Leo Trotzki: Stalin. Viertes Kapitel - Die Periode der Reaktion
Portraits
Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
Viertes Kapitel.
Die Periode der Reaktion
Das
Privatleben der Revolutionäre in der Illegalität war auf ein Minimum
zurückgeschraubt und verdrängt; dennoch hatten auch die Revolutionäre ein
Privatleben. Gleiche Ideen, gemeinsamer Kampf, gemeinsame Gefahren, die gleiche
Abgeschnittenheit von der übrigen Welt – das schuf ein starkes Band. Paare
fanden sich in der Illegalität, wurden durch das Gefängnis getrennt, suchten
einander wieder in der Verbannung. Vom Privatleben des jungen Stalin wissen wir
wenig; dies wenige ist für die Beurteilung des Menschen Stalin um so
wertvoller.
»Er
heiratete im Jahre 1903«, berichtet Iremaschwili, »seinen eigenen Auslassungen
nach war die Ehe glücklich. Gewiß, von der Gleichberechtigung der Geschlechter,
die er als die Grundform der Ehe im neuen Staat propagierte, war in seinem
eigenen Heim nichts zu spüren. Entsprach es doch seinem Charakter überhaupt
nicht, irgendeine andere Person als gleichberechtigt anzusehen. Die Ehe war
glücklich, weil seine Frau, deren Intelligenz an die seine nicht heranreichte,
ihn als eine Art Halbgott betrachtete, und weil sie als Georgierin in der
geheiligten Tradition aufgewachsen war, die das Weib zum Dienen verpflichtet.«
Iremaschwili selbst, obwohl er sich für einen Sozialdemokraten hält, bekennt
sich mit fast religiöser Ehrfurcht zu dieser Tradition, die aus der georgischen
Frau im Grunde eine Familiensklavin macht. Er verleiht der Frau Kobas dieselben
Züge, die er seinerzeit der Mutter Keke zugeschrieben hatte: »Diese echt georgische
Frau ... wachte mit dem ganzen Herzen über ihres Gatten Wohlergehen. Zahllose
Nächte verbringt sie inbrünstig betend, auf ihren Sosso wartend, der an
geheimen Zusammenkünften teilnimmt. Sie betete dafür, daß
er ablassen möge von den Ideen, die Gott mißfallen, und daß er sich bekehren
möge zum mühseligen, aber friedlichen und selbstgenügsamen Familienleben.«
Nicht ohne
Erstaunen vernehmen wir hier, daß Koba, der sich im Alter von dreizehn Jahren
von der Religion abgewandt hatte, eine naiv und fest gläubige Frau heiratete.
Das würde zu einem gut bürgerlichen Milieu passen, wo sich der Ehegatte als
einen Freigeist betrachtet oder sich mit dem freimaurerischen Ritual die Zeit
vertreibt, während die Frau Gemahlin nach dem letzten Ehebruch zum Priester beichten
geht. Für russische Revolutionäre aber hatten diese Dinge weitaus größere
Bedeutung. Das innerste Element ihrer revolutionären Weltanschauung war nicht
Freigeisterei, sondern kämpferischer Atheismus. Wo hätten sie persönliche
Toleranz einer Religion gegenüber hergenommen, die unauflöslich mit all dem
verbunden war, gegen das sie unter ständiger persönlicher Gefahr kämpften?
Unter den Arbeitern, die frühzeitig heirateten, fand man nicht wenig Fälle, in
denen der Mann nach der Heirat Revolutionär geworden war und die Frau
hartnäckig am alten Glauben festhielt. Doch führte das auch oft genug zu
dramatischen Konflikten. Der Mann wollte vor der Frau sein neues Leben
verborgen halten und entfernte sich mehr und mehr von ihr. In anderen Fällen
gelang es dem Mann, die Frau für die eigenen Auffassungen zu gewinnen, und er
brachte sie auf diese Weise mit ihren Eltern auseinander. Die jugendlichen
Arbeiter beklagten sich oft darüber, daß es schwer sei, junge Mädchen zu
finden, die sich vom alten Aberglauben losgelöst hatten. Unter der
studentischen Jugend war es leichter, eine Lebensgefährtin zu finden. Es gibt
kaum ein Beispiel dafür, daß ein revolutionärer Intellektueller eine
kirchengläubige Frau geheiratet hätte. Nicht, daß es in diesem Punkte
irgendeine Regel gegeben hätte. So etwas wäre einfach mit den Sitten, den
Ansichten und Gefühlen dieses Milieus unvereinbar gewesen. Koba stellt
zweifellos eine seltene Ausnahme dar.
Hier hat
sich aus der Gegensätzlichkeit der Ansichten heraus kein Drama entwickelt.
»Dieser innerlich so unruhige Mensch, der sich auf Schritt und Tritt von der
zaristischen Polizei beobachtet fühlte, konnte nur in seinem ärmlichen Heim
Liebe finden. Nur seine Frau, sein Kind und seine Mutter nahm er von der
Geringschätzung aus, die er allen andern gegenüber zur Schau trug.« Das
Familienidyll, das Iremaschwili zeichnet, könnte zu der
Schlußfolgerung verführen, daß Koba von lauer Toleranz gegen die gewesen wäre,
die ihm am nächsten standen. Das paßt aber wenig zur tyrannischen Natur dieses
Mannes; was als Toleranz erscheint, ist in Wirklichkeit moralische
Gleichgültigkeit gewesen. Koba suchte in seiner Frau nicht die Kameradin, die
fähig wäre, seine Ideen oder zumindest seinen Ehrgeiz mit ihm zu teilen; eine
ergebene und unterwürfige Ehegattin genügte ihm. Seinen Ansichten nach Marxist,
war er seinem Gefühlsleben und seinen geistigen Bedürfnissen nach der Sohn des
Osseten Beso aus Didi-Lilo. Er verlangte von seiner Frau nicht mehr als das,
was sein Vater bei der stumm duldenden Keke gefunden hatte.
Iremaschwilis
Zeitangaben sind im allgemeinen nicht ganz einwandfrei, aber sie sind dort, wo
es sich ums private Leben handelt, zuverlässiger als auf politischem Gebiet.
Immerhin ruft das für die Eheschließung angegebene Datum, 1903, Zweifel hervor.
Denn Koba wurde im April 1902 verhaftet und kam im Februar 1904 aus der
Verbannung zurück. Möglich ist, daß die Heirat im Gefängnis stattgefunden hat;
das kam nicht selten vor. Möglich ist aber auch, daß sie erst nach seiner
Rückkehr aus der Verbannung vollzogen wurde, Anfang 1904. In diesem Falle bot
die Eheschließung in der Kirche für den »Illegalen« sicherlich gewisse
Schwierigkeiten, doch waren bei den primitiven Sitten jener Epoche besonders im
Kaukasus die polizeilichen Hindernisse, die etwa auftauchen konnten, nicht
unüberwindlich. Wenn Kobas Hochzeit nach der Rückkehr aus der Verbannung
stattgefunden hat, dann wäre seine politische Passivität im Jahre 1904
teilweise erklärt.
Kobas Frau –
von der wir nicht einmal den Namen wissen – starb, gewissen Informationen nach,
im Jahre 1907 an Lungenentzündung. Zu diesem Zeitpunkt waren die beiden Sossos
schon keine Freunde mehr. »Seine heftigsten Angriffe richteten sich nunmehr
gegen uns, seine ehemaligen Freunde«, klagt Iremaschwili. »Er griff uns auf
jeder Versammlung, bei jeder Diskussion in der wüstesten und skrupellosesten
Weise an und suchte überall Gift und Haß unter uns auszustreuen. Wenn er die
Möglichkeit dazu gehabt hätte, hätte er uns mit Feuer und Schwert ausgerottet
... Aber die überwältigende Mehrheit der georgischen Marxisten blieb mit uns.
Das steigerte seine Wut nur noch mehr.« Die politische Entfremdung hinderte
Iremaschwili nicht, Koba beim Tode seiner Frau einen Beileidsbesuch abzustatten
– so stark war die georgische Tradition verwurzelt. »Er war
sehr niedergeschlagen, doch empfing er mich in herzlicher Weise, wie in alten
Tagen. Sein bleiches Gesicht spiegelte den Schmerz wider, den diesem harten
Manne der Tod seiner treuen Lebensgefährtin verursacht hatte. Die Erschütterung
seiner Gefühle... muß stark und anhaltend gewesen sein, denn er war unfähig,
sie vor Außenstehenden zu verbergen.«
Die
Verstorbene wurde mit allen Gebräuchen des orthodoxen Ritus beigesetzt. Ihre
Familie bestand darauf, und Koba widersetzte sich nicht. »Als der kleine
Trauerzug am Friedhofseingang angelangt war«, erzählt Iremaschwili, »drückte
mir Koba heftig die Hand, zeigte auf die Bahre und sagte: ›Sosso, dieses Wesen
hat mein steinernes Herz weicher gemacht; sie ist tot, und mit ihr sind meine
letzten warmen Gefühle gegenüber allen Menschenwesen gestorben.‹ Und, seine
Rechte aufs Herz legend: ›Da drinnen ist es leer geworden, so unsagbar leer!‹«
Solche Worte können theatralisch und unnatürlich scheinen, indes können sie
durchaus wahrhaftig sein, nicht nur, weil es sich um einen noch jungen Mann
handelt, der von tiefem Schmerz überwältigt ist – wir werden auch später noch
bei Stalin diese Neigung zum übertriebenen Pathos finden, die bei verhärteten
Naturen nicht gar so selten ist. Den unbeholfenen Stil, in dem er seine Gefühle
ausdrückte, hatte er von den seminaristischen Übungen für Kanzelreden
beibehalten.
Seine
verstorbene Frau hinterließ Koba einen zarten Jungen mit feinen Zügen. In den
Jahren 1919 bis 1920 studierte er auf dem Tifliser Kollegium, an dem
Iremaschwili damals Lehrer war. Bald darauf ließ ihn der Vater nach Moskau
kommen. Im Kreml werden wir Jascha wiederfinden. Das ist alles, was wir von
dieser Ehe wissen, die zeitlich (1903-1907) in die Periode der Ersten
Revolution gehört. Dieses Zusammentreffen ist nicht zufällig; der Rhythmus des
Privatlebens der Revolutionäre war eng verbunden mit dem Rhythmus der großen
Ereignisse.
»Von dem Tag
an, an dem er sein Weib begrub«, betont Iremaschwili, »verlor er die letzte
Spur menschlichen Fühlens. Sein Herz füllte sich mit jenem unsagbaren Haß, den
schon der unerbittliche Vater in die Seele des Kindes gesenkt hatte. Mit Hilfe
von Sarkasmen unterdrückte er jeden immer seltener auftretenden moralischen
Impuls. Unnachgiebig gegen sich selbst, wurde er unnachgiebig allen anderen
Menschen gegenüber.« So stand es um ihn, als die Periode der Reaktion im Lande
einsetzte.
Die ersten Massenstreiks in der zweiten Hälfte der
neunziger Jahre hatten das Heraufkommen der Revolution angekündigt; doch hatte
die Durchschnittszahl der Streikenden nicht einmal 50000 pro Jahr betragen.
1905 stieg diese Zahl plötzlich auf zwei und dreiviertel Millionen an; 1906
fiel sie auf eine Million; 1907 ging sie auf eine dreiviertel Million hinunter,
diejenigen Streikenden inbegriffen, die an mehreren Streiks teilgenommen haben.
Das ist das Zahlenbild, das die drei Revolutionsjahre bieten. Nie zuvor hatte
die Welt solch eine Streikwelle gesehen! 1908 beginnen die Jahre der Reaktion,
die Zahl der Streikenden fällt auf 174000, 1909 auf 64000, 1910 auf 50000. Aber
während die Kampfkraft des Proletariats rapide sank, setzten die vom
Proletariat erweckten Bauern ihre Offensive verstärkt fort. In den Monaten der
ersten Duma nahm die Brandschatzung von Großgrundbesitzern besonders
erheblichen Umfang an. Es folgte eine Welle von Soldatenunruhen. Nach der
Niederschlagung der Meutereien von Sveaborg und Kronstadt im Juli 1906 faßte
die Monarchie neuen Mut, führte die Ausnahmegerichte ein und fälschte mit Hilfe
des Senats die Wahlgesetze. Das gewünschte Ergebnis erzielte sie dennoch nicht;
die zweite Duma stellte sich als noch radikaler heraus als die erste.
Im Februar
1907 charakterisierte Lenin die politische Situation des Landes mit folgenden
Worten: »Hemmungsloseste, schamloseste Willkür ... Die reaktionärsten Wahlgesetze
Europas. Die revolutionärste Volksvertretungs-Körperschaft im rückständigsten
aller Länder!« Und hier seine Schlußfolgerung: »Wir stehen vor einer neuen,
noch viel gewaltigeren revolutionären Krise.« Diese Schlußfolgerung stellte
sich als irrtümlich heraus. Die Revolution war noch stark genug, um sich
innerhalb der Arena des zaristischen Pseudo-Parlamentarismus bemerkbar zu
machen, aber sie war bereits gebrochen; ihre Zuckungen wurden schwach und
schwächer.
Die
sozialdemokratische Partei machte einen ähnlichen Prozeß durch. Ihrer
Mitgliederzahl nach wuchs sie ständig, aber ihr Einfluß auf die Massen ging
zurück. Hundert Sozialdemokraten brachten nicht mehr so viel Arbeiter auf die
Straße wie zehn Sozialdemokraten ein Jahr zuvor. Die verschiedenen Seiten der
revolutionären Bewegung als eines einheitlichen historischen Prozesses und ganz
allgemein als eines lebendigen Entwicklungsvorgangs sind ihrem Inhalt und ihrem
Rhythmus nach weder einförmig noch harmonisch. Nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Kleinbürger wollten sich, indem sie links
wählten, für ihre Niederlage am Zarismus rächen, aber zu einer neuen Erhebung
waren sie nicht länger imstande. Ohne den Apparat der Sowjets und vom direkten
Kontakt mit den Massen abgeschnitten, die bald völlig in Apathie verfielen,
spürten die aktivsten Arbeiter die Notwendigkeit einer revolutionären Partei.
So waren also der linke Umschwung der Duma und das Anwachsen der
Sozialdemokratie diesmal nicht Symptome des Aufstiegs der Revolution, sondern
ihres Niedergangs.
Kein
Zweifel, daß Lenin dies damals schon zugab; solange es aber nicht durch die
Erfahrung endgültig bestätigt war, gründete er seine Politik weiterhin auf die
Perspektive der Revolution. Das war die Grundregel dieses Strategen. »Die
revolutionäre Sozialdemokratie«, schrieb er im Oktober 1906, »muß als erste den
Weg des entschlossensten und direktesten Kampfes betreten und als letzte
indirekte Kampfmittel anwenden.« Unter direkten Kampfmitteln verstand er
Streiks, Kundgebungen, den Generalstreik, Zusammenstöße mit der Polizei, den
Aufstand. Der indirekte Weg bedeutete die Ausnützung der legalen Möglichkeiten,
mit Einschluß des Parlamentarismus, zur Sammlung der Kräfte. Diese Strategie
barg unvermeidlicherweise die Gefahr in sich, daß Methoden des bewaffneten Kampfes
noch in einem Augenblick angewendet wurden, wo die objektiven Bedingungen dafür
nicht mehr vorhanden waren. Doch wog diese taktische Gefahr auf der Waage der
revolutionären Partei unendlich leichter als die strategische Gefahr, außerhalb
der Ereignisse zu bleiben und eine revolutionäre Situation ungenützt
vorübergehen zu lassen.
Der Fünfte
Parteitag vom Mai 1907 in London ist wegen der außerordentlich hohen Zahl der
Teilnehmer bemerkenswert; in der Halle einer »sozialistischen« Kirche waren 302
Delegierte (ein Delegierter für 500 Parteimitglieder) mit vollem Stimmrecht
versammelt, ungefähr 50 Delegierte mit beratender Stimme und eine große Anzahl
Gäste. Unter den Delegierten waren 90 Bolschewiki und 85 Menschewiki. Die
Delegation der Nationalitäten bildeten das »Zentrum« zwischen diesen beiden
Flügeln. Auf dem vorhergehenden Parteitag waren Vertreter für insgesamt 13 000
Bolschewiki und 18 000 Menschewiki (je ein Delegierter für 300
Parteimitglieder) erschienen. In den zwölf Monaten zwischen dem Stockholmer
Parteitag und dem von London war die russische Sektion der Partei von 31 000
auf 77 000 Mitglieder angewachsen, das heißt, ihre
Mitgliederzahl war um das Zweieinhalbfache gestiegen. Je schärfer der
Fraktionskampf, um so höher wurden natürlich die Ziffern. Doch waren zweifellos
während des ganzen verflossenen Jahres ständig fortgeschrittene Arbeiter der
Partei beigetreten. Zugleich wuchs der linke Flügel verhältnismäßig schneller
als die gegnerische Fraktion. In den Sowjets des Jahres 1905 hatten die Menschewiki
die Oberhand gehabt, die Bolschewiki waren eine bescheidene Minderheit gewesen.
Anfang 1908 waren beide Richtungen in Petersburg ungefähr gleich stark. In der
Zeit während der ersten und der zweiten Duma bekamen die Bolschewiki immer mehr
das Übergewicht; im Augenblick der zweiten Duma hatten sie schon die absolute
Führung über die fortschrittlichen Arbeiter. Den angenommenen Resolutionen nach
zu urteilen, war Stockholm ein menschewistischer Kongreß gewesen, London war
ein bolschewistischer.
Diese
Verschiebung nach links innerhalb der Partei wurde von den Behörden aufmerksam
verfolgt. Kurz vor dem Parteitag erklärte das Polizeiministerium den örtlichen
Dienststellen: »Ihrer gegenwärtigen Haltung nach stellen die menschewistischen
Gruppen keine so ernste Gefahr dar wie die bolschewistischen.« In einem der
laufenden Berichte über die Vorgänge auf dem Parteitag, die dem Polizeiminister
von einem seiner Auslandsagenten zugingen, heißt es: »Unter den Rednern, die in
den Diskussionen einen extremistischen revolutionären Standpunkt vertreten,
sind Stanislaw (Bolschewik), Trotzky, Pokrowski (Bolschewik), Tyszko (Polnische
Sozialdemokratie); den opportunistischen Gesichtspunkt vertreten Martow und
Plechanow (Führer der Menschewiki).« »Man kann deutlich beobachten«, fährt der
Ochrana-Agent, nachdem er diese Einschätzung gegeben hat, fort, »daß die
Sozialdemokratie eine Schwenkung zu revolutionären Kampfmethoden vornimmt ...
Der Einfluß der Menschewiki war infolge der Duma gestiegen, er ging zurück, als
sich die Machtlosigkeit der Duma herausstellte, und überließ das Feld von neuem
den Bolschewiki, oder genauer gesagt den extremen revolutionären Strömungen.«
In Wirklichkeit waren, wie schon gesagt, die inneren Verschiebungen im
Proletariat viel komplizierter und auch viel widerspruchsvoller. Die
fortgeschrittenste Schicht wanderte unter dem Einfluß der Erfahrungen nach
links ab, die Massen, unter dem Einfluß der Niederlage, nach rechts; die
Stickluft der Reaktion lagerte schon über dem Parteitag.
»Unsere Revolution macht eine schwierige Zeit durch«, sagte Lenin auf der
Sitzung vom 12. Mai. »Es bedarf all unserer Willenskraft, der ganzen Härte und
Festigkeit einer im Kampf gestählten revolutionären Partei, um Zweifel nicht
aufkommen zu lassen und um der Schwäche, der Gleichgültigkeit, der Neigung zur
Fahnenflucht zu widerstehen.«
»In London«,
schreibt Stalins französischer Biograph, »hat Stalin zum erstenmal Trotzky
gesehen. Aber letzterer hat wahrscheinlich keine Notiz von ihm genommen. Der
Vorsitzende des Petersburger Sowjets ist nicht der Mann, der schnell
Verbindungen anknüpft und sich mit jemandem einläßt, mit dem er keine echten
geistigen Berührungspunkte besitzt.« Ob das nun richtig ist oder nicht,
Tatsache ist, daß ich erst aus dem Buch Souvarines von der Anwesenheit Kobas
auf dem Londoner Parteitag erfahren habe; später habe ich die Bestätigung dafür
in den Tagungsprotokollen gefunden. Wie schon in Stockholm, hat Iwanowitsch
auch am Londoner Parteitag nicht als einer der 302 Delegierten mit voll
gültiger Stimme teilgenommen, sondern gehörte zu den 42 Delegierten mit
beratender Stimme. Der Bolschewismus war in Georgien so schwach geblieben, daß
Koba in Tiflis nicht die notwendigen 500 Stimmen zu mustern vermochte! »Selbst
in Kobas und meiner Vaterstadt«, schreibt Iremaschwili, »gab es nicht einen
einzigen Bolschewiken.« Das eindeutige Übergewicht des Menschewismus im
Kaukasus wurde auf dem Parteitag von Kobas Rivalen Schaomyan, führendem
kaukasischen Bolschewik und späterem Mitglied des Zentralkomitees, zugegeben.
»Die kaukasischen Menschewiki«, klagte er, »benutzen ihre zahlenmäßige
Überlegenheit und ihr offizielles Übergewicht im Kaukasus dazu, um mit allen
Mitteln zu verhindern, daß Bolschewiki gewählt werden.« In einer vom selben
Schaomyan und von Iwanowitsch unterzeichneten Erklärung lesen wir: »Die
kaukasische menschewistische Organisation setzt sich fast ausschließlich aus
dem Kleinbürgertum der Städte und Dörfer zusammen.« Von den 18 000
Parteimitgliedern im Kaukasus waren nicht mehr als 6000 Arbeiter, auch von
diesen waren die meisten Menschewiki.
Die
Zuerteilung einer beratenden Stimme an Iwanowitsch war von einem pikanten
Zwischenfall begleitet. Als die Reihe an Lenin gekommen war, das Präsidium des
Parteitags einzunehmen, schlug dieser vor, die Resolution der
Mandatskommission, die empfahl, vier Delegierten, darunter Iwanowitsch, die
beratende Stimme zuzuerkennen, ohne Diskussion anzunehmen.
Der unermüdliche Martow schoß von seinem Sitz auf: »Ich verlange, daß man uns
erklärt, an wen diese beratenden Stimmen gegeben werden. Wer sind diese Leute
da, woher kommen sie?« Lenins Antwort: »Ich weiß es wirklich nicht, aber der
Parteitag sollte der einstimmigen Meinung der Mandatsprüfungskommission
Vertrauen schenken!« Höchstwahrscheinlich besaß Martow schon einige
Informationen über den besonderen Charakter von Iwanowitschs Tätigkeit – wir
werden gleich noch darauf kommen – und Lenin beeilte sich aus diesem Grunde,
die drohende Gefahr abzuwenden, indem er die Einstimmigkeit der
Mandatsprüfungskommission vorschützte. Jedenfalls konnte Martow sich erlauben,
von »diesen Leuten da« als von Unbekannten zu sprechen – »wer sind sie, woher
kommen sie« – und Lenin seinerseits beanstandete die Charakterisierung nicht,
sondern bestätigte sie. Stalin war 1907 noch eine unbekannte Größe, nicht nur
in der Partei überhaupt, sondern selbst unter den dreihundert
Parteitagsdelegierten. Der Vorschlag der Mandatsprüfungskommission wurde mit
einer erheblichen Zahl von Stimmenthaltungen angenommen.
Wichtiger
ist, daß Iwanowitsch nicht ein einziges Mal von der Möglichkeit Gebrauch
machte, die ihm seine beratende Stimme bot. Der Parteitag dauerte fast drei
Wochen; die Debatten waren umfassend und ausgedehnt. Aber Iwanowitsch figuriert
nicht unter den zahlreichen Rednern. Nur seine Unterschrift erscheint unter
zwei kurzen schriftlichen Erklärungen, die von den kaukasischen Bolschewiki zum
Thema ihrer lokalen Konflikte mit den Menschewiki abgegeben werden, und auch
nur an dritter Stelle. Sonst hinterließ Iwanowitschs Anwesenheit auf dem Kongreß
keine Spuren. Um diese Tatsache in ihrer ganzen Bedeutung zu erfassen, muß man
die verborgenen Hintergründe des Mechanismus dieses Parteitags kennen. Jede der
einzelnen Fraktionen und der nationalen Organisationen tagte in den Pausen
zwischen den offiziellen Sitzungen getrennt voneinander, um die eigene Linie
festzulegen und die eigenen Redner zu bestimmen. Die bolschewistische Fraktion
hielt es also im Verlauf dreier Wochen voller Diskussionen, an denen alle
einigermaßen bemerkenswerten Parteimitglieder teilnahmen, nicht für angebracht,
Iwanowitsch mit einer einzigen Debattenrede zu beauftragen.
Gegen Ende
einer der letzten Sitzungen sprach ein junger Delegierter aus Petersburg. Alle
Welt beeilte sich, den Saal zu verlassen, und niemand hörte
zu. Der Redner sah sich gezwungen, auf einen Stuhl zu steigen, um die
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Trotz der mißgünstigen Umstände brachte er
es fertig, eine immer größere Anzahl von Delegierten um sich zu versammeln und
schließlich die Ruhe im Saal wiederherzustellen. Diese Ansprache machte aus dem
Neuling ein Mitglied des Zentralkomitees. Iwanowitsch, zum Schweigen
verurteilt, hat diesen Erfolg des jungen Unbekannten – Sinowjew war damals
fünfundzwanzig Jahre alt – wahrscheinlich ohne Sympathie, aber auch neidlos
hingenommen. Keine Seele kümmerte sich um den ehrgeizigen Kaukasier mit der
unausgenützten beratenden Stimme! Der Bolschewik Gandurin, der zu den einfachen
Tagungsteilnehmern gehörte, erzählt in seinen Lebenserinnerungen folgendes: »In
den Pausen bildeten wir gewöhnlich einen Kreis um diesen oder jenen bedeutenden
Führer und bombardierten ihn mit Fragen.« Gandurin erwähnt unter den
Delegierten Litwinow, Woroschilow, Tomski und andere damals noch
verhältnismäßig unbekannte Bolschewiki. Stalin erwähnt er nicht ein einziges
Mal. Und das, obwohl er seine Memoiren 1931 geschrieben hat, als es schon viel
schwieriger war, Stalin zu vergessen, als sich seiner zu erinnern.
Unter den in
das neue Zentralkomitee gewählten Mitgliedern waren die Bolschewiki Mjeschkowsky,
Rozkow, Theodorewitsch und Nogin. Ersatzleute wurden Lenin, Bogdanow, Krassin,
Sinowjew, Rykow, Schanzer, Sammer, Leitheisen, Taratuta und A. Smirnow. Die
bekanntesten Fraktionsführer wurden zu Ersatzleuten gewählt, damit diejenigen,
die in Rußland selbst tätig sein konnten, in den Vordergrund traten.
Iwanowitsch war weder unter den Mitgliedern noch unter den Ersatzmännern. Es
wäre unrecht, den Grund dafür in irgendwelchen Manövern der Menschewiki zu
suchen: in Wirklichkeit bestimmte jede Fraktion selbst ihre Kandidaten. Einige
der bolschewistischen Mitglieder des Zentralkomitees, wie Sinowjew, Rykow,
Taratuta, A. Smirnow, stammten aus derselben Generation wie Iwanowitsch und
waren sogar jünger als er.
Auf der
letzten Sitzung der bolschewistischen Fraktion, schon nach Schluß des
Parteitags, wurde eine geheime bolschewistische Zentrale gewählt, »B. Z.«
genannt, die sich aus fünfzehn Mitgliedern zusammensetzte. Unter ihnen befinden
sich die Theoretiker und »Literaten« von damals und von später, als da sind:
Lenin, Bogdanow, Pokrowski, Rozkow, Sinowjew, Kamenew sowie
die bedeutendsten Organisatoren: Krassin, Rykow, Dubrowski, Nogin und andere.
Auch diesem Kollegium hat Iwanowitsch nicht angehört. Die Bedeutung dieser
Tatsache springt in die Augen. Ins Zentralkomitee konnte Stalin nicht
aufgenommen werden, weil er nicht der ganzen Partei bekannt war, oder
weil – nehmen wir das für einen Augenblick an – die kaukasischen Menschewiki
ihm gegenüber besonders feindselig eingestellt waren. Wenn er aber Gewicht und
Einfluß innerhalb seiner eigenen Fraktion gehabt hätte, wäre er zwangsläufig
Mitglied der Bolschewistischen Zentrale geworden, die im Kaukasus notwendig
einen autorisierten Vertreter brauchte. Iwanowitsch selbst wird von einem Sitz
in der »B.Z.« geträumt haben – auch dort war für ihn kein Platz.
Warum ist
denn Koba überhaupt nach London gegangen? Als Delegierter konnte er die Hand
nicht heben. Als Redner war er überflüssig. In den geschlossenen Sitzungen der
bolschewistischen Fraktion spielte er offensichtlich überhaupt keine Rolle. Daß
er nur gekommen wäre, um zu hören und zu sehen, ist unwahrscheinlich. Er muß
andere Dinge vorgehabt haben. Was für welche?
Der
Parteitag endete am 19. Mai. Schon am 1. Juni forderte der Ministerpräsident
Stolypin von der Duma den Ausschluß der 55 sozialdemokratischen Abgeordneten
und die Ermächtigung zur Verhaftung von 16 unter ihnen. Ohne die Zustimmung der
Duma abzuwarten, nahm die Polizei schon in der Nacht zum 2. Juni Verhaftungen
vor. Am 3. Juni wurde die Duma für aufgelöst erklärt und im Anschluß an diesen
Staatsstreich der Regierung ein neues Wahlgesetz erlassen. Gleichzeitig fanden
von langer Hand vorbereitete Massenverhaftungen im ganzen Lande statt; vor
allem Eisenbahner wurden eingekerkert, um einem Generalstreik vorzubeugen.
Aufstandsversuche in der Schwarzmeerflotte und in einem Kiewer Regiment endeten
mit einer Niederlage. Die Monarchie triumphierte. Wenn sich Stolypin im Spiegel
betrachtete, sah er das Bildnis des Heiligen Georg, des sieghaften
Drachentöters.
Der offenbar
gewordene Niedergang der Revolution rief eine Reihe neuer Krisen in der Partei
hervor und auch in der bolschewistischen Fraktion, die in ihrer Mehrheit für
den Boykott der Duma war. Es war dies eine fast instinktive Reaktion gegen die
Gewaltmaßnahmen der Regierung, aber es war auch gleichzeitig ein Versuch, die
eigene Schwäche mit einer radikalen Geste zu verdecken.
Lenin hielt sich nach dem Parteitag zur Erholung in Finnland auf; dort
überlegte er sich die Dinge von allen Seiten und entschied sich energisch gegen
den Boykott. Seine Stellung in der eigenen Fraktion war nicht gerade einfach.
Es ist nicht so leicht, aus der revolutionären Hochspannung wieder in die
nüchterne Alltagsarbeit zurückzufinden. »Mit Ausnahme von Lenin und Rozkow«,
schrieb Martow, »haben sich alle prominenten Vertreter der bolschewistischen
Fraktion (Bogdanow, Kamenew, Lunatscharsky, Wolsky usw.) für den Boykott
ausgesprochen.« Das Zitat ist deshalb von Interesse, weil es unter den
»prominenten Vertretern« nicht nur Lunatscharsky, sondern auch den längst
vergessenen Wolsky aufzählt, ohne Stalin zu nennen. Als die offizielle Moskauer
Historische Zeitschrift 1924 Martows Bezeugung veröffentlichte, kam es der
Redaktion nicht in den Sinn, danach zu fragen, wofür Stalin in jener Zeit
gestimmt haben mochte.
Koba war
Boykottist. Außer direkten Zeugnissen über diesen Punkt, die allerdings von
Menschewiki stammen, gibt es einen indirekten, noch überzeugenderen Beweis:
keiner der offiziellen Geschichtsschreiber läßt auch nur ein einziges Wort über
Stalins Stellungnahme während der Wahlen zur dritten Reichsduma verlauten. In
einer kurz nach dem Staatsstreich erschienenen Broschüre »Über den Boykott der
dritten Duma«, in der Lenin für die Wahlbeteiligung eintrat, wird der
Boykottstandpunkt von Kamenew verteidigt. Es fiel Koba um so leichter, im
Schatten zu bleiben, als 1907 niemand auf die Idee kam, von ihm einen Artikel
zu verlangen. Der alte Bolschewik Pirjeiko erinnert daran, daß die
Boykottanhänger »dem Genossen Lenin seinen Menschewismus vorwarfen«. Kein
Zweifel, daß Koba selbst in engem Kreise nicht mit heftigen georgischen und
russischen Ausdrücken gespart haben wird. Was Lenin betrifft, so verlangte er
von seiner Fraktion die Bereitschaft und die Fähigkeit, der Wirklichkeit ins
Antlitz zu schauen. »Der Boykott ist die offene Kriegserklärung an das alte
Regime, der offene Angriff. Ohne breiten revolutionären Aufschwung ... kann von
einem Erfolg des Boykotts keine Rede sein.« Sehr viel später, 1920, schrieb
Lenin: »Schon der Boykott der Duma durch die Bolschewiki im Jahre 1906 ... war
ein Fehler.« Es war ein Fehler, weil man nach der Dezemberniederlage unmöglich
in Kürze wieder einen revolutionären Aufschwung erwarten konnte und weil es
infolgedessen sinnlos war, auf die Dumatribüne zu verzichten, statt
sich ihrer dazu zu bedienen, die revolutionären Reihen wieder auszurichten.
Auf der
Parteikonferenz, die im Juli in Finnland stattfand, waren alle neun
bolschewistischen Delegierten, mit Ausnahme von Lenin, für den Boykott.
Iwanowitsch nahm an der Konferenz nicht teil. Die Boykottanhänger hatten
Bogdanow zum Berichterstatter bestimmt. Die Frage der Wahlbeteiligung wurde
positiv entschieden, mit den vereinigten Stimmen, schreibt Dan, »der
Menschewiki, der Bundisten, der Polen, eines Letten und eines Bolschewiken«.
Der »eine Bolschewik« war Lenin. »In einem kleinen Landhause«, schildert die
Krupskaja, »verteidigte Iljitsch hitzig seine Stellungnahme. Krassin kam auf
dem Fahrrad an, blieb am Fenster stehen und hörte Iljitsch aufmerksam zu. Dann,
ohne erst noch ins Haus zu kommen, entfernte er sich, in Gedanken versunken
...« Krassin entfernte sich für zehn Jahre vom Fenster. Er kehrte erst nach der
Oktoberrevolution in die Partei zurück, und auch dann nicht im ersten Elan.
Nach und nach, unter dem Einfluß neuer Erfahrungen, gingen die Bolschewiki zu
Lenins Ansicht über, jedoch nicht alle, wie wir gleich sehen werden. Auch Koba
verzichtete stillschweigend auf die Boykottparole. Seine kaukasischen Reden und
Artikel für den Boykott hat man gnädigerweise in Vergessenheit geraten lassen.
Am
1. November nahm die dritte Reichsduma ihre wenig glorreiche Tätigkeit
auf. Die Großbourgeoisie und der Landadel hatten sich im voraus die Majorität
gesichert. Eins der bittersten Kapitel in der Geschichte des »wiedererstandenen
Rußlands« begann. Die Arbeiterorganisationen wurden zerschlagen, die
revolutionäre Presse wurde unterdrückt, Sondergerichte wurden eingesetzt,
Strafexpeditionen ausgesandt. Schlimmer noch als die Schläge von außen war die
Reaktion im Innern der Partei. Eine allgemeine Fahnenflucht setzte ein. Die
Intellektuellen ließen die Politik fallen und wandten sich den Wissenschaften
zu, der Kunst, der Religion, erotischem Mystizismus. Eine Epidemie von
Selbstmorden gab dem Bild die düsterste Farbe. Die Umwertung aller Werte
richtete sich vor allem gegen die revolutionären Parteien und ihre Führer. Der
schroffe Wechsel in der Geisteshaltung fand ein klares Spiegelbild in den
Archiven der Polizeiabteilungen, in denen verdächtige Briefe zensuriert wurden;
die interessantesten sind auf diese Weise der Geschichte erhalten geblieben.
Aus
Petersburg wurde damals an Lenin in Genf geschrieben:
»Alles ist
ruhig oben und unten, aber unten ist die Atmosphäre giftgeschwängert.
Unter dem Schein der Ruhe reift ein Haß heran, der all die aufheulen machen
wird, die eines Tages wohl oder übel werden heulen müssen. Vorläufig allerdings
haben wir selbst noch darunter zu leiden ...« Ein gewisser Sacharow schreibt an
seinen Freund in Odessa: »Man hat vollständig das Vertrauen zu denen verloren,
die man bisher so hoch gestellt hatte ... Erinnern Sie sich, wie Trotzky Ende
1905 noch in allem Ernst erklärte, daß die politische Revolution mit einem
vollen Erfolg geendet habe und daß ihr die soziale Revolution auf dem Fuße
folgen werde... Und die wunderbare Taktik des bewaffneten Aufstandes, die uns
die Bolschewiki angepriesen haben ... Wahrhaftig, ich habe alles Vertrauen in
unsere Führer und überhaupt in die sogenannten revolutionären Intellektuellen
verloren.« Die Presse der Liberalen und Fortschrittlichen ihrerseits sparte
nicht mit Sarkasmen an die Adresse der Unterlegenen.
Der
Briefwechsel mit den Ortsorganisationen, der in dem von neuem ins Ausland
verlegten Zentralorgan der Partei veröffentlicht wurde, brachte den
Verfallsprozeß der Revolution nicht weniger klar zum Ausdruck. »Da es hier keine
Intellektuellen gibt, liegt die Bezirksorganisation seit einiger Zeit brach«,
wird aus einem Industriestädtchen in Zentralrußland berichtet. »Unsere
intellektuelle Mitgliedschaft schmilzt zusammen wie Schnee in der Sonne«, heißt
es in einem Bericht aus dem Ural, »viele Elemente, die im Augenblick des
Erfolgs zur Partei gestoßen waren, haben die Organisation jetzt wieder
verlassen.« In diesem Ton sind alle Briefe gehalten. Selbst in den Zuchthäusern
wenden sich die Helden und Heldinnen der Aufstände und Terrorakte voller
Feindschaft von ihrem eigenen Gestern ab und gebrauchen Ausdrücke wie »Partei«,
»Genosse«, »Sozialismus« nur noch ironisch.
Aber nicht
nur Intellektuelle ließen die Fahne im Stich, nicht nur Konjunkturritter,
sondern auch viele der fortgeschrittensten Arbeiter, die Jahre hindurch Fleisch
vom Fleische der Partei gewesen waren. »In den Parteikomitees da herrscht
Leere, da ist die Wüste ...« meldet Woitinsky, der später von den Bolschewiki
zu den Menschewiki überging. In den rückständigeren Schichten der
Arbeiterklasse wurde einerseits die Anziehungskraft der Religion wieder
stärker, andererseits griffen Alkoholismus und Kartenspiel um sich. In den
oberen Schichten der Arbeiterklasse gaben jetzt die Individualisten den Ton an,
die danach strebten, ihre persönliche Kultur und ihre Lebenshaltung über die
ihrer Klassengenossen zu erheben. Auf diese dünne Schicht von
Arbeiteraristokraten, die sich hauptsächlich aus Druckern und Metallarbeitern
zusammensetzte, stützten sich die Menschewiki. Die Arbeiter aus der mittleren
Schicht, die die Revolution gelehrt hatte, Zeitungen zu lesen, bewiesen größere
Festigkeit. Aber, unter der Leitung von Intellektuellen ins politische Leben
eingeführt und plötzlich auf sich selbst gestellt, fühlten sie sich paralysiert
und warteten ab.
Nicht alle
desertierten. Doch sahen sich jene Revolutionäre, die den Kampf nicht aufgeben
wollten, unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenüber. Eine illegale Organisation
bedarf einer Umwelt, die mit ihr sympathisiert, und muß ihre Reserven ständig
erneuern können. In der Atmosphäre einer allgemeinen Niedergeschlagenheit war
es schwer, ja fast unmöglich, die einfachsten konspirativen Regeln zu
beobachten und die revolutionären Verbindungen aufrechtzuerhalten. »Die
illegale Arbeit klappte schlecht. Im Jahre 1909 wurden die Parteidruckereien in
Rostow am Don, Moskau, Djuman, Petersburg ausgehoben ...« und »in Petersburg,
Bialystock, Moskau wurden ganze Lager von geheimen Schriften beschlagnahmt und
ebenso die Archive des Petersburger Zentralkomitees. Bei all diesen
Verhaftungen verlor die Partei ihre besten Arbeiter.« So spricht, fast mit
einem Unterton von Mißvergnügen, der Polizeigeneral im Ruhestand Spiridowitsch.
»Wir haben
fast keine Leute mehr«, schreibt die Krupskaja mit unsichtbarer Tinte Anfang
1909 nach Odessa, »alle sind im Gefängnis oder in der Verbannung.« Es gelang
der Polizei, den Brieftext sichtbar zu machen – und die Ziffer der
Gefängnisinsassen zu erhöhen. Je mehr sich die revolutionären Reihen lichteten,
desto mehr ging auch das Niveau der Parteikomitees zurück. Mangelnde Auswahl
machte es den Geheimagenten der Polizei möglich, alle Stufen der illegalen
Hierarchie zu erklettern. Der Provokateur brauchte nur mit den Fingern zu
schnipsen, und der Revolutionär, der ihm bei seinem Aufstieg im Wege stand,
wurde verhaftet. Versuche, die Organisation von zweifelhaften Elementen zu
säubern, führten unmittelbar zu Massenverhaftungen. Es herrschte eine
Atmosphäre des Mißtrauens und der gegenseitigen Verdächtigungen, die jede
Initiative lähmte. Nach einer Reihe wohlüberlegter Verhaftungen war es dem
Spitzel Kukuschkin Anfang 1910 gelungen, an die Spitze der Moskauer
Organisation zu kommen. »Das Ideal der Ochrana ist erreicht«, schrieb ein
Mitglied der Bewegung, »alle Organisationen des Moskauer
Bezirks werden von Geheimagenten geführt.« In Petersburg war die Lage nicht
viel besser. »Die Führung ist vernichtet, es scheint keine Möglichkeit zu
bestehen, sie zu ersetzen, die Provokateure sind allmächtig, die Organisationen
fallen zusammen.« 1909 bestanden noch fünf oder sechs aktive Organisationen in
Rußland, bald verschwanden auch sie. Die Mitgliederzahl der Moskauer
Bezirksorganisation betrug Ende 1908 fünfhundert Mann, Mitte des
darauffolgenden Jahres war sie auf dreihundertfünfzig zurückgegangen, sechs
Monate später fiel sie auf einhundertfünfzig; 1910 hatte die Organisation
aufgehört zu existieren.
Der
ehemalige Dumaabgeordnete Samoilow erzählt, wie Anfang 1910 die Organisation
von Iwanowo-Wossnessensk zusammenbrach, die bis dahin sehr aktiv gewesen war
und großen Einfluß besessen hatte. Mit ihr verschwanden auch die
Gewerkschaften. Hingegen traten nunmehr die »Schwarze Hundert«-Banden auf den
Plan. In den Textilfabriken wurde nach und nach das Arbeitssystem wieder
eingeführt, das vor der Revolution geherrscht hatte: niedrige Löhne, strenge
Bußstrafen, strafweise Entlassungen und ähnliche Dinge. »Die Arbeiter
schluckten alles schweigend hinunter.« Trotz alledem, die alte Ordnung völlig
wieder aufzurichten, war nicht möglich. Lenin veröffentlichte im Ausland Briefe
von Arbeitern, die, nachdem sie die neuerlichen Unterdrückungs- und
Verfolgungsmaßnahmen der Fabrikbesitzer geschildert hatten, hinzufügten:
»Geduld, 1905 kommt wieder!«
Außer dem
von oben, gab es auch einen Terror von unten. Noch lange sollten die
konvulsivischen Zuckungen andauern, in denen die niedergeschlagene
Aufstandsbewegung lag, und die sich in Form von isolierten Ausbrüchen,
Partisanenaufständen und individuellen Terrorakten äußerten. Die Statistik des
Terrors zeichnet mit äußerster Klarheit die Kurve der Revolution: 1905 wurden
233 Menschen umgebracht, 768 im Jahre 1906, 1231 im Jahre 1907. Die Zahl der
Verletzten wuchs nicht in gleichem Maße – die Terroristen lernten, besser zu
zielen. 1907 erreichte die terroristische Welle ihren Höhepunkt. »Es gab Tage«,
schreibt ein liberaler Beobachter, »wo zu einigen großen Terrorakten noch ein
gutes Dutzend Attentate und Morde von geringerer Tragweite unter den kleineren
Verwaltungsbeamten hinzukam ... Bombenwerkstätten gab es in allen Städten, oft
wurden die unvorsichtigen Bombenhersteller selbst in die Luft gesprengt.« –
Krassins Alchimie hatte sich »demokratisiert«!
Im ganzen genommen ist die dreijährige Periode von
1905 bis 1907 durch die Terrorakte ebenso beachtenswert wie durch die Streiks.
Was ins Auge springt, ist der Gegensatz zwischen den beiden Zahlenreihen:
während die Zahl der Streikenden von Jahr zu Jahr abnimmt, steigt die Zahl der
Terrorakte in gleichem Tempo an. Der individuelle Terror wuchs in dem Maße, wie
die Massenbewegung zurückging, das ist klar. Der Terror jedoch konnte nicht
unbegrenzt anwachsen; auch hier mußte sich der von der Revolution gegebene
Anstoß erschöpfen. Hatte es 1907 1231 Tote gegeben, so waren es 1908 nur noch
ungefähr 400 und 100 im Jahre 1909. Der wieder steigende Prozentsatz von
Verwundeten läßt darauf schließen, daß nicht mehr Leute mit Methode zur Waffe
griffen, sondern nur noch unerfahrene Jugendliche.
Im Kaukasus,
wo die romantischen Überlieferungen von Straßenraub und Blutrache noch sehr
lebendig waren, fand der Guerillakrieg unerschrockene Kämpfer in unbegrenzter
Zahl. Über tausend Terrorakte aller Art wurden während der Revolutionsjahre im
Kaukasus allein verzeichnet. Auch im Ural hatte die Tätigkeit der bewaffneten
Banden (»Bojewiki«) unter bolschewistischer Leitung großen Umfang angenommen,
ebenso in Polen unter dem Banner der Polnischen Sozialistischen Partei. Am 2.
August 1906 wurden in den Straßen Warschaus und anderer polnischer Städte
Dutzende von Polizisten und Soldaten getötet. Den Erklärungen ihrer Führer nach
war der Zweck dieser Attacken, »den revolutionären Geist des Proletariats zu
wecken«. Führer dieser Führer war Josef Pilsudski, zukünftiger »Befreier« und
späterer Unterdrücker Polens. Lenin kommentierte die Warschauer Ereignisse
folgendermaßen: »Wir raten allen Bojewiki-Gruppen unserer Partei, mit ihrer
Untätigkeit Schluß zu machen und Guerilla-Operationen zu unternehmen ...« »Und
diese Appelle der bolschewistischen Führer«, kommentiert seinerseits General
Spiridowitsch, »verhallten nicht ungehört, trotz des Widerstandes des
(menschewistischen) Zentralkomitees.«
Geld ist der
Nerv des Krieges – und des Bürgerkrieges; die Geldfrage spielte in dem Kampf
der Partisanen gegen die Polizei eine große Rolle. Vor dem Verfassungserlaß vom
Jahre 1905 war die revolutionäre Bewegung hauptsächlich von der liberalen
Bourgeoisie und der fortschrittlichen Intelligenz finanziert worden. Das galt
auch für die Bolschewiki, in denen die liberale Opposition damals nur etwas
hitzigere revolutionäre Demokraten sah. Nachdem aber die Bourgeoisie ihre
Hoffnungen auf die zukünftige Duma gesetzt hatte, begann
sie, die Revolutionäre als ein Hindernis auf dem Wege zu einem Übereinkommen
mit der Krone zu betrachten. Für die Finanzen der Revolution war dieser Frontwechsel
ein schwerer Schlag. Aussperrungen und Arbeitslosigkeit stoppten auch den
Zufluß von jenen Geldern, die bisher von den Arbeitern gekommen waren.
Inzwischen hatten die revolutionären Organisationen große politische Apparate
aufgebaut, mit eigenen Druckereien, Verlagen, Stäben von Propagandisten und
schließlich den »Bojewiki«-Gruppen, die ständig mehr Waffen verlangten. Sich
mit Gewalt in den Besitz von Geld zu bringen, das war unter diesen Umständen
die einzige Möglichkeit, der Revolution weitere materielle Mittel zuzuführen.
Wie fast immer, kam auch hier der Anstoß dazu von unten. Die ersten
Expropriationen gingen noch sehr friedlich vor sich, oft erfolgte die
»Expropriation« mit dem schweigenden Einverständnis der Angestellten des
expropriierten Unternehmens. Da hat es z. B. eine Expropriation im Büro
der Versicherungsgesellschaft »Nadeschda« (»Hoffnung«) gegeben, wo die
Angestellten den Bojewiki, denen vor Aufregung die Knie schlotterten, zuriefen:
»Nur keine Angst, Genossen!« Diese idyllische Periode dauerte aber nicht lange.
Der Bourgeoisie nachfolgend, trennte sich die Berufsintelligenz mit Einschluß
der Bankangestellten von der Revolution. Die Maßnahmen der Polizei wurden
verschärft; die Zahl der Opfer auf beiden Seiten wuchs. Der Hilfe und der Sympathie
beraubt, lösten sich die Kampfgruppen auf und verflüchtigten sich.
Ein
typisches Bild von der Demoralisierung einer der diszipliniertesten
Kampfgruppen entwirft der bereits zitierte Samoilow, der von den
Textilarbeitern des Iwanowo-Wossnessensker Bezirks in die Duma geschickt worden
war. Die Gruppe, von der er erzählt, hatte ursprünglich »unter Aufsicht der
Parteileitung« gehandelt und begann in der zweiten Hälfte des Jahres 1906 zu
»schwanken«. Als sie der Partei nur einen Teil des Geldbetrages übergeben
wollte, den sie in einer Fabrik geraubt hatte (wobei der Kassierer getötet
worden war), verweigerte das Parteikomitee die Annahme und rief den Bojewiki
energisch die Parteidisziplin in Erinnerung. Doch war das schon zu spät, die
Bojewiki hatten allen Halt verloren und sanken rapide auf die Stufe des
»Banditentums im üblichen kriminellen Sinne« hinab. Ständig über große
Geldsummen verfügend, begannen die Bojewiki ein ausschweifendes Leben zu führen
und fielen eben dadurch oft der Polizei in die Hände. So
nahm denn bald die ganze Kampfgruppenbewegung ein ruhmloses Ende. »Trotzdem muß
anerkannt werden«, schreibt Samoilow, »daß es in ihren Reihen nicht wenig ...
ehrlich der Sache der Revolution ergebene Genossen gab, mit Herzen rein wie
Kristall.«
Der ursprüngliche
Sinn der Kampforganisationen war gewesen, den aufständischen Massen eine
Führung zu geben, sie im Gebrauch der Waffen zu unterrichten und ihnen zu
zeigen, wie man den Feind an den empfindlichsten Stellen treffen konnte. Der
bedeutendste, wenn nicht überhaupt der einzige Theoretiker auf diesem Gebiet
war Lenin. Nach der Niederwerfung des Dezemberaufstandes hieß das Problem: was
soll aus den Kampfgruppen werden? Lenin brachte auf dem Stockholmer Parteitag
eine Resolution ein, in der die Tätigkeit der Kampfgruppen als eine
zwangsläufige Fortsetzung des Dezemberaufstandes charakterisiert wurde, die der
Vorbereitung eines neuen Großkampfes gegen den Zarismus dienen sollte; die
Resolution billigte die sogenannten Expropriationen »unter der Kontrolle der
Partei«. Da aber ein Teil ihrer eigenen Leute nicht mit ihr einverstanden war,
zogen die Bolschewiki diese Resolution wieder zurück. Mit einer Mehrheit von 64
gegen vier Stimmen und bei zwanzig Stimmenthaltungen wurde die menschewistische
Resolution angenommen, die die »Expropriation« von Privatpersonen und
Privatunternehmen absolut untersagte und die die Beschlagnahme öffentlicher
Gelder nur in solchen Fällen guthieß, wo in der betreffenden Ortschaft
revolutionäre Machtorgane entstanden waren, das heißt, nur in direkter
Verbindung mit einem Volksaufstand. Die vierundzwanzig Delegierten, die gegen
diese Resolution stimmten oder sich der Stimme enthielten, bildeten die
unversöhnliche leninistische Hälfte der bolschewistischen Fraktion.
In einem
ausführlichen gedruckten Bericht über den Stockholmer Parteitag vermeidet
Lenin, diese Entschließung über die bewaffneten Aktionen zu erwähnen, mit der
Begründung, daß er bei der Diskussion dieser Frage nicht anwesend war.
»Außerdem hat diese Frage keine prinzipielle Bedeutung.« Es ist kaum
anzunehmen, das Lenins Abwesenheit ein Zufall war: er wollte sich nicht die
Hände binden. Ein Jahr später spielte sich dasselbe ab; auf dem Londoner
Parteitag war Lenin zwar in seiner Eigenschaft als Vorsitzender gezwungen, den
Debatten über die Enteignungen beizuwohnen, stimmte aber nicht mit ab, trotz
der wütenden Protestrufe, die von den menschewistischen
Bänken kamen. Die Londoner Resolution verbot kategorisch die Expropriationen
und ordnete die Auflösung der »Kampforganisationen« der Partei an.
Natürlich
ging es bei dieser Frage nicht um abstrakte Moral. Alle Klassen und alle
Parteien gehen an das Problem des Mordes nicht vom Standpunkt der biblischen
Gebote aus heran, sondern im Hinblick auf die historischen Interessen, die sie
vertreten. Als der Papst und seine Kardinäle die Waffen Francos segneten, hat
keiner der konservativen Staatsmänner vorgeschlagen, sie wegen Aufforderung zum
Mord ins Gefängnis zu schicken. Die Hüter der offiziellen Moral verdammen die
Gewalt, sobald es sich um revolutionäre Gewalt handelt. Im Gegensatz dazu kann
derjenige, der gegen die Klassenunterdrückung kämpft, nicht anders, als die
Revolution gutheißen. Wer die Revolution gutheißt, billigt auch den
Bürgerkrieg. Schließlich ist »der Guerillakrieg eine unvermeidliche Form des
Kampfes ... wenn zwischen den großen Schlachten eines Bürgerkriegs mehr oder
weniger lange Pausen eintreten« (Lenin). Von den allgemeinen Prinzipien des
Klassenkampfes aus gesehen, ist dies alles vollkommen selbstverständlich. Meinungsverschiedenheiten
darüber entstanden erst, als es sich um die Einschätzung der konkreten
historischen Umstände handelte. Sind zwei große Kampfhandlungen im Bürgerkrieg
nur durch ein Intervall von zwei oder drei Monaten voneinander getrennt, so
wird die Pause mit Handstreichen gegen den Feind ausgefüllt sein. Erstreckt
sich die »Lücke« aber über mehrere Jahre, dann hört der Guerillakrieg auf, die
Vorbereitung einer neuen Kampfperiode zu sein, und ist kaum mehr als ein die
Niederlage überdauerndes krampfartiges Zucken. Es ist gewiß nicht leicht, mit
Genauigkeit zu bestimmen, wo das eine aufhört und das andere anfängt.
Die Frage
der Enteignungen war mit der des Wahlboykotts eng verbunden. Eine
repräsentative Körperschaft kann man nur dann boykottieren, wenn die
Massenbewegung schon stark genug ist, um sie hinwegzufegen oder einfach über
sie hinauszugehen. Wenn die Massenbewegung aber im Rückzug begriffen ist,
verliert die Boykott-Taktik allen revolutionären Sinn. Lenin hat das besser
begriffen und erklärt als irgendein anderer. Schon 1906 war er gegen den
Boykott der Duma. Nach dem Staatsstreich vom 3. Juni 1907 führte er einen
entschiedenen Kampf gegen die Boykottisten, eben weil nach der Flut die Ebbe
eingetreten war. Es war klar, daß nunmehr, wo es sich darum
handelte, die Arena des zaristischen »Parlamentarismus« dazu zu benützen, den
Boden für eine neue Mobilmachung der Massen vorzubereiten, der Guerillakrieg
reiner Anarchismus geworden war. Im Feuer des Bürgerkrieges hatte die
Guerillatätigkeit die Bewegung der Massen angefacht und erweitert, in der
Periode der Reaktion versuchte sie, die Massenbewegung zu ersetzen, führte in
der Tat aber nur dazu, die Partei bloßzustellen und ihren Verfall zu
beschleunigen. Olminsky, einer der schätzenswertesten Kampfgefährten Lenins,
schrieb, aus der Sowjetzeit heraus die damalige Periode der Reaktion kritisch
beleuchtend: »Zahlreiche ausgezeichnete junge Genossen sind dem Galgen zum
Opfer gefallen, andere sind völlig verkommen, viele haben den Glauben an die
Revolution verloren. Und die Öffentlichkeit stellte schließlich die
Revolutionäre mit gewöhnlichen Banditen auf die gleiche Stufe. Als später die
revolutionäre Arbeiterbewegung von neuem zu erwachen begann, erfolgte das
Wiederaufleben dort am langsamsten, wo die ›Ex‹ am zahlreichsten gewesen waren.
(Ich denke beispielsweise an Baku und Saratow.)« Merken wir uns, daß Baku
besonders erwähnt wird.
Die
Gesamtsumme der revolutionären Aktivität Kobas in den Jahren der ersten
Revolution scheint so niedrig, daß man sich nolens volens fragt: war das alles?
In dem Wirbel der Ereignisse, die an ihm vorüberfluteten, muß Koba
unzweifelhaft nach Möglichkeiten gesucht haben, die ihm Gelegenheit boten zu
zeigen, was er wert sei. Daß Koba an Terrorakten und Expropriationen beteiligt war,
steht fest. Es ist aber nicht einfach, die Art dieser Beteiligung zu bestimmen.
»Der
Inspirator und oberste Leiter ... der Kampfgruppen«, schreibt Spiridowitsch,
»war Lenin selbst; zuverlässige Freunde standen ihm dabei zur Seite.« Wer waren
sie? Der ehemalige Bolschewik Alexinsky, der sich nach Kriegsausbruch in
Enthüllungen über den Bolschewismus spezialisierte, schrieb in der
Auslandspresse, im Schoße des Zentralkomitees bestände noch »ein Sonderkomitee,
das nicht nur vor den Augen der Polizei, sondern auch vor denen der
Parteimitglieder selbst verborgen gehalten wird. Dieses kleine Komitee setzt
sich aus Lenin, Krassin und einer dritten Person zusammen ... und befaßt sich
besonders mit den Parteifinanzen«. Was für Alexinsky die Organisierung von Expropriationen
bedeutete. Die ungenannte dritte »Person« war der Naturwissenschaftler, Arzt,
Theoretiker der politischen Ökonomie und Philosoph
Bogdanow, den wir schon kennen. Alexinsky hätte keinen Grund gehabt, über eine
Teilnahme Stalins an den Operationen der Kampfgruppen zu schweigen. Wenn er
darüber nichts sagt, so heißt das, daß er darüber nichts weiß. Alexinsky hatte
in jenen Jahren nicht nur dem bolschewistischen Zentralkomitee nahegestanden,
sondern war auch mit Stalin zusammengetroffen. Im allgemeinen sagt der dunkle
Ehrenmann mehr, als er weiß.
Von Krassin
heißt es in den Anmerkungen zu Lenins Gesammelten Werken: »(Er) leitete das
Büro für die Kampforganisationen beim Zentralkomitee.« Die Krupskaja ihrerseits
schreibt: »Die Parteimitglieder kennen jetzt die bedeutende Arbeit, die Krassin
zur Zeit der Revolution von 1905 leistete, um die Bojewiki mit Waffen zu
versorgen, die Herstellung von Sprengstoff zu überwachen und so weiter. Das
alles wurde auf konspirative Weise getan und nicht an die große Glocke gehängt,
aber ein gewaltiges Maß von Energie wurde darauf verwendet. Niemand kannte
diese Arbeit Krassins besser als Wladimir Iljitsch, und er hat von da an
Krassin immer sehr hoch geschätzt.« Woitinsky, ein während der ersten
Revolution sehr bekannt gewordener Bolschewik, schreibt: »Ich habe den Eindruck
gehabt, daß Nikitsch (Krassin) der einzige Mann in der bolschewistischen
Fraktion war, dem Lenin mit echtem Respekt und vollem Vertrauen begegnete.«
Zwar stimmt es, daß Krassin seine Tätigkeit vor allem auf Petersburg
konzentrierte. Wenn Koba aber im Kaukasus mit Operationen der gleichen Art
beschäftigt gewesen wäre, so müßten das Krassin, Lenin und die Krupskaja gewußt
haben. Die Krupskaja, die, um ihre Loyalität zu beweisen, Stalins Namen so oft
wie möglich zu nennen sucht, sagt kein Wort über seine Rolle in den
Kampforganisationen der Partei.
Am 3. Juli
1938 berichtete die Moskauer »Prawda« recht unerwarteterweise, daß »der
beispiellos mächtige revolutionäre Aufschwung im Kaukasus« im Jahre 1905 verbunden
war mit »der Führung der kämpferischsten Organisationen der Partei, die dort
zum erstenmal direkt vom Genossen Stalin geschaffen worden sind«. Doch bezieht
sich diese völlig vereinzelt dastehende Erwähnung einer Teilnahme Stalins an
den »kämpferischen Organisationen« auf Anfang 1905, auf eine Zeit also, wo die
Frage der Expropriationen noch nicht aufgetaucht war; außerdem sagt sie nichts
über Kobas tatsächliche Rolle. Schließlich ist sie überhaupt äußerst
zweifelhaft, denn bolschewistische Organisationen entstanden
in Tiflis erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1905.
Sehen wir
zu, was Iremaschwili darüber zu sagen hat. Mit tiefem Abscheu von den »Ex« und
den Terrorakten überhaupt sprechend, erklärt er: »Koba war der Anstifter dieser
Verbrechen, die von den Bolschewiki in Georgien begangen worden sind und die
der Reaktion die Bälle zuspielten.« Nach dem Tode seiner Frau, als Koba seine
»letzten warmen Gefühle allen Menschenwesen gegenüber« verloren hatte, wurde er
»ein fanatischer Verteidiger und Organisator ... des verabscheuungswürdigen
systematischen Mordes an Fürsten, Priestern und Bürgern«. Nun haben wir schon
Gelegenheit gehabt zu bemerken, daß die Bekundungen Iremaschwilis um so
unzuverlässiger werden, je weniger sie das private und je mehr sie das politische
Gebiet betreffen und je mehr sie sich von der Zeit der Kindheit entfernen und
sich dem reiferen Alter nähern. Das politische Band zwischen den beiden
Jugendfreunden war mit dem Beginn der ersten Revolution zerrissen. Es war
reiner Zufall, daß Iremaschwili am 17. Oktober, dem Tag, an dem das
Verfassungsmanifest veröffentlicht wurde, Koba in Tiflis von einer gußeisernen
Laterne aus eine Ansprache halten gesehen hatte, nur gesehen, nicht gehört – an
diesem Tage erkletterte alle Welt die Laternenpfähle. Auch konnte Iremaschwili
als Menschewik von Koba als Terroristen nur aus zweiter oder dritter Hand
wissen. Seine Aussagen müssen also mit Vorsicht aufgenommen werden. Zwei
Beispiele wollen wir anführen: die bekannte Expropriation von Tiflis im Jahre 1907,
die wir später behandeln werden, und die Ermordung des georgischen
Nationalschriftstellers, des Prinzen Tschawtschawadse. Über die Expropriation,
die er irrtümlicherweise in das Jahr 1905 verlegt, bemerkt Iremaschwili: »Auch
bei dieser Gelegenheit gelang es Koba wieder, die Polizei zu täuschen; sie
hatte nicht einmal genügend Beweismaterial in der Hand, um darauf zu kommen,
daß er der Anstifter dieses grausamen Attentats gewesen war. Doch aus der
Sozialdemokratischen Partei Georgiens wurde Koba diesmal offiziell
ausgeschlossen.« Für die Teilnahme Stalins an der Ermordung des Prinzen
Tschawtschawadse bringt Iremaschwili seinerseits kein Beweismaterial, sondern
beschränkt sich auf die nichtssagende Bemerkung: »Indirekt trat Koba auch für
den Mord ein; dieser haßerfüllte Hetzer war der Anstifter zu allen Verbrechen.«
Iremaschwilis Erinnerungen interessieren uns hier nur insoweit, als sie für den Ruf bezeichnend sind, den sich Koba inzwischen bei
seinen politischen Gegnern erworben hatte.
Der gut
informierte Verfasser eines in einer deutschen Zeitung erschienenen Artikels
(Mannheimer »Volksstimme« vom 2. September 1932), wahrscheinlich ein
georgischer Menschewik, weist darauf hin, daß sowohl Freunde wie Feinde Kobas
terroristische Abenteuer stark übertrieben haben. »Es ist richtig, daß Stalin
in hohem Maße die Fähigkeit und auch die Neigung dazu besaß, Attentate dieser
Art zu organisieren ... Jedoch beschränkte er sich meistens darauf, die Rolle
der treibenden Kraft, des Organisators und Leiters, zu spielen, ohne direkt
daran teilzunehmen.« Es entspricht also durchaus nicht den Tatsachen, wenn
gewisse Biographen ihn als »mit Bomben und Revolvern herumlaufend und ständig
in die gefährlichsten Abenteuergeschichten verwickelt« schildern. Auch die
Darstellung, die von der direkten Teilnahme Kobas an der Ermordung des Generals
Griatznow, des Militärdiktators von Tiflis, am 17. Januar 1906, gegeben worden
ist, scheint reine Erfindung zu sein. »Diese Handlung wurde auf Grund eines
Beschlusses der Sozialdemokratischen Partei Georgiens (Menschewiki) von einer
für diesen Zweck besonders zusammengestellten Terrorgruppe ausgeführt. Stalin
hatte wie alle anderen Bolschewiki in Georgien überhaupt keinen Einfluß und hat
weder direkt noch indirekt mit dieser Angelegenheit etwas zu tun gehabt.« Die
Aussage dieses anonymen Verfassers verdient alle Beachtung. Leider ist ihre
positive Seite recht unbedeutend: nachdem er Stalin »die Fähigkeit und die
Neigung« zu Expropriationen und Attentaten zugeschrieben hat, versäumt der
Verfasser, diese Charakteristiken auf irgendwelche Daten zu stützen.
Ein alter
georgischer bolschewistischer Terrorist, Kote Tsindsadse, ein ernsthafter und
zuverlässiger Zeuge, erzählt, daß Stalin, empört über die Langsamkeit, mit der
die Menschewiki die Vollstreckung des Todesurteils an General Griatznow
vorbereiteten, ihm vorschlug, für diese Sache eine Gruppe aus den eigenen
Reihen zu bilden. Inzwischen war es den Menschewiki aber gelungen, diese
Aufgabe selbst zu lösen. Weiter spricht Tsindsadse davon, wie ihm im Jahre 1906
die Idee kam, eine Kampfgruppe aus Bolschewiki zu bilden, um die Staatsbanken
auszuplündern. »Unsere führenden Genossen, besonders Koba-Stalin, befürworteten
meine Initiative.« Das ist von doppeltem Interesse. Erstens einmal sagt
Tsindsadse, daß er Koba für einen »führenden Genossen«
hielt, das heißt für einen örtlichen Führer; zweitens erlaubt es die
Schlußfolgerung, daß Koba auf dem Gebiete des Terrors nicht weiter ging, als
die Anregungen, die von anderen kamen, gutzuheißen. (Vermerken wir, daß Kote
Tsindsadse 1931 in der Verbannung umgekommen ist, in die er von dem »führenden
Genossen Koba-Stalin« geschickt worden war.)
Gegen den
offenen Widerstand des menschewistischen Zentralkomitees, aber mit der aktiven
Unterstützung Lenins, gelang es den Kampfgruppen der Partei, im November 1906
in Tammerfors eine eigene Konferenz abzuhalten. Unter den führenden Teilnehmern
an dieser Konferenz finden wir die Namen derjenigen Revolutionäre, die später
in der Partei eine hervorragende oder bemerkenswerte Rolle spielten, wie
Krassin, Jaroslawski, Semljatschka, Lelajanz, Trillisser und andere. Stalin ist
nicht unter ihnen, obwohl er sich zu jener Zeit in Tiflis in Freiheit befand.
Man kann ihm zugute halten, daß er sich aus konspirativen Erwägungen heraus nicht
auf die Konferenz begeben hat. Immerhin, Krassin, der in der Tat an der Spitze
der Kampforganisationen stand und der infolge seines Rufes als bedeutender
Ingenieur ein weitaus größeres Risiko als sonst irgend jemand einging, spielte
auf der Konferenz eine führende Rolle.
Am 18. März
1918, das heißt also einige Monate nach Errichtung der Sowjetmacht, schrieb der
Führer der Menschewiki, Julius Martow, in einer Moskauer Zeitung: »Daß die
kaukasischen Bolschewiki bei allen möglichen dreisten Unternehmungen in der Art
Expropriationen ihre Hand im Spiel hatten, sollte doch gerade diesem Bürger
Stalin sehr gut bekannt sein, der seinerzeit wegen einer Expropriationsaffäre
aus der Partei ausgeschlossen wurde.« Stalin hielt es für notwendig, Martow vor
ein Revolutionstribunal zu zitieren: »Ich habe niemals«, sagte er in dem mit
Zuhörern angefüllten Saal, »vor einem Parteigericht gestanden und bin niemals
ausgeschlossen worden. Das ist eine unverschämte Verleumdung.« Aber über die
Expropriationen sagte Stalin nichts. »Anschuldigungen, wie sie hier von Martow
vorgebracht werden, kann man nur erheben, wenn man Beweise in der Hand hat. Es
ist unehrenhaft, jemand mit Schmutz zu bewerfen, sich dabei nur auf Gerüchte
stützend und ohne Tatsachen zu bringen.« Was war der eigentliche politische
Grund dafür, daß Stalin sich so aufregte? Daß die Bolschewiki als solche an
Enteignungsaktionen teilgenommen hatten, war kein Geheimnis: Lenin hatte die
Expropriationen öffentlich in der Presse verteidigt. Andererseits
konnte der Ausschluß aus einer menschewistischen Organisation von einem
Bolschewiken schwerlich als unehrenhaft angesehen werden, noch dazu zehn Jahre
später. Stalin konnte also keinen Grund haben, Martows »Anschuldigungen« zu
leugnen, wenn sie der Wirklichkeit entsprachen. Einen so klugen und gewandten
Gegner vor die Schranken des Gerichts zu fordern, hätte obendrein heißen
können, ihm einen Sieg zu sichern. Bedeutet das, daß Martows Anklagen falsch
waren? Von seinem Publizistentemperament hingerissen und getrieben vom Haß
gegen die Bolschewiki, hat Martow mehr als einmal die Grenzen überschritten, in
denen ihn die unbestrittene Vornehmheit seines Charakters hätte halten müssen.
Hier aber handelte es sich um ein Verfahren vor dem Revolutionstribunal. Martow
hielt kategorisch an seinen Aussagen fest. Er verlangte die Einvernahme von
Zeugen: »Da ist zuerst einmal Isidor Ramischwili, eine der Öffentlichkeit
wohlbekannte georgische sozialdemokratische Gestalt, der Vorsitzender des
revolutionären Tribunals war, das die Beteiligung Stalins an der Expropriation
auf dem Dampfschiff ›Nikolaus der Erste‹ in Baku festgestellt hat; ferner Noah
Jordania, der Bolschewik Schaomyan und andere Mitglieder des transkaukasischen
Distriktkomitees in den Jahren 1907 und 1908. Zweitens ist da eine Gruppe von
Zeugen mit Gukowsky an der Spitze, dem gegenwärtigen Volkskommissar für
Finanzen, unter dessen Vorsitz der Mordversuch an dem Arbeiter Jarinow
untersucht wurde; Jarinow hatte vor der Parteiorganisation das Komitee und
dessen Leiter Stalin angeklagt, an Expropriationen teilgenommen zu haben.« In
seiner Erwiderung ging Stalin mit keinem Wort weder auf die
Dampferexpropriation noch auf den Anschlag gegen Jarinow ein, behauptete aber
nach wie vor: »Ich bin nie vor das Parteigericht gestellt worden. Wenn Martow
das sagt, ist er ein unverschämter Verleumder.«
In strikt
juristischem Sinne war ein Ausschluß von »Expropriateuren« gar nicht möglich,
traten diese doch klugerweise stets vorher aus der Partei aus. Dagegen konnte
entschieden werden, sie später nicht wieder in die Partei aufzunehmen. Ein
tatsächlicher Ausschluß konnte nur denjenigen drohen, die eine Expropriation
geleitet hatten, dabei aber Mitglieder der Partei geblieben waren. Direkte
Beweise gab es gegen Koba offensichtlich nicht. Deshalb dürfte Martow wohl bis
zu einem gewissen Grade im Recht gewesen sein, wenn er behauptete, es sei so gewesen, daß Stalin »im Prinzip« ausgeschlossen worden wäre.
Aber Stalin hatte ebenfalls recht: persönlich war er nicht vor dem
Parteigericht erschienen. Es war für das Gericht nicht leicht, sich in dieser
ganzen Angelegenheit zurechtzufinden, besonders da keine Zeugen anwesend waren.
Stalin widersetzte sich der Vorladung von Zeugen, indem er sich auf die
Schwierigkeit und Unsicherheit der Verkehrs Verbindungen mit dem Kaukasus in
jenen kritischen Tagen berief. Das Revolutionstribunal ging der Sache nicht auf
den Grund, sondern erklärte, daß Pressevergehen nicht zu seinem Ressort
gehörten, und erteilte Martow eine »öffentliche Rüge« wegen Beleidigung der
Sowjetregierung (der »Regierung Lenin-Trotzky«, wie es in dem Bericht einer
menschewistischen Zeitung über den Prozeß ironisch heißt). Beunruhigend bleibt
die Erwähnung des Mordversuchs an dem Arbeiter Jarinow, der gegen die
Expropriationen protestiert hatte. Näheres ist über diese Episode nicht
bekannt, doch läßt sie für die Zukunft nichts Gutes ahnen.
Der
Menschewik Dan schrieb 1925, daß solche »Expropriateure« wie Ordschonikidse und
Stalin im Kaukasus die bolschewistische Fraktion mit Geldmitteln versehen
hätten, doch handelt es sich hier nur um eine Wiederholung dessen, was schon
Martow gesagt hatte, und stammt zweifellos aus derselben Quelle. Keiner hat
sich bemüht, Tatsachen beizubringen. Indes hat es nicht an Versuchen gefehlt,
den Schleier über dieser romantischen Periode im Leben Kobas zu lüften. Mit der
ihm eigenen unterwürfigen Dreistigkeit hat Emil Ludwig im Kreml Stalin gebeten,
ihm »irgend etwas« von seinen Jugendabenteuern zu erzählen, zum Beispiel einen
Banküberfall. An Stelle einer Antwort überreichte Stalin seinem wißbegierigen
Gesprächspartner eine kleine Broschüre mit seiner Biographie, in der »alles«
gesagt sei – sie enthielt kein Wort über Banküberfälle.
Stalin
selbst hat nie und nirgendwo auch nur ein einziges Wort über seine Abenteuer in
der Bojewikenzeit geäußert. Warum, ist schwer zu sagen. Durch autobiographische
Bescheidenheit hat er sich bisher nicht ausgezeichnet. Will er etwas nicht
selbst sagen, befiehlt er anderen, es zu sagen. Vom Augenblick seines
schwindelerregenden Aufstiegs an mag er sich durch »Prestige«rücksichten haben
leiten lassen. Doch in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution waren ihm
solche Rücksichten noch gänzlich fremd. Von Seiten der alten Bojewiki ist
nichts über diesen Punkt in die Presse gedrungen, obwohl doch Stalin in jenen Jahren die Veröffentlichung von Lebenserinnerungen
weder kontrollieren noch sonst irgendwie beeinflussen konnte. Sein Ruf als
Organisator von Terroraktionen wird von keinem Dokument bestätigt. Weder von
den Suchlisten der Polizei noch von den Aussagen der Verräter und Überläufer.
Sicher, Stalin hält seine Hand auf den Polizeiarchiven. Doch wenn diese Archive
irgendwelche konkreten Angaben über Dschugaschwili als »Expropriateur«
enthalten würden, so wären die Strafen, zu denen er später verurteilt worden
ist, unvergleichlich strenger ausgefallen.
Von allen
Hypothesen besitzt nur eine Wahrscheinlichkeit. »Stalin erwähnt nicht und
erlaubt anderen nicht, Terrorakte zu erwähnen, in deren Zusammenhang sein Name
in dieser oder jener Art und Weise genannt worden ist«, schreibt Souvarine,
»denn es würde sich zweifellos herausstellen, daß diese Handlungen von anderen
ausgeführt worden sind und er sie nur aus der Ferne geleitet hat.« Gleichzeitig
ist es durchaus möglich – und mit Kobas Charakter vereinbar – daß er sich
überall, wo ihm das angebracht schien, hier etwas verschweigend, dort etwas
übertreibend, in vorsichtiger Form Verdienste zuschrieb, die er gar nicht
hatte. Irgend etwas nachzuprüfen war unter den konspirativen Bedingungen
unmöglich. Daher später sein mangelndes Interesse, Einzelheiten aufzuhellen.
Auf der anderen Seite erwähnen ihn die wirklichen Teilnehmer an den
Expropriationen und die, die ihn nahe kannten, in ihren Erinnerungen lediglich
deshalb nicht, weil sie nichts über ihn zu sagen haben. Geschlagen haben sich
andere – Stalin hat aus sicherer Entfernung kontrolliert.
Über den
Londoner Parteitag hatte Iwanowitsch in seinem illegalen Bakuer Blatt
geschrieben: »Von den menschewistischen Resolutionen wurde nur die Resolution
über die Tätigkeit der Partisanen angenommen und auch das nur durch Zufall; die
Bolschewiki wichen diesmal dem Kampf aus, oder besser, wollten ihn nicht auf
die Spitze treiben, einfach deshalb, damit die Menschewiki wenigstens auch
einmal einen Grund zur Freude hatten.«
Eine
reichlich alberne Erklärung: den Menschewiki »auch einmal einen Grund zur
Freude« zu verschaffen, solche philanthropischen Bemühungen figurierten nicht
unter Lenins politischen Gepflogenheiten. In Wirklichkeit waren die Bolschewiki
»dem Kampf ausgewichen«, weil sie in dieser Frage nicht nur die Menschewiki
gegen sich hatten, sondern auch die Bundisten und die
Letten und vor allem die ihnen am nächsten stehenden Polen. Darüber hinaus gab
es unter den Bolschewiki selbst heftige Meinungsverschiedenheiten über die
Frage der Expropriationen. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß der Verfasser
einfach seinen Mund zu voll genommen hätte, ohne dabei einen besonderen Zweck
im Auge zu haben. Er hielt es vielmehr für notwendig, vor den »Bojewiki« diese
Entscheidung des Parteitags, die ihrer Tätigkeit Grenzen zog, herabzusetzen.
Das macht seine Erklärung natürlich nicht weniger sinnlos; aber so geht Stalin
vor: immer, wenn er glaubt, sein Ziel verschleiern zu müssen, zögert er nicht,
zu den unlautersten Tricks zu greifen. Und nicht selten erreichte er gerade
durch die unverhüllte Oberflächlichkeit seiner Argumente den gestellten Zweck,
von der Notwendigkeit, nach tiefer liegenden Motiven zu suchen, befreit zu
sein. Ein ernsthaftes Parteimitglied konnte nur resigniert die Achseln zucken,
wenn es vernahm, daß Lenin dem Kampf ausgewichen sei, um den Menschewiki auch
einmal eine Freude zu machen. Der einfache Kampfgruppenmann hingegen mußte nur
zu gern hören, daß die Entschließung gegen die Terroraktionen »nur durch Zufall«
zustande gekommen sei und nicht ernst genommen werden brauchte. Für die nächste
Aktion genügte das.
Am 12. Juni
1907, um 10 Uhr 45 morgens, fand auf dem Eriwan-Platz in Tiflis ein in seiner
Kühnheit außergewöhnlicher bewaffneter Überfall auf eine Kosakenabteilung
statt, die einen Geldtransport begleitete. Die Operation wickelte sich mit der
Präzision eines Uhrwerks ab. In genau vorausberechneten Zeitabständen wurden
mehrere Bomben von außerordentlicher Explosivkraft geworfen. Zahlreiche
Revolverschüsse wurden abgegeben. Der Geldsack – 34 000 Rubel – verschwand
mit den Revolutionären. Nicht ein einziger »Bojewik« wurde von der Polizei
gefaßt. Drei Angehörige der Begleitmannschaft wurden getötet, über fünfzig
Personen wurden verwundet, davon die meisten nur leicht. Der Leiter des
Unternehmens, der Offiziersuniform trug, stand mitten auf dem Platze, behielt
alle Bewegungen der Begleitmannschaft und der Bojewiki im Auge und war schon
vor dem Angriff bemüht, mit geschickten Zurufen die Neugierigen fernzuhalten,
um unnötige Opfer zu vermeiden. In einem kritischen Augenblick, als schon alles
verloren schien, nahm der Pseudo-Offizier mit erstaunlicher Gelassenheit den
Geldsack an sich; er versteckte ihn vorübergehend unter dem Sofa des Direktors
vom Observatorium, dem gleichen Direktor, bei dem der junge
Koba seinerzeit als Buchhalter gearbeitet hatte. Der Pseudo-Offizier war der
armenische Bojewik Petrossjan, »Kamo« genannt.
Er war Ende
des vorigen Jahrhunderts nach Tiflis gekommen und revolutionären Propagandisten
– unter ihnen Koba – in die Hände gefallen; Petrossjan verstand kaum Russisch.
Eines Tages richtete er an Koba die Frage: »Kamo« – anstatt wie es in korrektem
Russisch heißt, Komu, zu wem – »zu wem soll das gebracht werden?« Koba machte
sich über ihn lustig: »Was heißt Kamo, Kamo!« Aus dem etwas geschmacklosen Witz
entstand ein revolutionäres Pseudonym, das in die Geschichte eingehen sollte.
So erzählt es die Medwedijewa, Kamos Witwe. Sie sagt sonst nichts über die
Beziehungen zwischen den beiden Männern. Dagegen spricht sie von Kamos
rührender Anhänglichkeit an Lenin, den er das erstemal 1906 in Finnland
besuchte. »Dieser Kämpfer von grenzenloser Kühnheit und unerschütterlicher
Willenskraft«, schreibt die Krupskaja, »war zugleich ein außerordentlich sensibler
Mensch, ein sehr zartfühlender, ein wenig naiver Genosse. Er hing
leidenschaftlich an Iljitsch, Krassin und Bogdanow ... Er befreundete sich mit
meiner Mutter, erzählte ihr von seiner Tante und seinen Schwestern. Kamo ging
oft von Finnland nach Petersburg; er trug immer seine Waffen bei sich, und
Mutter schnallte ihm jedesmal mit besonderer Sorgfalt die Revolver auf dem
Rücken fest.« Das ist um so erstaunlicher, als die Mutter der Krupskaja die
Witwe eines zaristischen Beamten war, die erst in hohem Alter mit der Religion
brach.
Kurz vor der
Tifliser Expropriation traf Kamo zu einem neuen Besuch beim Generalstab in
Finnland ein. »Als Offizier verkleidet«, schreibt die Medwedijewa, »ging Kamo
nach Finnland, besuchte Lenin und kam mit Waffen und Sprengstoff nach Tiflis
zurück.« Diese Reise hat entweder unmittelbar vor Beginn des Londoner
Parteitags oder kurz danach stattgefunden. Der Sprengstoff stammte aus Krassins
Laboratorium. Chemiker von Beruf, hatte Leonid schon als Student von Bomben in
der Größe einer Nuß geträumt. Das Jahr 1905 gab ihm die Möglichkeit, seine
Experimente in dieser Richtung auszubauen. Die ideale Dimension einer Nuß haben
seine Bomben zwar nie erreicht, aber in den Laboratorien, die unter seiner
Leitung arbeiteten, wurden Bomben von größter Explosivkraft hergestellt. Auf
dem Eriwan-Platz in Tiflis haben die Bojewiki diese Bomben nicht zum erstenmal
ausprobiert.
Nach der Expropriation tauchte Kamo in Berlin auf.
Dort wurde er auf eine Denunziation des Spitzels Schitomirski hin, der eine
hohe Stellung in der Auslandsorganisation der Bolschewiki einnahm, verhaftet.
Bei der Verhaftung entdeckte die preußische Polizei einen Koffer, in dem sich
offenbar Bomben und Revolver befanden. Den Berichten der Menschewiki nach (die
Untersuchung führte der spätere Diplomat Tschitscherin), waren die Waffen für
einen Überfall auf das Bankhaus Mendelssohn in Berlin bestimmt gewesen. »Das
ist nicht richtig«, erklärt der gut informierte Bolschewik Pjatnitzki, »es hat
sich um Dynamit gehandelt, das im Kaukasus verwendet werden sollte.« Lassen wir
die Frage offen, wofür das Dynamit bestimmt war. Kamo blieb über anderthalb
Jahre in einem deutschen Gefängnis, wo er, wie ihm Krassin geraten hatte, die
ganze Zeit hindurch eine schwere Geisteskrankheit simulierte. Als »unheilbar«
wurde er an Rußland ausgeliefert und brachte abermals anderthalb Jahre im
Metechgefängnis in Tiflis zu, wo er den schwierigsten Prüfungen unterworfen
wurde. Schließlich wurde er endgültig für unheilbar geisteskrank erklärt und in
eine Irrenanstalt übergeführt, aus der er entwich. »Dann reist er, illegal, im
Kielraum eines Schiffes versteckt, nach Paris, um Iljitsch zu besuchen.« Das
war im Jahre 1911. Kamo litt sehr unter der Spaltung zwischen Lenin einerseits
und Krassin und Bogdanow andererseits. »Er war ihnen allen dreien tief
zugetan«, wiederholt die Krupskaja. Folgt eine Idylle: Kamo bittet, man möchte
ihm Mandeln bringen; er setzt sich in die Küche, die als Salon diente, ißt
seine Mandeln wie im heimatlichen Kaukasus und erzählt von den schrecklichen
Jahren, von den Tobsuchtsanfällen, die er simulierte, von dem Sperling, den er
im Gefängnis gezähmt hatte. »Iljitsch hörte zu, tiefes Mitleid ergriff ihn mit
diesem Menschen von schrankenloser Kühnheit, der, heißen Herzens und naiv wie
ein Kind, zu den schwierigsten Aufgaben bereit, nun nach seiner Flucht aber
nicht wußte, was er anfangen sollte.«
Kamo wurde
später in Rußland von neuem verhaftet und zum Tode verurteilt. Der Zarenerlaß
von 1913, anläßlich des dreihundertjährigen Bestehens der Dynastie Romanow,
setzte unerwarteterweise lebenslängliche Zwangsarbeit an Stelle des Galgens.
Vier Jahre später brachte die Februarrevolution, wieder unerwarteterweise, die
Befreiung. Die Oktoberrevolution brachte die Bolschewiki an die Macht. Kamo stieß
sie aus seinem Lebensgleise – einem mächtigen Fisch gleich, den man auf den
Strand geworfen hat. Während des Bürgerkrieges habe ich
versucht, ihn zum Partisanenkampf hinter den feindlichen Linien heranzuziehen,
aber Betätigung auf dem Schlachtfeld lag ihm offenbar nicht. Die fürchterlichen
Jahre, die er durchgemacht hatte, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
Die neuen Verhältnisse erstickten ihn. Er hatte nicht seines und seiner
Kameraden Leben Dutzende von Malen aufs Spiel gesetzt, um wohlbestallter
Beamter zu werden. Eine andere legendäre Figur, Kote Tsindsadse, ist, von
Stalin in die Verbannung geschickt, an Tuberkulose zugrunde gegangen. Ein
ähnliches Schicksal wäre auch Kamo beschieden gewesen, hätte ihn nicht im
Sommer 1922 in einer Straße in Tiflis ein Automobil überfahren. Wahrscheinlich
saß in diesem Automobil ein Mitglied der neuen Bürokratie. Es war zur
Dämmerstunde, Kamo war auf dem Fahrrad unterwegs – er hatte keine Karriere
gemacht. Er ist auf symbolische Weise umgekommen.
Souvarine
spricht im Zusammenhang mit Kamo geringschätzig von der »unzeitgemäßen Mystik«,
die sich mit dem Rationalismus fortgeschrittener Länder nicht vertrage. In
Wirklichkeit aber haben gewisse Züge des revolutionären Typus – der in den
Ländern »westlicher Zivilisation« noch lange nicht verschwunden ist – in Kamo
nur ihren besonders betonten Ausdruck gefunden. Der Mangel an revolutionärem
Geist in der europäischen Arbeiterbewegung hat schon in einer Reihe von Ländern
dem Faschismus zum Siege verholfen, in dem die »unzeitgemäße Mystik« – hier ist
das Wort am Platze! – ihren abstoßendsten Ausdruck findet. Der Kampf gegen die
faschistische Tyrannei wird unweigerlich den revolutionären Kämpfern im Westen
jene Züge aufprägen, die den skeptischen Philister in der Figur Kamos so
erstaunen machen. In seiner »Eisernen Ferse« prophezeit Jack London ein ganzes
Zeitalter von amerikanischen Kamos im Dienste des Sozialismus. Der historische
Prozeß ist sehr viel verwickelter, als ein oberflächlicher Rationalist glauben
möchte.
Die persönliche
Teilnahme Kobas an der Tifliser Expropriation wurde in der Partei lange Zeit
hindurch nicht in Zweifel gestellt. Der ehemalige Sowjetdiplomat Bessedowsky,
der in zweit- und drittrangigen Bürokratensalons die verschiedensten
Geschichten erzählen gehört hat, meint, daß Stalin, »in Übereinstimmung mit
Lenins Instruktionen«, nicht direkt an der Expropriation beteiligt war, daß er
sich aber »später gerühmt habe, er sei es gewesen, der den Aktionsplan bis in
die kleinsten Einzelheiten ausgearbeitet habe, und er habe
eigenhändig die erste Bombe vom Dach des Fürst-Sumbatowschen Hauses geworfen«.
Es ist schwer zu entscheiden, ob es wirklich Stalin war, der sich gelegentlich
solcher Dinge gerühmt hat, oder ob sich nur Bessedowsky seiner Informationen
rühmen will. Auf alle Fälle hat in der Sowjetzeit Stalin solche Gerüchte nicht
bestätigt, aber dementiert hat er sie ebenfalls nicht. Er hatte offenbar nichts
dagegen, daß sich die tragische Romantik der Expropriationen im Bewußtsein der
Jugend mit seinem Namen verband. Ich für meinen Teil zweifelte noch 1932 nicht
daran, daß Stalin bei dem Überfall auf dem Eriwan-Platz eine führende Rolle
gespielt habe, und habe das auch in einem meiner Artikel nebenbei erwähnt.
Inzwischen veranlaßt mich aber ein genaueres Studium der ganzen
Begleitumstände, die traditionelle Ansicht zu revidieren.
In einer dem
XII. Bande der Gesammelten Werke Lenins beigegebenen Zeittafel lesen wir unter
dem Datum des 12. Juni 1907: »Expropriation von Tiflis (341 000 Rubel),
organisiert von Kamo-Petrossjan.« Und das ist alles. In einem Krassin
gewidmeten Sammelwerk, in dem viel von der berühmten Geheimdruckerei im
Kaukasus und von den Kampfabteilungen der Partei die Rede ist, wird Stalin
nicht einmal erwähnt. Ein ehemaliger Bojewik, der über die Vorgänge in dieser
Zeit gut unterrichtet ist, schreibt: »Die Pläne für die Expropriationen in den
Verwaltungsgebäuden von Kwirili und Douchet und die auf dem Eriwanplatz, die
der letztere (Kamo) organisiert hatte, sind von ihm zusammen mit Nikititsch
(Krassin) vorbereitet und ausgearbeitet worden.« Von Stalin kein Wort. Ein
anderer früherer Bojewik schreibt: »Expropriationen wie die von Tiflis und
anderswo wurden unter der direkten Leitung von Leonid Borissowitsch (Krassin)
durchgeführt.« Wiederum nichts über Stalin. Noch ist Stalin in dem Buch von
Bibineschwili erwähnt, in dem alle Einzelheiten über die Vorbereitung und
Durchführung der Expropriationen zusammengetragen worden sind. Daraus folgt,
daß Koba nicht in direkter Verbindung mit den Mitgliedern der Kampfgruppen
gestanden hat, daß er ihnen keinerlei Anweisungen erteilt hat, daß er
infolgedessen auch nicht der Organisator im eigentlichen Sinne des Wortes
gewesen ist, geschweige denn an den Kampfhandlungen teilgenommen hat.
Der Londoner
Parteitag ging am 27. April zu Ende. Die Tifliser Expropriation fand am 12.
Juni statt, einundeinenhalben Monat später. Zwischen seiner Rückkehr aus dem
Ausland und dem Tage der Expropriation blieb Stalin viel zu
wenig Zeit, um die Vorbereitung eines so schwierigen Unternehmens zu leiten.
Sicherlich hatten die Bojewiki schon vorher Muße gehabt, unter sich die
notwendige Auswahl zu treffen und sich gelegentlich anderer gefährlicher
Unternehmungen aufeinander einzuspielen. Möglicherweise warteten sie die
Entscheidung des Parteitags ab. Vielleicht waren einige im Zweifel darüber,
welche Stellung Lenin in der Frage der Expropriationen einnehmen würde. Sie
warteten auf das Signal. Vielleicht hat Stalin das Signal gegeben. Aber ging
seine Teilnahme weiter?
Von den
Beziehungen zwischen Kamo und Koba wissen wir so gut wie nichts. Kamo schloß
sich gern jemandem an. Doch spricht niemand von einer Freundschaft zwischen ihm
und Koba. Das Stillschweigen, das über die Beziehungen zwischen beiden gewahrt
wird, läßt eher darauf schließen, daß es Konflikte zwischen ihnen gab. Der
Konfliktstoff mag darin gelegen haben, daß Koba versuchte, Befehle zu erteilen
oder sich Dinge zuzuschreiben, mit denen er nichts zu tun gehabt hatte.
Bibineschwili erzählt in seinem Buch über Kamo, daß später, als Georgien schon
ein Sowjetland geworden war, ein »geheimnisvoller Unbekannter« auftauchte, der
sich unter einem lügnerischen Vorwand Kamos Briefwechsel und andere wertvolle
Dokumente aneignete. Wer brauchte diese Sachen und zu welchem Zweck? Die
Dokumente sowohl wie der unbekannte Mann sind spurlos verschwunden. Ist es
voreilig anzunehmen, daß Stalin mit Hilfe eines Agenten Kamos Dokumente in
seinen Besitz gebracht hat, weil sie ihn aus dem einen oder anderen Grunde
beunruhigten? Das würde natürlich nicht die Möglichkeit ausschließen, daß beide
im Juni 1907 eng zusammengearbeitet haben. Noch hindert es uns anzunehmen, daß
sich die Beziehungen zwischen beiden nach der Tifliser »Affäre« verschlechtert
haben und daß Koba der Ratgeber Kamos bei der Ausarbeitung der letzten
Einzelheiten gewesen ist. Der Berater kann im Auslande leicht eine übertriebene
Vorstellung von seiner Rolle erweckt haben. Schließlich ist es nun einmal
leichter, sich die Organisierung einer Expropriation zuzuschreiben, als die
Führung der Oktoberrevolution. Allerdings ist Stalin später auch davor nicht
zurückgeschreckt.
Barbusse
erzählt, daß Koba 1907 nach Berlin gegangen und einige Zeit dort geblieben sei,
»um sich mit Lenin zu unterhalten«. Worüber sich die beiden unterhalten haben,
weiß der Verfasser nicht. Der Text des Buches von Barbusse
besteht fast nur aus Irrtümern. Doch zwingt uns diese Anspielung auf eine
Berliner Reise um so mehr zur Aufmerksamkeit, als Stalin auch in seinem Dialog
mit Ludwig von einem Aufenthalt in Berlin im Jahre 1907 gesprochen hat. Wenn
Lenin für diese Zusammenkunft eine besondere Reise nach der deutschen
Hauptstadt unternommen hat, dann ganz bestimmt nicht theoretischer
»Unterhaltungen« wegen. Die Zusammenkunft kann nur entweder kurz vor, während,
oder kurz nach dem Parteitag stattgefunden haben und betraf sicherlich die
bevorstehende Expropriation, die Mittel und Wege, das Geld zu transportieren
und ähnliche Dinge. Warum hat sie in Berlin und nicht in London stattgefunden?
Wahrscheinlich hielt es Lenin für unklug, sich mit Iwanowitsch in London zu
treffen, wo sie den Blicken der übrigen Delegierten und denen der zaristischen
Spitzel, die der Parteitag in großer Zahl angezogen hatte, ausgesetzt gewesen
wären. Möglich ist auch, daß andere, die am Kongreß nicht teilnahmen, bei den
Besprechungen zugegen sein sollten.
Von Berlin
aus kehrte Koba nach Tiflis zurück, reiste aber kurz darauf nach Baku, von wo
aus er, Barbusse nach, »wieder ins Ausland ging, um Lenin zu treffen«. Ein
Kaukasier, der seine Sache gut gelernt hatte – Barbusse brachte einige Zeit im
Kaukasus zu und schrieb dort eine Anzahl von Geschichten nieder, die ihm Beria
servierte – erwähnte zwei Zusammenkünfte Stalins mit Lenin im Ausland, um zu
zeigen, wie eng beide miteinander verbunden gewesen waren. Der Zeitpunkt dieser
Zusammenkünfte sagt alles: sie fanden, die eine unmittelbar vor, die andere
unmittelbar nach der Expropriation statt. Das erklärt ihren Zweck; aller
Wahrscheinlichkeit nach wurde auf dem zweiten Zusammentreffen die Frage
besprochen: weitermachen oder aufhören?
»Damals«,
schreibt Iremaschwili, »begann die Freundschaft zwischen Koba-Stalin und
Lenin.« Das Wort »Freundschaft« ist hier aber ganz sicher nicht am Platze. Die
Distanz, die diese beiden Männer trennte, schloß eine persönliche Freundschaft
aus. Doch scheint, daß sie sich in jener Zeit näher gekommen sind. Wenn die
Vermutung richtig ist, daß Lenin mit Koba die Pläne für die Tifliser
Expropriation besprochen hat, dann war es natürlich, daß er für denjenigen
Bewunderung empfand, in dem er den Organisator der Expropriation sehen mußte.
Wahrscheinlich hat Lenin, als er das Telegramm mit der Mitteilung in der Hand hielt, daß die Beute eingebracht werden konnte, ohne ein
Opfer auf Seiten der Revolutionäre zu fordern, vor sich selbst oder vor der
Krupskaja ausgerufen: »Welch prächtiger Georgier!« Das sind die Worte, die sich
später in einem seiner Briefe an Gorki finden. Enthusiasmus für Leute, die
Proben ihrer Entschlußkraft abgelegt oder eine ihnen anvertraute Aufgabe gut
durchgeführt hatten, war einer der hervorstechendsten Züge Lenins bis an sein
Lebensende. Vor allen anderen schätzte er Männer der Tat. Indem er sein Urteil
über Koba auf dessen Leistungen bei den kaukasischen Expropriationen basierte,
kam er anscheinend dazu, in Koba einen Mann zu sehen, fähig, bis zum äußersten
zu gehen oder imstande, andere so zu dirigieren, daß sie vor nichts
zurückschreckten. Er kam zu dem Schlusse, daß der »prächtige Georgier« sehr
nützlich sein würde.
Glück
brachte die Tifliser Beute nicht; die ganze Geldsumme bestand aus
Fünfhundertrubel-Scheinen: unmöglich, so hohe Banknoten in Umlauf zu setzen.
Die Öffentlichkeit nahm das Scharmützel auf dem Eriwan-Platz seines
unglücklichen Ausgangs wegen unfreundlich auf, und es war nicht daran zu
denken, die Geldscheine auf einer russischen Bank einzuwechseln. Das mußte im
Ausland geschehen. Der Provokateur Schitomirsky, der an dieser Operation
teilnahm, verriet sie beizeiten der Polizei. Der zukünftige Volkskommissar für
auswärtige Angelegenheiten, Litwinow, wurde in Paris bei dem Versuch, die
Banknoten zu wechseln, verhaftet. Olga Rawitsch, die später Sinowjews Frau
wurde, fiel in Stockholm der Polizei in die Hände. Semaschko, zukünftiger
Volkskommissar für das Gesundheitswesen, wurde in Genf verhaftet, scheinbar durch
Zufall. »Ich war einer von den Bolschewiki«, schreibt er, »die damals
grundsätzlich gegen die Expropriationen waren.« Die Zahl solcher Bolschewiki
stieg beträchtlich nach den Geschichten, die bei den Wechseloperationen
passierten. »Der Durchschnittsschweizer«, vermerkt die Krupskaja, »war zu Tode
erschrocken. Man sprach nur noch von den russischen Expropriateuren. Auch in
der Pension, wo Iljitsch und ich aßen, wurde mit Schrecken davon gesprochen.«
Erwähnen wir noch, daß sowohl Olga Rawitsch wie Semaschko seit der letzten
»Säuberung« verschwunden sind.
Die Tifliser
Expropriation kann in keiner Weise als eine Partisanentat zwischen zwei
Schlachten im Bürgerkrieg angesehen werden. Lenin hatte einsehen müssen, daß
der Aufstand auf eine unbestimmbare Zukunft zurückgeworfen worden war. Ihm stand diesmal einfach der Versuch vor Augen, der Partei
auf Kosten des Feindes die finanziellen Mittel zu verschaffen, die ihr erlauben
würden, über die bevorstehende ungewisse Periode hinwegzukommen. Lenin hat der
Versuchung nicht widerstehen können; er ergriff die Gelegenheit, den günstigen
»Ausnahmefall«, beim Schopfe. In diesem Sinne, und das muß offen ausgesprochen
werden, enthielt die Idee von der Tifliser Expropriation ein gut Teil
Abenteuertum, was im allgemeinen Lenins Politik fremd war. Im Falle Stalin
liegt die Sache ganz anders. Weitschauende historische Erwägungen waren für ihn
bedeutungslos. Die Londoner Resolution war für ihn nur ein Fetzen Papier, ein
durchsichtiger Trick genügte, um sich ihren unangenehmen Konsequenzen zu
entziehen. Der Erfolg würde das Risiko schon rechtfertigen. Souvarine hat bei
dieser Gelegenheit eingewandt, daß es ungerecht sei, die Verantwortung vom
Fraktionsführer auf eine zweitrangige Figur abzuschieben. Darum, die Frage der
Verantwortlichkeit zu verschieben, handelt es sich aber nicht. Die Mehrheit der
bolschewistischen Fraktion war zu jener Zeit in Sachen der Expropriationen
gegen Lenin; die Bolschewiki, die mit den Kampfgruppen in nahe Berührung
gekommen waren, hatten allzu überzeugungskräftige Beobachtungen gemacht, was
Lenin, der von neuem Emigrant war, nicht tun konnte. Ohne Korrektur von unten
muß auch der mit dem größten Genie begabte Führer Fehler machen. Tatsache
bleibt, daß Stalin nicht zu denen gehörte, die rechtzeitig begriffen, daß
Partisanenstreiche unter den Umständen, wie sie der revolutionäre Abstieg mit
sich bringt, unzulässig sind. Und das war kein Zufall. Für ihn war die Partei
vor allem ein Apparat. Der Apparat verlangte Mittel, um weiterexistieren zu
können. Die Geldmittel mußten mit Hilfe eines anderen Apparates herbeigeschafft
werden, ungeachtet des Lebens und Kampfes der Massen. Da war Stalin in seinem
Element.
Die Folgen
dieses tragischen Abenteuers, mit denen eine ganze Phase im Leben der Partei zu
Ende ging, waren schwerwiegend. Die Auseinandersetzungen über die Tifliser
Expropriation vergifteten auf lange Zeit hinaus die Atmosphäre in der Partei
und auch innerhalb der bolschewistischen Fraktion selbst. Lenin nahm von da an
einen Frontwechsel vor und trat entschieden gegen die Taktik der
Expropriationen auf, die noch während einer gewissen Periode hindurch zum
Fundus des »linken« Flügels der Bolschewiki gehörte. Zum letztenmal wurde die
Tifliser »Affäre« im Januar 1910 auf Drängen der
Menschewiki parteioffiziell im Zentralkomitee zur Debatte gestellt. Eine
Resolution wurde gefaßt, die die Expropriationen als völlig unzulässigen
Verstoß gegen die Parteidisziplin scharf verurteilte, aber anerkannte, daß es
nicht in der Absicht der Teilnehmer gelegen habe, die Arbeiterbewegung zu
schädigen, daß sich die Teilnehmer vielmehr »allein von schlecht verstandenem
Parteiinteresse« hätten leiten lassen. Niemand wurde ausgeschlossen. Niemand
wurde namentlich genannt. Wie die anderen, so wurde auch Koba amnestiert als
einer, der sich »von schlecht verstandenen Parteiinteressen« hatte leiten
lassen.
Inzwischen
nahm der Auflösungsprozeß der revolutionären Organisationen seinen Fortgang.
Schon im Oktober 1907 schrieb der menschewistische »Literat« Potressow an
Axelrod: »Bei uns ist der Zusammenbruch vollständig und die Demoralisierung
absolut ... Es gibt nicht nur keine Organisation mehr, sondern nicht einmal
mehr die Elemente dafür ... Und diese Nicht-Existenz wird zum Prinzip erhoben
...« Es sollte bald zum Vorrecht der meisten Führer des Menschewismus mit
Einschluß Potressows selbst werden, das Nichtsein zum Prinzip zu erheben! Sie
erklärten, daß die illegale Partei ein für allemal erledigt und daß der
Versuch, sie wiederzubeleben – eine reaktionäre Utopie sei. Martow versicherte,
es seien gerade »solch skandalöse Vorkommnisse wie die beim Umtausch der
Tifliser Banknoten«, die es »den ergebensten und aktivsten Elementen der
Arbeiterklasse« ratsam erscheinen ließen, alle Berührung mit dem illegalen
politischen Apparat zu vermeiden. Ein anderes Argument für die »Notwendigkeit«,
den verpesteten Untergrund zu meiden, sahen die Menschewiki, nunmehr
»Liquidatoren« genannt, in dem erschreckenden Überhandnehmen der Provokation.
Sich auf die Gewerkschaften, Erziehungsvereine und Solidaritätsverbände
zurückziehend, leisteten sie keine revolutionäre Arbeit mehr, sondern wurden zu
Kulturpropagandisten. Um ihre Posten in den legalen Organisationen zu behalten,
begannen die aus der Arbeiterklasse stammenden Funktionäre, sich eine
Schutzfarbe zuzulegen. Streikkämpfen gingen sie aus dem Wege, um ihre gerade
eben geduldeten Gewerkschaften nicht zu kompromittieren. In der Praxis
bedeutete die Legalität um jeden Preis die völlige Preisgabe der revolutionären
Methoden.
Die
Liquidatoren standen in jenen düstersten Jahren im Vordergrund. »Sie hatten
weniger unter polizeilichen Verfolgungen zu leiden«,
schreibt Olminsky. »Sie hatten viele Schriftsteller auf ihrer Seite, zahlreiche
Redner und fast alle Intellektuellen. Sie waren Hahn im Korb und krähten
entsprechend.« Die Reihen der bolschewistischen Fraktion lichteten sich, und
zwar von Stunde zu Stunde; die Versuche, den illegalen Apparat
aufrechtzuerhalten, begegneten auf Schritt und Tritt feindlichem Widerstand;
die Kraft des Bolschewismus schien endgültig gebrochen. »Die ganze gegenwärtige
Entwicklung«, schrieb Martow, »macht die Bildung einer einigermaßen stabilen
Parteisekte zu einer jämmerlichen reaktionären Utopie.« Diese grundlegende
Prognose Martows und des russischen Menschewismus war ein schwerer Fehler. Was
sich als reaktionäre Utopie herausstellte, das waren die Perspektiven und
Losungsworte der Liquidatoren. Für eine legale Arbeiterpartei war im Regime des
3. Juni kein Platz. Sogar der Partei der Liberalen wurde die legale Anerkennung
verweigert. »Die Liquidatoren haben die illegale Partei beseitigt«, schrieb
Lenin, »aber ihre Verpflichtung, eine legale Partei zu schaffen, haben sie
nicht erfüllt.« Gerade dadurch, daß der Bolschewismus den Aufgaben der
Revolution in der Periode ihrer Demütigung und ihres Niedergangs treu blieb,
bereitete er den unerhörten Aufschwung vor, den er in den Jahren des
Wiedererwachens der Revolution nehmen sollte.
Innerhalb
des linken Flügels der bolschewistischen Fraktion, auf dem den Liquidatoren
entgegengesetzten Pole, hatte sich inzwischen eine extremistische Gruppe
gebildet, die sich hartnäckig weigerte, die veränderten Verhältnisse
anzuerkennen, und die fortfuhr, die Taktik der Direkten Aktion zu verteidigen.
Nach den Dumawahlen führten die Meinungsverschiedenheiten, die seinerzeit über
die Frage des Boykotts entstanden waren, zur Bildung einer neuen Fraktion, die
für die Abberufung der sozialdemokratischen Abgeordneten aus der Duma eintrat,
»Otsowisten« (»Zurückrufer«) genannt. Die Otsowisten waren zweifellos das genau
symmetrische Gegenstück zu den Liquidatoren. So wie es die Menschewiki immer
und bei jeder Gelegenheit, selbst im Augenblick des unwiderstehlichsten
Vorwärtsdrängens der Revolution, für notwendig erachteten, in jedes »Parlament«
zu gehen, auch wenn es sich nur um ein kurzlebiges Täuschungsexperiment des
Zaren handelte, ebenso glaubten die Otsowisten, sie würden, wenn sie das nur
dank einer Niederlage der Revolution zustande gekommene Parlament
boykottierten, einen neuen Druck der Massen auslösen können. Wie elektrische
Entladungen von Donnerschlägen begleitet sind, so
versuchten diese »Unversöhnlichen«, elektrische Entladungen hervorzurufen
mittels künstlichen Gedonners.
Auf Krassin
übte die Zeit der Dynamitlaboratorien noch immer eine große Anziehungskraft
aus. Dieser scharfsinnige und einsichtige Mensch gesellte sich für eine
Zeitlang zur Sekte der Otsowisten, um sich aber dann für eine ganze Reihe von
Jahren von der Revolution überhaupt zu trennen. Der andere nächste Mitarbeiter
Lenins in der geheimen bolschewistischen »Troika«, Bogdanow, ging auch nach
links. Mit dem Ende des geheimen Triumvirats hatte auch die alte
bolschewistische Leitung zu bestehen aufgehört. Aber Lenin wankte nicht. Im
Sommer 1907 war die Mehrheit der bolschewistischen Fraktion für den Boykott. Im
Frühjahr 1908 waren die Otsowisten in Petersburg und Moskau schon in der
Minderheit. An Lenins Überlegenheit war nicht zu zweifeln. Was auch Koba
rechtzeitig erkannte, denn die unglückliche Erfahrung, die er mit seiner
Haltung in der Agrarfrage gemacht hatte, als er offen gegen Lenin aufgetreten
war, hatte ihn vorsichtiger werden lassen. Stillschweigend und ohne viel
Aufhebens löste er sich von seinen Boykottierern. Von nun an wurde es zur
Grundregel seines Verhaltens, lautlos die Stellung zu wechseln und bei
Wendungen im Schatten zu bleiben.
Die
fortlaufende Aufsplitterung der Partei in kleine Gruppen, die sich inmitten
vollständiger Leere rücksichtslos untereinander befehdeten, ließ mancherorts
die Neigung zur Versöhnung, zur Verständigung aufkommen, zur Einheit um jeden
Preis. Eben in dieser Periode trat eine andere Seite des »Trotzkismus« in den
Vordergrund, nicht die der Theorie der permanenten Revolution, sondern die der
innerparteilichen »Versöhnung«. Für das Verständnis des späteren Kampfes
zwischen Stalinismus und Trotzkismus ist es unerläßlich, hier darüber, wenn
auch nur kurz, zu sprechen. Ich habe im Jahre 1904 – das heißt, seit dem
Augenblick, wo die Meinungsverschiedenheiten über die Einschätzung der
liberalen Bourgeoisie auftraten – mit der Minderheit auf dem Zweiten Parteitag
(den Menschewiki) gebrochen und habe in den folgenden dreizehn Jahren keiner
Fraktion angehört. Meine Einstellung im innerparteilichen Konflikt läßt sich
folgendermaßen zusammenfassen: solange sowohl bei den Bolschewiki wie bei den
Menschewiki die revolutionären Intellektuellen die Führung innehatten und
solange weder die eine noch die andere Gruppierung über die
bürgerlich-demokratische Revolution hinausgehen wollte, war
für eine Spaltung keine Berechtigung vorhanden; bei einer neuen Revolution
würden beide Fraktionen unter dem Druck der arbeitenden Massen auf alle Fälle
gezwungen sein, wie im Jahre 1905, dieselbe revolutionäre Politik zu verfolgen.
Manche Kritiker des Bolschewismus halten noch heutigentags mein früheres
Versöhnlertum für die Stimme der Weisheit. Doch hat sowohl die Theorie wie die
Praxis längst erwiesen, daß es ein tiefer Irrtum war. Einfache Versöhnung von
Fraktionen ist nur möglich auf einer »mittleren« Linie. Wo aber läge die
Garantie dafür, daß diese künstlich gezogene Diagonale mit den Notwendigkeiten
der objektiven Entwicklung übereinstimmt? Die Aufgabe wissenschaftlicher
Politik besteht darin, ein Programm und eine Taktik aus der Analyse des
Klassenkampfes abzuleiten, nicht aber aus einem Parallelogramm so zweitrangiger
und unbeständiger Kräfte, wie es die politischen Gruppierungen sind. Gewiß, die
Stellung der Reaktion war so stark, daß sie der politischen Aktivität der
ganzen Partei äußerst enge Grenzen zog. Es konnte damals scheinen, als seien
die Meinungsverschiedenheiten unwesentlich und nur von den Führern in der
Emigration künstlich aufgebläht. Aber gerade in der Periode der Reaktion wäre
die revolutionäre Partei ohne eine große Perspektive unfähig gewesen, neue
Kader heranzubilden. Den morgigen Tag vorzubereiten, das war die Aufgabe der
Stunde. Die Politik der Versöhnung nährte sich von der Hoffnung, daß der
Verlauf der Ereignisse selbst die notwendige Taktik vorschreiben werde. Aber
dieser fatalistische Optimismus bedeutet in der Praxis Verzicht nicht nur auf
fraktionellen Kampf, sondern auf die Idee der Partei selbst – wenn der »Lauf
der Ereignisse« imstande ist, den Massen unmittelbar die richtige Politik zu
diktieren, wozu dann noch eine besondere Vereinigung der Vorhut des
Proletariats, wozu dann noch die Ausarbeitung eines Programms, das Auswählen
der Führer, die Erziehung im Geiste der Disziplin?
Später, im
Jahre 1911, hat Lenin die Bemerkung gemacht, daß das Versöhnlertum unauflöslich
mit dem Wesen derjenigen Aufgaben verbunden ist, die die Partei in den Zeiten
der Konterrevolution zu lösen hat. »Eine Anzahl von Sozialdemokraten«, schrieb
er, »verfielen zu dieser Zeit in Versöhnlertum, wobei sie von den
verschiedensten Voraussetzungen ausgingen. In ihrer konsequentesten Form
vertrat Trotzky die Versöhnung, der auch der einzige war, der versuchte, dieser
Politik eine theoretische Fundierung zu geben.« Weil das
Versöhnlertum in jenen Jahren den Charakter einer Epidemie angenommen hatte,
erblickte Lenin darin die größte Gefahr für die Entwicklung der revolutionären
Partei. Er unterschied sehr gut die »verschiedensten Voraussetzungen« bei den
Versöhnlern, die opportunistischen von den revolutionären. Doch hielt er sich
in seinem Kreuzzug gegen die gefährliche Tendenz für berechtigt, keinen
Unterschied zwischen den subjektiven Quellen zu machen; im Gegenteil, mit
verdoppelter Schärfe griff er die Versöhnler an, die ihrer Grundauffassung nach
dem Bolschewismus nahestanden. Den öffentlichen Kampf mit dem eigenen
versöhnlerischen Flügel in der bolschewistischen Fraktion vermeidend, zog Lenin
es vor, gegen den »Trotzkismus« zu polemisieren, besonders nachdem ich, wie
erwähnt, versucht hatte, der Versöhnung eine theoretische Grundlage zu geben.
Zitate aus den dieser heftigen Polemik gewidmeten Schriften haben später Stalin
Dienste erwiesen, zu denen sie sicherlich nicht bestimmt waren.
Das Studium
von Lenins Werken aus der Periode der Reaktion – peinlich genau bis ins
einzelne gehend, aber von kühnem gedanklichen Schwung – wird für die
revolutionäre Schulung stets unerläßlich bleiben. »In der Zeit der Revolution«,
schrieb Lenin im Juli 1909, »lernten wir, französisch zu sprechen, das heißt
... die Energie und den Umfang des direkten Massenkampfes zu steigern. Jetzt,
in der Zeit der Stagnation, der Reaktion, des Verfalls, müssen wir lernen, deutsch
zu sprechen, das heißt ... langsam vorangehen, Schritt für Schritt.« Der Führer
der Menschewiki, Martow, schrieb im Jahre 1911: »Das, was die Führer der
legalen Bewegung (das heißt: die Liquidatoren) vor zwei und drei Jahren nur im
Prinzip anerkannten, nämlich die Notwendigkeit, eine ›deutsche‹ Partei zu
schaffen, das wird jetzt allgemein als eine Aufgabe betrachtet, an deren
praktische Lösung heranzugehen höchste Zeit ist.« Martow und Lenin schienen
beide »deutsch« zu sprechen, in Wirklichkeit redeten sie ganz verschiedene
Sprachen. Für Martow hieß »deutsch« reden, sich dem russischen Halbabsolutismus
anzupassen, in der Hoffnung, ihn stufenweise zu »europäisieren«. Für Lenin
bedeutete derselbe Ausdruck: mit Hilfe der illegalen Partei die mageren legalen
Möglichkeiten auszunützen zur Vorbereitung einer neuen Revolution. Der spätere
opportunistische Niedergang der deutschen Sozialdemokratie hat gezeigt, daß die
Menschewiki viel richtiger den Geist der »deutschen
Sprache« in der Politik widerspiegelten. Lenin aber hat weitaus besser den
objektiven Verlauf der Entwicklung in Deutschland sowohl wie in Rußland
verstanden: der Epoche der friedlichen Reformen mußte eine Epoche der
Katastrophen folgen.
Was Koba
anbelangt, so kannte er weder das Französische noch das Deutsche. Aber alle
seine Eigenschaften drängten ihn auf Lenins Stellung. Koba suchte keine
öffentliche Tribüne, wie die Redner und Journalisten des Menschewismus – auf
der öffentlichen Tribüne zeigten sich seine schwächeren viel deutlicher als
seine stärkeren Seiten. Er brauchte vor allem einen zentralisierten Apparat.
Doch unter den Bedingungen des konterrevolutionären Regimes konnte der Apparat
nur illegal sein. Mangelte es Koba auch an historischer Perspektive, mit
Starrsinn war er reich versehen. In den Jahren der Reaktion hat er nicht zu den
Zehntausenden gehört, die die Partei im Stich ließen, sondern zu den wenigen
Hundert, die ihr trotz allem treu blieben.
Kurze Zeit
nach dem Londoner Parteitag ging der junge Sinowjew, der ins Zentralkomitee
gewählt worden war, in die Emigration; dasselbe tat Kamenew, Mitglied der
bolschewistischen Leitung. Koba blieb in Rußland. Später schrieb er sich das
als ein besonderes Verdienst an. Es ist keins gewesen: die Wahl des Ortes und
der Art der Arbeit hing nur in sehr geringem Maße von dem Parteimitglied selbst
ab. Wenn das Zentralkomitee in Koba einen jungen Theoretiker und Publizisten
gesehen hätte, fähig, sich im Ausland auf ein höheres Niveau zu erheben, würde
es ihn unbedingt in die Emigration berufen haben, und er hätte weder die
Möglichkeit noch den Wunsch gehabt, abzulehnen. Aber niemand berief ihn ins
Ausland. Von den Spitzen der Partei wurde er, von der Zeit an, wo sie auf ihn
aufmerksam geworden waren, stets als »Praktiker« betrachtet, das heißt als der
einfachen revolutionären Mannschaft zugehörig, vor allem für die lokale
Partei-Organisationsarbeit geeignet. Und Koba selbst, der auf den Kongressen
von Tammerfors, Stockholm und London Gelegenheit gehabt hatte, seine Kräfte zu
messen, hat wohl kaum den Wunsch verspürt, sich unter die Emigranten zu
begeben, unter denen er in die dritte Stufe eingereiht worden wäre. Später,
nach Lenins Tode, wurde aus der Not eine Tugend gemacht, und das Wort
»Emigrant« nahm im Munde der neuen Bürokratie die gleiche Bedeutung an, die es
schon bei den Konservativen der Zarenzeit gehabt hatte.
Lenin kehrte, seinen eigenen Worten nach, ins Exil
zurück wie jemand, der in sein Grab steigt. »Wir sind von allem schrecklich
abgeschnitten hier ...«, schrieb er von Paris aus im Herbst des Jahres 1909,
»diese Jahre sind wirklich höllisch schwierig.« In der russischen bürgerlichen
Presse begannen Artikel veröffentlicht zu werden, die die Emigration
herabsetzten und sie als den Inbegriff der niedergeschlagenen und von den
gebildeten Kreisen abgelehnten Revolution darstellten. 1912 antwortete Lenin
auf solche Anwürfe in der Petersburger Zeitung der Bolschewiki: »Ja, es gibt
manche unangenehmen Dinge in der Emigration ... Es gibt mehr Not und Elend als
sonst irgendwo. Besonders hoch ist der Prozentsatz der Selbstmorde.« Aber, »nur
hier und nirgendwo sonst sind die wichtigsten Grundfragen der ganzen russischen
Demokratie in den Jahren des Interregnums und der Konfusion gestellt worden«.
In den mühseligen und zermürbenden Kämpfen der Emigrantengruppen sind die
leitenden Ideen der Revolution von 1917 herausgearbeitet worden. An dieser
Arbeit hat Koba nicht den geringsten Anteil gehabt.
Vom Herbst
1907 bis März 1908 betätigte sich Koba in Baku. Das genaue Datum seiner Ankunft
in Baku anzugeben, ist nicht möglich. Es kann sehr wohl sein, daß er Tiflis in
dem Augenblick verließ, als Kamo seine letzte Bombe lud; Koba ist mit Vorsicht
mutig. Baku, diese Herberge der verschiedensten Rassen, zählte schon Anfang des
Jahrhunderts über 100 000 Einwohner und wuchs ständig; seine Ölindustrie zog
Massen von Aserbeidschan-Tataren an. Auf die revolutionäre Bewegung von 1905
hatten die zaristischen Behörden nicht ohne Erfolg geantwortet, indem sie die
Tataren gegen die viel fortgeschritteneren Armenier ausgespielt hatten. Die
Revolution hatte aber dennoch auch auf die rückständigen Tataren übergegriffen.
Mit einer gewissen Verspätung gegenüber den anderen Landesteilen nahmen sie an
den Streiks von 1907 en masse teil.
Koba blieb
ungefähr acht Monate in der Schwarzen Stadt, von welcher Zeit noch seine
Berliner Reise abzuziehen ist. »Unter der Leitung des Genossen Stalin«,
schreibt der nicht eben einfallsreiche Beria, »wuchs die bolschewistische
Organisation in Baku, wurde stark und stählte sich in ihrem Kampf gegen die Menschewiki.«
Koba wurde in jene Ortschaften gesandt, in denen der Gegner besonders stark
war. »Unter der Leitung des Genossen Stalin brachen die Bolschewiki den Einfluß
der Menschewiki« usw. Aus Allilujew ist kaum mehr zu entnehmen. Die Sammlung der bolschewistischen Kräfte nach ihrer
Zerschlagung durch die Polizei geschah, seinen Worten nach, »unter der
unmittelbaren Leitung und der aktiven Teilnahme des Genossen Stalin ... Sein
organisatorisches Talent, sein echter revolutionärer Enthusiasmus, seine unerschöpfliche
Energie, sein fester Wille und seine bolschewistische Entschlossenheit ...« und
so fort. Unglücklicherweise sind diese Erinnerungen des Schwiegervaters Stalins
im Jahre 1937 geschrieben. Die Formel: »unter der unmittelbaren Leitung und der
aktiven Teilnahme« weist unfehlbar die Beriasche Fabrikmarke auf. Der
Sozialrevolutionär Wereschtschak, der damals die Tätigkeit seiner Partei in
Baku leitete und der Koba mit den Augen des Gegners sah, spricht ihm
außergewöhnliche organisatorische Fähigkeiten zu, bestreitet aber völlig seinen
persönlichen Einfluß auf die Arbeiter. »Sein Äußeres«, schreibt er, »machte
einen schlechten Eindruck auf jeden, der ihn zum erstenmal sah. Dem wußte Koba
sehr gut Rechnung zu tragen. Er sprach niemals auf öffentlichen Massenversammlungen
... Seine Anwesenheit in diesem oder jenem Arbeiterbezirk blieb immer geheim,
und man konnte auf sie nur durch eine erhöhte Tätigkeit der Bolschewiki
schließen.« Das klingt sehr wahr. Wir werden Wereschtschak später noch wieder
begegnen.
Die
Lebenserinnerungen von Bolschewiki, soweit sie vor der totalitären Ära
geschrieben worden sind, räumen den ersten Platz in der Bakuer Organisation
nicht Koba ein, sondern Schaomyan und Tschaparidse, zwei hervorragenden
Revolutionären, die von den Engländern während der Besetzung von Transkaukasien
am 20. September 1918 erschossen worden sind. Karinian, Schaomyans Biograph,
schreibt: »Von den alten Genossen in Baku waren damals aktiv tätig A.
Jenukidse, Koba (Stalin), Timofei (Spandarian), Aljoscha (Tschaparidse). Die
bolschewistische Organisation ... hatte eine breite Basis für ihre Tätigkeit:
die Petroleumarbeitergewerkschaft. Sekretär und eigentlicher Organisator der
ganzen Gewerkschaftsarbeit war Aljoscha (Tschaparidse).« Jenukidse wird vor
Koba genannt, die Hauptrolle wird Tschaparidse zugeschrieben. Weiter: »Diese
beiden (Schaomyan und Tschaparidse) waren die beliebtesten Führer des Bakuer
Proletariats.« Es ist Karinian, der im Jahre 1924 schrieb, noch nicht
eingefallen, Stalin zu den »beliebtesten Führern« zu zählen.
Der Bakuer
Bolschewik Stopani erzählt, wie er im Jahre 1907 von der Gewerkschaftsarbeit
völlig in Anspruch genommen war, »der brennendsten Aufgabe
im Baku jener Tage«. Die Gewerkschaft stand unter der Führung der Bolschewiki.
»Die führende Rolle« in der Gewerkschaft »spielte der unersetzliche Aljoscha
Tschaparidse; eine geringere Rolle spielte der Genosse Koba (Dschugaschwili),
der seine Kräfte hauptsächlich der Arbeit in der Partei widmete, die er
leitete.« Stopani präzisiert nicht, worin die »Parteiarbeit« neben der
»brennendsten Aufgabe«, der Gewerkschaftsarbeit, noch bestand. Er macht aber
zufällig eine aufschlußreiche Bemerkung über die Unstimmigkeiten unter den
Bakuer Bolschewiki. Alle waren sich darüber einig, daß es notwendig sei, eine
organisatorische »Konsolidierung« des Einflusses der Partei auf die
Gewerkschaften herbeizuführen; »doch darüber, bis zu welchem Grade und in
welcher Form die Konsolidierung vor sich gehen sollte, herrschte Uneinigkeit
unter uns; wir hatten unsere Linke (Koba-Stalin) und unsere Rechte (Aljoscha
Tschaparidse und andere, und ich selbst); die Gegensätze waren nicht
grundsätzlicher Art, sondern bezogen sich auf die Taktik und die Methoden der
Aufrechterhaltung der Verbindungen.« Stopanis absichtlich unbestimmte
Ausdrucksweise – Stalin war zu dieser Zeit schon sehr mächtig – läßt
einwandfrei auf die wirkliche Stellung der Figuren schließen. Infolge der mit
Verzögerung einsetzenden Streikbewegung gewann die Gewerkschaft besondere
Bedeutung. Die Leiter der Gewerkschaften, Tschaparidse und Schaomyan, waren
diejenigen, die zu den Massen zu sprechen und sie zu führen verstanden.
Wiederum auf den zweiten Platz zurückgeworfen, verschanzte sich Koba im
illegalen Parteikomitee. Der Kampf um den Einfluß der Partei auf die
Gewerkschaft bedeutete für ihn die Unterstellung der Führer der Massen,
Tschaparidse und Schaomyan, unter seinen Befehl. In dem Kampf um diese Art von
»Konsolidierung« seiner persönlichen Macht hatte Koba, wie aus Stopanis Worten
deutlich hervorgeht, alle führenden Bolschewiki gegen sich. Die Aktivität der
Massen war den Manövern hinter den Kulissen nicht günstig.
Besonders
heftig war die Rivalität zwischen Koba und Schaomyan. Das ging so weit, den
Aussagen georgischer Menschewiki nach, daß die Arbeiter nach der Verhaftung
Schaomyans Koba verdächtigten, seinen Gegenspieler der Polizei denunziert zu
haben, und sein Erscheinen vor einem Parteigericht verlangten. Dieses Verlangen
verstummte erst mit Kobas eigener Verhaftung. Daß die Ankläger wirkliche Beweise
hatten, ist unwahrscheinlich. Das bloße Zusammentreffen
einer Reihe von Umständen kann bewirkt haben, daß dieser Verdacht auftauchte.
Doch ist es immerhin bezeichnend genug, daß die eigenen Parteigenossen Koba für
fähig hielten, aus unbefriedigtem Ehrgeiz heraus zum Denunzianten zu werden!
Nie sind jemand anderem solche Dinge nachgesagt worden.
Über die
Beschaffung der Geldmittel für das Bakuer Komitee zu der Zeit von Kobas
Anwesenheit in Baku liegen zwar miteinander übereinstimmende, aber keineswegs
unanzweifelbare Zeugenschaften vor über mit bewaffneter Hand vorgenommene
Expropriationen, über Geldzuschüsse, die Industriellen abgepreßt wurden – die
mit dem Tode bedroht oder denen angekündigt wurde, daß man Feuer an ihre
Ölquellen legen würde –, über Herstellung und Vertrieb von Falschgeld und
ähnliche Dinge. Es ist sehr schwer zu entscheiden, ob all diese Untaten, die
tatsächlich vorgekommen sind, wirklich schon in jenen frühen Jahren Koba
zugeschrieben worden sind, oder ob der größte Teil davon mit seinem Namen erst
beträchtlich später in Verbindung gebracht worden ist. Wie dem auch sei, Kobas
Teilnahme an so riskanten Unternehmungen hat keine direkte sein können, sonst
wäre sie unweigerlich publik gemacht worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat
er solche Operationen so geleitet, wie er auch die Gewerkschaft zu leiten
versuchte, nämlich aus der Kulisse heraus. In diesem Zusammenhang ist es
erwähnenswert, daß über die Bakuer Periode in Kobas Leben sehr wenig bekannt
ist. Die unwahrscheinlichsten Kleinigkeiten werden aufgezeichnet, wenn sie nur
irgendwie nutzbar gemacht werden können, um den Ruhm des »Führers« zu erhöhen,
aber über seine revolutionäre Tätigkeit werden uns nur allgemeine Redewendungen
geboten. So häufiges Schweigen ist wohl kaum ein Zufall.
Der
Sozialrevolutionär Wereschtschak geriet in noch jugendlichem Alter in das
sogenannte Bailow-Gefängnis in Baku und verbrachte dort dreieinhalb Jahre. Koba
wurde am 25. März verhaftet, blieb ein halbes Jahr in diesem Gefängnis und
verließ es, um in die Verbannung zu gehen, wo er neun Monate zubrachte; dann
kehrte er illegal nach Baku zurück, wurde im März 1910 von neuem verhaftet und
ins Bailow-Gefängnis eingeliefert, wo er dann ungefähr sechs Monate lang mit
Wereschtschak zusammen saß. 1912 trafen sich die beiden Gefängniskameraden in
Narym in Sibirien wieder. Schließlich begegnete Wereschtschak seinem alten Bekannten nach der Februarrevolution auf dem Ersten
Sowjetkongreß in Petersburg, an dem Wereschtschak als Delegierter der Tifliser
Garnison teilnahm.
Nach Stalins
politischem Aufstieg veröffentlichte Wereschtschak in der Emigrantenpresse eine
detaillierte Schilderung ihres gemeinsamen Gefängnislebens. Vielleicht ist
nicht alles, was er erzählt, glaubwürdig, und nicht alle seine Urteile sind
überzeugend. So wenn Wereschtschak wiedergibt, was er sicherlich nur vom
Hörensagen weiß, daß Koba selbst eingestand, einen Mitschüler vom Seminar »aus
revolutionären Gründen« verraten zu haben; die Unwahrscheinlichkeit dieser
Geschichte ist schon weiter oben nachgewiesen worden. Über Kobas Marxismus hat
der »Volkstümler« nur äußerst naive Dinge zu sagen. Aber Wereschtschak hat den
unschätzbaren Vorteil, Koba in einer Umgebung beobachtet zu haben, wo der
Mensch, ob er will oder nicht, auf die Sitten und Gewohnheiten einer
zivilisierten Existenz verzichten muß. Für 400 Mann bestimmt, zählte dieses
Bakuer Gefängnis damals über 1500 Insassen. Die Gefangenen schliefen in
überfüllten Zellen, auf den Gängen, auf den Treppenstufen. Unter solchen
Bedingungen war es niemandem möglich, sich zu isolieren. Alle Türen, mit
Ausnahme der der Strafzellen, standen offen. Kriminelle und Politische gingen
von Zelle zu Zelle und von einem Gebäude zum anderen und liefen frei im Hof
herum. »Es war unmöglich, sich niederzusetzen oder zu legen, ohne über eines
anderen Füße zu stolpern.« Unter solchen Umständen sah man den anderen – und
sah manch einer sich selbst – in ganz unerwartetem Licht. Selbst kalte und
reservierte Naturen entblößten Charakterzüge, die sie unter gewöhnlichen
Bedingungen zu verbergen gewußt hätten.
»Koba war
ein äußerst einseitiger Mensch«, schrieb Wereschtschak. »Er hatte keine
allgemeinen Prinzipien und keine entsprechende gründliche Erziehung. Seiner
eigentlichen Art nach ist er immer ein roher, ungebildeter Mensch gewesen; das
alles war mit einer ganz besonders hoch entwickelten Verschlagenheit verbunden,
hinter der auch der aufmerksamste Beobachter nicht sogleich die anderen
versteckten Züge entdecken konnte.« Unter »allgemeinen Prinzipien« scheint der
Autor moralische Grundsätze zu verstehen – als »Volkstümler« gehörte er der
Schule des »ethischen« Sozialismus an. Kobas Selbstbeherrschung rief
Wereschtschaks Erstaunen hervor. Es gab im Gefängnis ein grausames Spiel, das
darin bestand, jemand mit allen möglichen und unmöglichen
Mitteln in Wut zu versetzen; jemanden »aufblasen, bis er platzt« wurde das
genannt. »Koba ist nicht ein einzigesmal aus dem Gleichgewicht geraten«, muß
Wereschtschak feststellen, »niemand konnte ihn aus der Ruhe bringen.«
Das war ein
ziemlich unschuldiges Spiel verglichen mit dem, das die Behörden spielten.
Unter den Gefangenen waren auch kürzlich oder schon vor längerer Zeit zum Tode
Verurteilte, die ständig der Besiegelung ihres Schicksals entgegensahen. Sie
aßen und schliefen mit den anderen zusammen. Unter den Augen ihrer
Mitgefangenen wurden sie nachts herausgeholt und im Gefängnishof gehängt; »in
den Zellen hörte man ihr Weinen und Schreien«. Die Nerven aller Gefangenen
waren aufs äußerste gespannt. »Koba schlief fest«, sagt Wereschtschak, »oder
lernte ruhig Esperanto (er war überzeugt, daß Esperanto die internationale
Sprache der Zukunft sei).« Es wäre absurd zu denken, daß die Hinrichtungen Koba
gleichgültig ließen. Aber er hatte starke Nerven. Er empfand nicht nach, was
andere fühlten. Allein solche Nerven waren schon ein großes Kapital.
Trotz des
Chaos, der Hinrichtungen, der politischen und persönlichen Streitereien war das
Bakuer Gefängnis eine wichtige revolutionäre Schule. Koba stach unter den
marxistischen Wortführern hervor. An privaten Diskussionen beteiligte er sich
nicht, sondern zog die öffentliche Debatte vor – ein sicheres Zeichen dafür,
daß Koba der Mehrheit seiner Mitgefangenen an Schulung und Erfahrung überlegen
war. »Seine äußere Erscheinung und seine grobkörnige Polemik machten sein
Auftreten immer zu einer unerfreulichen Angelegenheit. Seinen Ausführungen
fehlte jede Würze, sie nahmen stets die Form einer trockenen Aufzählung an.«
Wereschtschak erinnert sich einer »Agrardiskussion«, bei der Kobas
Waffengefährte Ordschonikidse »seinem Gegenredner, dem Sozialrevolutionär Ilja
Kartsewadse ins Gesicht schlug, wofür er dann von den Sozialrevolutionären
schwer verprügelt wurde«. Das ist nicht erfunden: der hitzige Ordschonikidse
behielt seine Vorliebe für »schlagende« Argumente noch in der Zeit bei, als er
schon ein bekannter sowjetischer Würdenträger geworden war. Lenin beantragte
deswegen sogar einmal, ihn aus der Partei auszuschließen.
Wereschtschak
war über das »mechanische Gedächtnis« Kobas erstaunt, dessen »kleiner Kopf mit
der niedrigen Stirn« sozusagen das ganze »Kapital« von Marx enthielt.
»Marxismus war das Gebiet, auf dem er nicht zu schlagen war. Es gab nichts, wofür er nicht sofort die entsprechende Formel von Marx hätte
beibringen können. Dieser Mensch machte auf die jungen, weniger in der Politik
bewanderten Mitglieder seiner Partei einen starken Eindruck.« Zu den »weniger
Bewanderten« gehörte Wereschtschak selbst. Dem jungen »Sozialrevolutionär« aus
der Schule der russisch-volkstümelnden belletristischen Soziologie mußte das
marxistische Gepäck Kobas imposant erscheinen. In Wirklichkeit war es
bescheiden genug. Koba war kein grübelnder Theoretiker und besaß weder Ausdauer
im Studium noch Disziplin im Denken. Von »mechanischem Gedächtnis« zu sprechen,
dürfte ebenfalls nicht richtig sein; sein Gedächtnis ist eng begrenzt,
empirisch, rein zweckbestimmt und trotz des seminaristischen Drills durchaus
nicht mechanisch; ein Bauerngedächtnis ohne weite Flügelspanne, ohne
synthetisches Vermögen, aber steif und hartnäckig, besonders, wenn es sich um
Rachegedanken handelt. Es ist vollständig falsch, zu sagen, daß Kobas Kopf mit
Zitaten für alle Lebenslagen angefüllt war. Koba war weder Bücherwurm noch
Erudit. Vom Marxismus hatte er sich aus Plechanow und Lenin die elementarsten
Sätze über den Klassenkampf und über die untergeordnete Bedeutung der Ideen im
Verhältnis zu den materiellen Faktoren angeeignet. Und wenn er auch diese
Elementarsätze noch versimpelte, so war er nichtsdestoweniger mit ihrer Hilfe
imstande, erfolgreich gegen die »Volkstümler« aufzutreten, so wie man selbst
mit dem allereinfachsten Revolver mit Erfolg jemand gegenübertreten kann, der
mit einem Bumerang bewaffnet ist. Die marxistische Doktrin als Ganzes blieb
Koba im Grunde völlig gleichgültig.
Wir erinnern
uns, wie Koba seinerzeit in den Gefängnissen von Batum und Kutaïs versucht
hatte, in die Geheimnisse der deutschen Sprache einzudringen; der Einfluß, den
die deutsche Sozialdemokratie auf die russische Partei ausübte, war zu jener
Zeit außerordentlich stark. Nur gelang es Koba ebensowenig, sich Marxens
Sprache zu eigen zu machen wie dessen Lehre. Im Gefängnis von Baku wandte er
sich dem Esperanto als der »Sprache der Zukunft« zu. Dieser Zug zeigt deutlich,
von welcher Art die geistige Ausrüstung Kobas war, dessen Lerneifer sich immer
auf der Linie des geringsten Widerstandes voranbewegte. Obwohl er acht Jahre in
Gefängnissen und in der Verbannung zubrachte, hat er nicht eine einzige fremde
Sprache wirklich erlernt, sein unglückseliges Esperanto nicht ausgenommen.
Die Politischen vermieden es im allgemeinen, sich
unter die Kriminellen zu mischen. Im Gegensatz dazu sah man Koba »allezeit in
der Gesellschaft von Räubern, Erpressern und der gerissensten Diebe«. Er fühlte
sich mit ihnen auf gleichem Fuße stehend. »Leute, die ein richtiges ›Ding
gedreht‹ hatten, imponierten ihm immer sehr. Und er sah auch die Politik als
ein ›Ding‹ an, das man ›drehen‹ und ›gut drehen‹ kann.« Eine treffende
Beobachtung; aber gerade sie widerlegt am besten die Bemerkung über das mit
gebrauchsfertigen Zitaten gespickte »mechanische Gedächtnis«. Der Umgang mit
Leuten von höheren geistigen Interessen als den seinigen war Koba lästig. Im
Politbüro der Leninschen Zeit schwieg er fast immer, war mürrisch und gereizter
Stimmung. Erst in Gesellschaft von Leuten mit primitiver Mentalität, die sich
nicht mit Gehirnarbeit belasten, wachte er auf und zeigte menschlichere Seiten.
Während des Bürgerkrieges, wenn einzelne Armeeteile, meistens die Kavallerie,
sich gehen ließen und sich Unfug und Ausschreitungen zuschulden kommen ließen,
pflegte Lenin zu sagen: »Sollten wir da nicht mal Stalin hinschicken? Der weiß
mit solchen Leuten umzugehen!«
Als Urheber
von Protestkundgebungen ist Koba im Gefängnis nicht selbst hervorgetreten, er
pflegte aber die Urheber zu unterstützen. »Deshalb erschien er der
Gefängnisöffentlichkeit als guter Kamerad.« Auch das ist gut beobachtet. Koba
ist nimmer und nirgendwo selbst der Urheber von irgend etwas gewesen. Aber er
war sehr wohl imstande, aus der Urheberschaft anderer Nutzen zu ziehen, die
eigentlichen Urheber voranzustoßen und sich selbst die Entscheidungsfreiheit
vorzubehalten. Was nicht sagen will, daß es Koba an Mut gefehlt hätte, nur
verstand er es, mit seinem Mut sparsam umzugehen. Das Gefängnisregime war eine
Mischung aus Grausamkeit und Laxheit. Innerhalb der Gefängnismauern erfreuten
sich die Gefangenen einer gewissen. Freiheit. Wurde aber die unscharf gezogene
Grenze einmal überschritten, so nahm die Gefängnisverwaltung ihre Zuflucht zur
bewaffneten Gewalt. Wereschtschak erzählt, wie am Ostersonntag des Jahres 1909
(es muß offenbar 1908 heißen) eine Kompanie Soldaten vom Regiment Saljan
ausnahmslos alle politischen Gefangenen zwang, Spießruten zu laufen. »Koba
marschierte unter den Kolbenschlägen, ohne den Kopf zu senken, ein Buch in der
Hand. Als es nachher von allen Seiten Schläge zu regnen begann, sprengte er
seine Zellentür mit dem Kübel auf, ungeachtet der drohenden
Bajonette.« Dieser Mensch voller Selbstbeherrschung war, wenn auch selten,
fähig, in blinde Wut zu geraten.
Der Moskauer
»Historiker« Jaroslawski berichtigt Wereschtschak folgendermaßen: »Als Stalin
durch die Soldatenreihen hindurchging, las er Marx ...« Marxens Name erscheint
hier aus demselben Grunde wie das Röslein in den Händen der heiligen Jungfrau
Maria. Die sowjetische Geschichtsschreibung besteht überhaupt nur aus solchen
Rosen. Koba, der unter den Kolbenschlägen »Marx« hochhält, wurde zum Thema der
sowjetischen Wissenschaft, Prosa und Poesie. Indes war ein solches Verhalten in
keiner Weise außergewöhnlich. Schläge in den Gefängnissen und Heldentum in den
Gefängnissen waren an der Tagesordnung. Pjatnitzki erzählt, wie nach seiner
Verhaftung in Wilna im Jahre 1902 ein Polizeibeamter vorschlug, ihn, der damals
noch ein ganz junger Arbeiter war, zum Abteilungschef zu schicken, der für die
Prügel berüchtigt war, mit denen er Geständnisse erzwang. Aber ein älterer
Polizeibeamter erklärte: »Der wird auch dort nichts sagen, das ist einer von
den ›Iskra›-Leuten!« Schon in jenen Jahren hatten sich die Revolutionäre aus
der Schule Lenins den Ruf erworben, unbeugsam zu sein. Kamo stachen die Ärzte
Nadeln unter die Fingernägel, um festzustellen, ob er wirklich, wie es den
Anschein hatte, alle Empfindungsfähigkeit verloren hatte, und nur weil er
jahrelang unerschütterlich solchen Prüfungen standhielt, gelang es ihm
schließlich, für unheilbar geisteskrank erklärt zu werden. Was sind im
Vergleich dazu ein paar Kolbenschläge? Es besteht kein Anlaß, Kobas Mut zu
unterschätzen, doch muß man dabei Zeit und Umwelt berücksichtigen.
Das
Gefängnisleben machte es Wereschtschak leicht, jenen Stalinschen Charakterzug
zu beobachten, der es ihm ermöglicht hat, so lange Zeit hindurch unbekannt zu
bleiben: »Das war seine Fähigkeit, andere vorzuschicken und selbst in der
hinteren Linie zu bleiben.« Folgen zwei Beispiele. Das einemal wurde im Gang
des Gebäudes, das den politischen Gefangenen vorbehalten war, ein junger
Georgier verprügelt. Das finstere Wort »Provokateur« machte die Runde. Nur die
Wachsoldaten waren schließlich imstande, der Prügelei ein Ende zu machen; der
blutüberströmte Körper wurde auf einer Tragbahre ins Gefängnislazarett
gebracht. Handelte es sich um einen Provokateur, und wenn ja, warum wurde er
nicht umgebracht? »Im Bailow-Gefängnis wurden erwiesene
Provokateure getötet«, bemerkt Wereschtschak nebenbei. »Niemand wußte etwas und
niemand verstand etwas; erst lange Zeit später wurde bekannt, daß das Gerücht
von Koba ausgegangen war.« Niemals hat festgestellt werden können, ob der
blutig Geschlagene tatsächlich ein Provokateur gewesen war. War er nur einer
von den Arbeitern, die sich gegen die Expropriationen ausgesprochen oder Koba
vorgeworfen hatten, Schaomyan denunziert zu haben?
Ein anderer
Fall. Auf den Treppenstufen, die zum Gebäude der »Politischen« hinaufführten,
stach ein als »der Grieche« bekannter Gefangener einen jungen Arbeiter nieder,
der eben erst ins Gefängnis eingeliefert worden war. Der Grieche bezeichnete
den Mann, den er getötet hatte, als einen Spion, obwohl er ihn niemals vorher
gesehen hatte. Dieser blutige Vorfall, der natürlich im ganzen Gefängnis große
Erregung hervorrief, blieb lange ungeklärt. Schließlich deutete der Grieche an,
er sei absichtlich »mißleitet« worden – die falsche Information war von Koba
ausgegangen.
Die
Kaukasier sind leicht in Erregung zu bringen, und das Messer sitzt ihnen
locker. Dem kalten und berechnenden Koba, der mit der Sprache und den
Gewohnheiten seiner Landsleute gut vertraut war, fiel es nicht schwer, einen
gegen den anderen aufzuhetzen. In beiden Fällen handelte es sich zweifellos um
Racheakte. Daß die Opfer den Urheber ihres Mißgeschicks kannten, daran war der
Anstifter nicht interessiert. Koba ist nicht geneigt, seine Gefühle mit
jemandem zu teilen, auch nicht die Befriedigung über eine gelungene Rache. Er zieht
vor, sie selbst und allein zu genießen. Beide Episoden, so übel sie sein mögen,
haben nichts Unwahrscheinliches; spätere Ereignisse machen sie um so
wahrscheinlicher ... Die späteren Ereignisse bereiten sich im Bailow-Gefängnis
vor. Koba sammelt Kräfte und Erfahrungen, Koba reift heran. Der Schatten, den
die farblose Gestalt des pockennarbigen ehemaligen Seminaristen wirft, wird
düsterer.
Fernerhin
berichtet Wereschtschak, aber nur noch vom Hörensagen, von den verschiedensten
gefährlichen Unternehmungen Kobas während seiner Parteitätigkeit in Baku: über
die Organisation von Falschmünzerbanden, über Raubüberfälle auf öffentliche
Kassen und andere Dinge mehr. »Er ist niemals für eine dieser Affären vor
Gericht gekommen, obwohl die Falschmünzer und die Expropriateure mit ihm
zusammen im Gefängnis waren.« Wenn sie seine Rolle gekannt
hätten, hätte ihn sicher einer unter ihnen verraten. »Diese Fähigkeit, sein
Ziel mit Hilfe anderer zu erreichen und dabei selbst völlig unbemerkt zu
bleiben, hat aus Koba einen verschlagenen Intriganten gemacht, der vor keinem
Mittel zurückschreckt und der sich jeder öffentlichen Rechenschaft und aller
Verantwortung entzieht.«
So wissen
wir über Kobas Leben im Gefängnis mehr als über seine Tätigkeit in der
Freiheit. Aber beiderorts blieb er sich selber treu. Über die Diskussionen mit
den Volkstümlern und die Unterhaltungen mit den Gaunern vergaß er seine
revolutionäre Organisation nicht. Beria informiert uns darüber, daß es Koba
gelang, vom Gefängnis aus eine regelmäßige Verbindung mit dem Bakuer Komitee
herzustellen. Das war sehr wohl möglich: dort, wo die politischen nicht
voneinander und von den kriminellen Gefangenen isoliert sind, ist es unmöglich,
sie ganz von der Außenwelt abzuschneiden. Eine der Ausgaben der illegalen Zeitung
wurde ausschließlich im Gefängnis vorbereitet. Der Puls der Revolution ging
schwach, aber er schlug weiter. Wenn das Gefängnis nicht Kobas Interesse für
die Theorie erhöhte, so brach es doch auch seinen Kampfgeist nicht.
Am 20.
September wurde Koba nach Solwitschegodsk im nördlichen Teil der Provinz
Wologda verschickt. Nur auf zwei Jahre verbannt zu werden, nicht nach Sibirien,
sondern ins europäische Rußland, nicht in ein Dorf, sondern in eine kleine
Stadt mit zweitausend Einwohnern und günstigen Möglichkeiten für die Flucht,
das hieß, mit Vorzug behandelt worden zu sein. Daraus geht klar hervor, daß die
Polizei nicht den bescheidensten Beweis gegen Koba in den Händen hatte. Die
äußerst billigen Lebenshaltungskosten in so weitab liegenden Regionen machten es
den Verbannten möglich, mit den paar Rubeln auszukommen, die ihnen jeden Monat
von der Regierung zugeteilt wurden; bei unvorhergesehenen Ausgaben halfen ihnen
Freunde und das revolutionäre Rote Kreuz. Wie Koba die neun Monate in
Solwitschegodsk verbrachte, was er tat, was er studierte, wissen wir nicht.
Darüber sind keinerlei Dokumente veröffentlicht worden, weder Schriften, noch
Tagebücher, noch Briefe. In den Akten der lokalen Polizeibehörde über den »Fall
Josef Dschugaschwili« ist unter »Betragen« zu lesen: »Grob, unverschämt und
respektlos den Behörden gegenüber.« Wenn »Respektlosigkeit« ein allen
Revolutionären gemeinsamer Zug war, so war die »Grobheit« eine individuelle
Eigenschaft Kobas.
Im Frühjahr 1909 erhielt Allilujew, der damals in Petersburg
lebte, von Koba aus der Verbannung einen Brief mit der Bitte um Angabe seiner
Adresse. »Und Ende Sommer desselben Jahres flüchtete Stalin aus der Verbannung
und kam nach Petersburg, wo ich ihn zufällig in einer Straße des
Litjeny-Viertels traf.« Stalin hatte Allilujew weder zu Hause noch auf seinem
Arbeitsplatz angetroffen und hatte lange ziellos in den Straßen umherlaufen
müssen. »Er war völlig erschöpft, als ich ihn zufällig auf der Straße traf.«
Allilujew brachte Koba bei dem Hausmeister eines Garderegiments unter, der mit
der Revolution sympathisierte. »Dort ruhte sich Stalin eine Weile aus, traf
sich mit einigen bolschewistischen Abgeordneten der Dritten Duma und reiste
dann wieder nach dem Süden ab, nach Baku.«
Wieder nach
Baku! Es war wohl kaum Lokalpatriotismus, was ihn dorthin zog. Vielmehr muß
angenommen werden, daß Koba in Petersburg völlig unbekannt war, daß die
Duma-Abgeordneten kein besonderes Interesse für ihn an den Tag legten, daß ihn
niemand zum Bleiben aufforderte oder ihm die Hilfe anbot, die jeder Illegale
unbedingt brauchte. »Wieder in Baku, ging er mit Energie daran, die
bolschewistische Organisation zu festigen ... Im Oktober 1909 ging er nach
Tiflis und organisierte und leitete den Kampf der Tifliser bolschewistischen
Organisation gegen die menschewistischen Liquidatoren.« Der Leser hat sicher
schon Berias Stil erkannt.
In der
illegalen Presse veröffentlichte Koba einige Artikel, die einzig und allein
deshalb interessant sind, weil sie von dem zukünftigen Stalin geschrieben worden
sind. In Ermangelung irgendwelcher hervorhebenswerter Dinge verleiht man heute
einem von Koba verfaßten und im Dezember 1909 vom ausländischen Parteiorgan
veröffentlichten Brief außergewöhnliche Bedeutung. Der »Brief aus dem Kaukasus«
stellt dem aktiven Industriezentrum Baku die leblose Beamtenstadt Tiflis mit
ihren Händlern und Handwerkern gegenüber und erklärt ganz richtig das
Übergewicht der Menschewiki in Tiflis mit dessen sozialer Struktur. Folgt eine
Polemik gegen Jordania, nach wie vor Führer der georgischen Sozialdemokratie,
der abermals die notwendige »Vereinigung der Kräfte der Bourgeoisie und des
Proletariats« proklamierte – auf eine Politik der Unversöhnlichkeit müßten die
Arbeiter verzichten, denn, so argumentierte Jordania, »je schwächer der
Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie ist, um so größer wird der
Sieg der bürgerlichen Revolution sein«. Koba vertrat die
entgegengesetzte These: »Je mehr sich die Revolution auf den Klassenkampf des
Proletariats stützt, das die Dorfarmut gegen den Großgrundbesitz und die
liberale Bourgeoisie führt, um so vollständiger wird der Sieg der Revolution
sein.« Das alles war im Grunde völlig richtig, enthielt aber durchaus nichts
Neues; seit dem Frühjahr 1905 war die gleiche Polemik unzählige Male wiederholt
worden. Wenn dieser Brief irgendeinen Wert für Lenin hatte, dann nicht, weil er
seine eigenen Ideen in der Form eines Schulaufsatzes wiederholte, sondern weil
er eine lebendige Stimme aus Rußland bedeutete, und zwar in einer Zeit, wo fast
alle Stimmen schwiegen. Nichtsdestoweniger wurde 1937 der »Brief aus dem
Kaukasus« zum »klassischen Beispiel für die leninistisch-stalinistische Taktik«
erklärt. »In unserer Literatur und im Unterricht«, schreibt ein Panegyriker,
»ist dieser inhaltsreiche und in seiner Tiefe und historischen Bedeutung
außergewöhnliche Artikel noch nicht genügend beleuchtet worden.«
Der gleiche
Geschichtsschreiber, ein gewisser Rabitschew, unterrichtet uns darüber, daß es
»im März und April 1910 endlich gelang, ein Russisches Büro des Zentralkomitees
zu schaffen. Stalin gehörte diesem Büro an. Alle Mitglieder des Büros wurden
aber verhaftet, bevor es seine Arbeit aufnehmen konnte«. Wenn das wahr ist, so
wäre Koba, zumindest der Form nach, im Jahre 1910 ins Zentralkomitee aufgenommen
worden; ein Meilenstein in seiner Biographie! Aber es ist nicht wahr. Fünfzehn
Jahre vor Rabitschew hat der alte Bolschewik Germanow (Frumkin) folgendes
erklärt: »Bei einer Zusammenkunft zwischen Nogin und dem Verfasser dieser
Zeilen wurde beschlossen, dem Zentralkomitee vorzuschlagen, als Russisches Büro
des Zentralkomitees folgende Liste mit fünf Namen zu bestätigen: Nogin,
Dubrowsky, Malinowsky, Stalin, Miljutin.« Es hat sich also nicht um eine
Entschließung des Zentralkomitees gehandelt, sondern um einen Vorschlag zweier
Bolschewiki. »Stalin war uns beiden persönlich bekannt«, fährt Germanow fort,
»als einer der besten und aktivsten Bakuer Parteiarbeiter. Nogin ging nach
Baku, um sich mit ihm zu besprechen; aber aus einer Reihe von Gründen konnte
Stalin nicht die Verpflichtungen eines Mitglieds des Zentralkomitees auf sich
nehmen.« Germanow gibt die hindernden Gründe nicht näher an. Nogin selbst
schrieb zwei Jahre später über seine Bakuer Reise: »Stalin (Koba) lebte in der
tiefsten Illegalität; er war damals im Kaukasus sehr bekannt und deshalb gezwungen, sich im Balachanischen Ölgebiet verborgen
zu halten.« Aus Nogins Bericht geht hervor, daß er Koba selbst überhaupt nicht
getroffen hat.
Das
Stillschweigen über die Gründe, die Stalin daran hinderten, in das Russische
Büro des Zentralkomitees einzutreten, suggeriert die bedeutsamsten
Schlußfolgerungen. Das Jahr 1910 war die Periode des tiefsten Niedergangs der
Bewegung, in dem die versöhnlerischen Tendenzen am weitesten verbreitet waren.
Im Januar fand in Paris eine Vollsitzung des Zentralkomitees statt, auf der die
Versöhnler einen knappen Sieg davontrugen. Es wurde beschlossen, das
Zentralkomitee in Rußland unter Beteiligung der Liquidatoren
wiederherzustellen; Nogin und Germanow gehörten zu den versöhnlerischen
Bolschewiki. Mit der Wiedererrichtung des »Russischen Büros«, das heißt der in
Rußland selbst illegal tätigen Abteilung des Zentralkomitees, wurde Nogin
beauftragt. Da es an bekannten Persönlichkeiten fehlte, wurden die
verschiedensten Versuche gemacht, Parteiarbeiter aus der Provinz heranzuziehen.
Unter ihnen Koba, den Nogin und Germanow als »einen der besten Parteiarbeiter
in Baku« kannten. Jedoch wurde das Projekt nicht verwirklicht. Der gut
unterrichtete Verfasser des deutschen Zeitungsartikels, von dem weiter oben die
Rede war, behauptet, daß, obgleich »die offiziellen bolschewistischen
Biographen versuchen, (seine) Expropriationen und den Ausschluß aus der Partei
ungeschehen zu machen... die Bolschewiki selbst doch immer gezögert haben, Stalin
an irgendeinen beachtenswerten Führungsposten zu stellen«. Man irrt wohl nicht,
wenn man annimmt, daß die Noginsche Mission deshalb fehlschlug, weil Koba erst
kurze Zeit vorher an einer »Kampfhandlung« teilgenommen hatte. Die Pariser
Tagung hatte die »Expropriateure« als Leute gebrandmarkt, die »von schlecht
verstandenem Parteiinteresse gelenkt« seien. Die für die Legalisierung
kämpfenden Menschewiki konnten auf keinen Fall mit einem bekannten Organisator
von Expropriationen zusammenarbeiten. Nogin begriff das scheinbar erst im
Verlauf der Unterhaltungen, die er mit den führenden Menschewiki im Kaukasus
hatte. Nie wurde ein Russisches Büro mit Koba als Mitglied gegründet. Vermerken
wir noch, daß von den beiden Versöhnlern, deren Schützling Stalin gewesen war,
der eine, Germanow, zu denen gehört, die spurlos verschwunden sind, während
Nogin nur durch seinen vorzeitigen Tod im Jahre 1924 davor bewahrt wurde, das
Schicksal der Rykow, Tomski, Germanow und all seiner
anderen engsten Freunde zu teilen.
Kobas Tätigkeit
war in Baku, mag er nun die erste, zweite oder dritte Geige gespielt haben,
zweifellos ein größerer Erfolg beschieden als in Tiflis. Doch gehört die
Vorstellung, die Bakuer Organisation sei eine einzige uneinnehmbare Festung des
Bolschewismus gewesen, ins Reich der Fabel. Lenin hat selbst unabsichtlich den
Boden für diese Fabel geschaffen, als er Ende 1911 die Bakuer Organisation
zusammen mit der von Kiew unter die »beispielgebenden und fortgeschrittensten
im Rußland der Jahre 1910 und 1911« einreihte, das heißt der Jahre des
vollständigen Zusammenbruchs und des beginnenden Wiederauflebens. »Die
Organisation von Baku bestand ohne Unterbrechung während der schwierigen Jahre
der Reaktion und nahm an allen Kundgebungen der Arbeiterbewegung aktiven Anteil«,
heißt es in einer Fußnote zum XV. Bande von Lenins Werken. Beide Beurteilungen,
die jetzt mit Kobas Tätigkeit in engsten Zusammenhang gebracht werden, haben
sich bei näherer Prüfung als völlig falsch erwiesen. In Wirklichkeit hat Baku
nach einem zeitweiligen Aufschwung die gleichen Stufen des Niedergangs
durchschritten wie die anderen Industriezentren des Landes, mit einer gewissen
Verspätung zwar, aber dafür mit noch schwerwiegenderen Begleiterscheinungen.
Stopani
schreibt darüber in seinen Memoiren: »Mit dem Beginn des Jahres 1910
verschwindet das politische und gewerkschaftliche Leben in Baku vollständig.«
Einige Überbleibsel der Gewerkschaften existierten noch eine Zeitlang, aber sie
standen unter dem Einfluß der Menschewiki. »Bald war es mit der bolschewistischen
Tätigkeit gänzlich aus, da viele Genossen verhaftet wurden und es überhaupt an
aktiven Leuten fehlte. Dazu kam das allgemeine Chaos überhaupt.« Noch schlimmer
war die Lage im Jahre 1911. Ordschonikidse, der Baku im März 1912 besuchte, als
die neue Flut schon im ganzen Lande merklich anzusteigen begann, schrieb ins
Ausland: »Gestern ist es mir endlich gelungen, mit einigen Arbeitern
zusammenzukommen... Es gibt hier keine Organisation und kein lokales Zentrum,
darum muß man sich mit privaten Diskussionen begnügen ...« Diese beiden
Bekundungen sind charakteristisch genug; erinnern wir uns darüber hinaus noch
der bereits angeführten Aussage Olminskis, daß »der Wiederaufstieg am
langsamsten in den Städten vor sich geht, wo es die meisten Expropriationen
gegeben hat (Baku und Saratow)«. Lenins Fehler in der
Einschätzung der Bakuer Organisation gehört in die Reihe der Irrtümer, denen
der Emigrant normalerweise unterworfen ist, wenn er von der Ferne her urteilen
soll, nur auf parteiische und unvollständige Informationen gestützt unter denen
sich sehr wohl übertrieben optimistische Informationen von Koba selbst befunden
haben können.
Das Bild der
allgemeinen Verhältnisse zeichnet sich klar genug ab: Koba nahm an der
Gewerkschaftsbewegung keinen wirklichen Anteil; die Gewerkschaftsbewegung war
zu jener Zeit der Hauptkampfschauplatz (Karinian, Stopani). Er sprach nicht auf
Arbeiterversammlungen (Wereschtschak), sondern lebte in der »tiefsten
Illegalität« (Nogin). Er konnte aus einer »Reihe von Gründen« nicht in das
Russische Büro des Zentralkomitees eintreten (Germanow). In Baku waren die »Ex«
zahlreicher als anderswo gewesen (Olminski) und ebenso individuelle Terrorakte
(Wereschtschak). Koba war mit der direkten Leitung der Bakuer »Kampfgruppen«
betraut (Wereschtschak, Martow und andere). Eine solche Tätigkeit verlangte
zweifellos das Untertauchen in die »tiefste Illegalität«, weit von den Massen.
Eine Zeitlang konnte die Existenz der illegalen Organisation mit geraubtem Geld
künstlich aufrechterhalten werden. Um so stärker machte sich die Reaktion
fühlbar und um so später begann die Wiedergeburt. Diese Schlußfolgerung hat
nicht nur biographische, sondern auch theoretische Bedeutung, sie rückt
bestimmte allgemeine Gesetze der Massenbewegung ins rechte Licht.
Am 24. März
1910 meldete der Gendarmeriehauptmann Martinow die Verhaftung von Josef
Dschugaschwili, unter dem Namen Koba bekannt, Mitglied des Bakuer Komitees,
»einer der aktivsten Parteiarbeiter, der eine führende Stellung einnimmt«
(vorausgesetzt, daß dieses Dokument nicht von Berias Hand korrigiert worden
ist). Im Zusammenhang mit dieser Verhaftung richtet sich ein anderer Polizist
an die nächsthöhere Instanz: »Im Hinblick auf die ständige Beteiligung«
Dschugaschwilis an revolutionärer Tätigkeit und seine »zweimalige Flucht«,
möchte er, Hauptmann Galimbatowsky, »vorschlagen, zum höchsten Strafmaß zu
greifen«. Man muß nicht glauben, daß er dabei an die Hinrichtung dachte: »das
höchste Strafmaß« unter den administrativ verordneten Strafen bedeutete
Verbannung in die entlegensten Orte Sibiriens für die Zeit von fünf Jahren.
Koba war
unterdes im Bakuer Gefängnis, das er nun schon gut kannte. Die politische Lage
im Lande und das Regime in den Gefängnissen hatten sich in
den vergangenen anderthalb Jahren grundlegend geändert. Man schrieb 1910. Die
Reaktion war auf der ganzen Linie siegreich. Nicht nur die Massenbewegung, auch
die Expropriationen, die Terrorakte, die individuellen Verzweiflungstaten waren
auf dem Tiefpunkt angelangt. Das Gefängnis war weniger lärmend und viel
strenger geworden. Von gemeinschaftlichen Diskussionen war keine Rede mehr.
Koba hatte Zeit genug, Esperanto zu lernen, sofern er nicht inzwischen seine
Begeisterung für die Sprache der Zukunft verloren hatte. Am 27. August wurde
auf Anordnung des kaukasischen Generalgouverneurs Dschugaschwili der Aufenthalt
in Transkaukasien für fünf Jahre untersagt. Doch die Vorschläge Hauptmann
Galimbatowskys, der offenbar über keine schwerwiegenden Beweise verfügte,
fanden in Petersburg taube Ohren: Koba wurde in die Provinz Wologda
zurückgeschickt, um dort die unterbrochene zweijährige Verbannung zu beenden.
Die Petersburger Behörden erblickten offensichtlich in Josef Dschugaschwili
noch keine ernsthafte Gefahr.