfalls zu. Die Schuld
Stück um Stück auf den Widersacher zu schieben, ist die grundlegende Methode
Stalins im politischen Kampf; sie sollte ihre höchste Vollendung in den
»Moskauer Prozessen« erlangen. Nebenbei sei gesagt, daß Stalin zum Polenkrieg
einen konstruktiven Beitrag, der der Erwähnung wert wäre, nicht leistete. Die
Briefe und Telegramme aus der entsprechenden Zeit beweisen, mit wem ich
Gelegenheit hatte, wegen der Festlegung der Tagespolitik im Zusammenhang mit
dem polnischen Krieg zu korrespondieren: mit Lenin, Tschitscherin, Karachan,
Krestinsky, Kamenew, Radek. Von diesen sechs Leuten ist es nur Lenin gelungen,
rechtzeitig zu sterben. Tschitscherin starb, in Ungnade gefallen und
vollständig isoliert; Radek sitzt im Gefängnis; Karachan, Krestinsky und
Kamenew sind hingerichtet worden.
Das Ende des Polenfeldzuges erlaubte uns, unsere
Kräfte gegen Wrangel zu konzentrieren, der im Frühjahr auf der Halbinsel Krim
auftauchte, das Donbecken bedrohte und so die Kohlen-versorgung der Republik
gefährdete. In mehreren entscheidenden Kämpfen bei Nikopol
und Stachowka wurden Wrangels Truppen aus ihren Stellungen geworfen; die Rote
Armee marschierte weiter vor und zerschlug auf dem Höhepunkt der Kampagne die
Befestigungswerke von Perekop. Die Krim wurde wieder sowjetisch. (Jegorow schrieb
am 14. November 1935 anläßlich des fünfzehnten Jahrestags der Niederlage
Wrangels in der »Prawda«) – wie nicht anders zu erwarten:
Trotzky blieb bei seiner gefährlichen Auffassung, daß die Wrangelfront nichts weiter als ein isolierter Sektor von geringer Bedeutung sei. Der Genosse Stalin war gezwungen, sich aufs entschiedenste gegen diese äußerst gefährliche Ansicht zu wenden. Das Zentralkomitee, mit Lenin an der Spitze, unterstützte Stalin.
Der Hinweis möge genügen, daß S. Gussew, damals
einer der Agenten Stalins in der Roten Armee, es in einem 1925
veröffentlichten, »Wrangels Untergang« betitelten Artikel nicht für notwendig
hielt, Stalins Namen auch nur ein einziges Mal zu erwähnen.
Während der ganzen Dauer des Bürgerkriegs blieb
Stalin eine Figur dritter Ordnung, nicht nur in der Armee, sondern auch auf
politischem Gebiet. Er war Präsident auf den Kongressen des Kollegiums des
Nationalitäten-Kommissariats und der Kongresse einiger Völkerschaften. Er
führte die Verhandlungen mit Finnland, mit der Ukraine, mit den Baschkiren, das
heißt, er führte wesentliche, aber doch nur zweitrangige Missionen aus. Die
grundlegenden politischen Probleme, die auf den Kongressen der Partei, der Sowjets,
der Dritten Internationale diskutiert wurden, blieben ihm fremd. Auf der im
Dezember 1921 abgehaltenen Elften Konferenz der Russischen Kommunistischen
Partei schlug Jaroslawsky im Namen des Organisationsbüros folgende Namen für
das Büro vor: Lenin, Sinowjew, Trotzky, Kamenew, Petrowsky, Ordschonikidse,
Woro-schilow, Jaroslawsky, Sulimow, Komarow, Rudsutak, I. N. Smirnow und
Ruchimowitsch. Die Liste ist aufschlußreich ihrer Zusammenstellung und der
Reihenfolge der Namen wegen. Außer den vier ersten waren alle – lauter alte
Bolschewiki – leitende Parteiarbeiter aus den verschiedenen Regionen des
Landes. Kein Platz für Stalin in dieser Liste, obwohl der Kalender schon das
Ende des Jahres 1921 anzeigt! Der Bürgerkrieg gehörte schon der Vergangenheit
an. Er hatte Stalin nicht zum Führer gemacht.