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Leo Trotzki: Stalin. Viertes Kapitel - Die Periode der Reaktion

Portraits
Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein

Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
 

Viertes Kapitel.
Die Periode der Reaktion

Das Privatleben der Revolutionäre in der Illegalität war auf ein Minimum zurückgeschraubt und verdrängt; dennoch hatten auch die Revolutionäre ein Privatleben. Gleiche Ideen, gemeinsamer Kampf, gemeinsame Gefahren, die gleiche Abgeschnittenheit von der übrigen Welt – das schuf ein starkes Band. Paare fanden sich in der Illegalität, wurden durch das Gefängnis getrennt, suchten einander wieder in der Verbannung. Vom Privatleben des jungen Stalin wissen wir wenig; dies wenige ist für die Beurteilung des Menschen Stalin um so wertvoller.
»Er heiratete im Jahre 1903«, berichtet Iremaschwili, »seinen eigenen Auslassungen nach war die Ehe glücklich. Gewiß, von der Gleichberechtigung der Geschlechter, die er als die Grundform der Ehe im neuen Staat propagierte, war in seinem eigenen Heim nichts zu spüren. Entsprach es doch seinem Charakter überhaupt nicht, irgendeine andere Person als gleichberechtigt anzusehen. Die Ehe war glücklich, weil seine Frau, deren Intelligenz an die seine nicht heranreichte, ihn als eine Art Halbgott betrachtete, und weil sie als Georgierin in der geheiligten Tradition aufgewachsen war, die das Weib zum Dienen verpflichtet.« Iremaschwili selbst, obwohl er sich für einen Sozialdemokraten hält, bekennt sich mit fast religiöser Ehrfurcht zu dieser Tradition, die aus der georgischen Frau im Grunde eine Familiensklavin macht. Er verleiht der Frau Kobas dieselben Züge, die er seinerzeit der Mutter Keke zugeschrieben hatte: »Diese echt georgische Frau ... wachte mit dem ganzen Herzen über ihres Gatten Wohlergehen. Zahllose Nächte verbringt sie inbrünstig betend, auf ihren Sosso wartend, der an geheimen Zusammenkünften teilnimmt. Sie betete dafür, daß er ablassen möge von den Ideen, die Gott mißfallen, und daß er sich bekehren möge zum mühseligen, aber friedlichen und selbstgenügsamen Familienleben.«
Nicht ohne Erstaunen vernehmen wir hier, daß Koba, der sich im Alter von dreizehn Jahren von der Religion abgewandt hatte, eine naiv und fest gläubige Frau heiratete. Das würde zu einem gut bürgerlichen Milieu passen, wo sich der Ehegatte als einen Freigeist betrachtet oder sich mit dem freimaurerischen Ritual die Zeit vertreibt, während die Frau Gemahlin nach dem letzten Ehebruch zum Priester beichten geht. Für russische Revolutionäre aber hatten diese Dinge weitaus größere Bedeutung. Das innerste Element ihrer revolutionären Weltanschauung war nicht Freigeisterei, sondern kämpferischer Atheismus. Wo hätten sie persönliche Toleranz einer Religion gegenüber hergenommen, die unauflöslich mit all dem verbunden war, gegen das sie unter ständiger persönlicher Gefahr kämpften? Unter den Arbeitern, die frühzeitig heirateten, fand man nicht wenig Fälle, in denen der Mann nach der Heirat Revolutionär geworden war und die Frau hartnäckig am alten Glauben festhielt. Doch führte das auch oft genug zu dramatischen Konflikten. Der Mann wollte vor der Frau sein neues Leben verborgen halten und entfernte sich mehr und mehr von ihr. In anderen Fällen gelang es dem Mann, die Frau für die eigenen Auffassungen zu gewinnen, und er brachte sie auf diese Weise mit ihren Eltern auseinander. Die jugendlichen Arbeiter beklagten sich oft darüber, daß es schwer sei, junge Mädchen zu finden, die sich vom alten Aberglauben losgelöst hatten. Unter der studentischen Jugend war es leichter, eine Lebensgefährtin zu finden. Es gibt kaum ein Beispiel dafür, daß ein revolutionärer Intellektueller eine kirchengläubige Frau geheiratet hätte. Nicht, daß es in diesem Punkte irgendeine Regel gegeben hätte. So etwas wäre einfach mit den Sitten, den Ansichten und Gefühlen dieses Milieus unvereinbar gewesen. Koba stellt zweifellos eine seltene Ausnahme dar.
Hier hat sich aus der Gegensätzlichkeit der Ansichten heraus kein Drama entwickelt. »Dieser innerlich so unruhige Mensch, der sich auf Schritt und Tritt von der zaristischen Polizei beobachtet fühlte, konnte nur in seinem ärmlichen Heim Liebe finden. Nur seine Frau, sein Kind und seine Mutter nahm er von der Geringschätzung aus, die er allen andern gegenüber zur Schau trug.« Das Familienidyll, das Iremaschwili zeichnet, könnte zu der Schlußfolgerung verführen, daß Koba von lauer Toleranz gegen die gewesen wäre, die ihm am nächsten standen. Das paßt aber wenig zur tyrannischen Natur dieses Mannes; was als Toleranz erscheint, ist in Wirklichkeit moralische Gleichgültigkeit gewesen. Koba suchte in seiner Frau nicht die Kameradin, die fähig wäre, seine Ideen oder zumindest seinen Ehrgeiz mit ihm zu teilen; eine ergebene und unterwürfige Ehegattin genügte ihm. Seinen Ansichten nach Marxist, war er seinem Gefühlsleben und seinen geistigen Bedürfnissen nach der Sohn des Osseten Beso aus Didi-Lilo. Er verlangte von seiner Frau nicht mehr als das, was sein Vater bei der stumm duldenden Keke gefunden hatte.
Iremaschwilis Zeitangaben sind im allgemeinen nicht ganz einwandfrei, aber sie sind dort, wo es sich ums private Leben handelt, zuverlässiger als auf politischem Gebiet. Immerhin ruft das für die Eheschließung angegebene Datum, 1903, Zweifel hervor. Denn Koba wurde im April 1902 verhaftet und kam im Februar 1904 aus der Verbannung zurück. Möglich ist, daß die Heirat im Gefängnis stattgefunden hat; das kam nicht selten vor. Möglich ist aber auch, daß sie erst nach seiner Rückkehr aus der Verbannung vollzogen wurde, Anfang 1904. In diesem Falle bot die Eheschließung in der Kirche für den »Illegalen« sicherlich gewisse Schwierigkeiten, doch waren bei den primitiven Sitten jener Epoche besonders im Kaukasus die polizeilichen Hindernisse, die etwa auftauchen konnten, nicht unüberwindlich. Wenn Kobas Hochzeit nach der Rückkehr aus der Verbannung stattgefunden hat, dann wäre seine politische Passivität im Jahre 1904 teilweise erklärt.
Kobas Frau – von der wir nicht einmal den Namen wissen – starb, gewissen Informationen nach, im Jahre 1907 an Lungenentzündung. Zu diesem Zeitpunkt waren die beiden Sossos schon keine Freunde mehr. »Seine heftigsten Angriffe richteten sich nunmehr gegen uns, seine ehemaligen Freunde«, klagt Iremaschwili. »Er griff uns auf jeder Versammlung, bei jeder Diskussion in der wüstesten und skrupellosesten Weise an und suchte überall Gift und Haß unter uns auszustreuen. Wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte, hätte er uns mit Feuer und Schwert ausgerottet ... Aber die überwältigende Mehrheit der georgischen Marxisten blieb mit uns. Das steigerte seine Wut nur noch mehr.« Die politische Entfremdung hinderte Iremaschwili nicht, Koba beim Tode seiner Frau einen Beileidsbesuch abzustatten – so stark war die georgische Tradition verwurzelt. »Er war sehr niedergeschlagen, doch empfing er mich in herzlicher Weise, wie in alten Tagen. Sein bleiches Gesicht spiegelte den Schmerz wider, den diesem harten Manne der Tod seiner treuen Lebensgefährtin verursacht hatte. Die Erschütterung seiner Gefühle... muß stark und anhaltend gewesen sein, denn er war unfähig, sie vor Außenstehenden zu verbergen.«
Die Verstorbene wurde mit allen Gebräuchen des orthodoxen Ritus beigesetzt. Ihre Familie bestand darauf, und Koba widersetzte sich nicht. »Als der kleine Trauerzug am Friedhofseingang angelangt war«, erzählt Iremaschwili, »drückte mir Koba heftig die Hand, zeigte auf die Bahre und sagte: ›Sosso, dieses Wesen hat mein steinernes Herz weicher gemacht; sie ist tot, und mit ihr sind meine letzten warmen Gefühle gegenüber allen Menschenwesen gestorben.‹ Und, seine Rechte aufs Herz legend: ›Da drinnen ist es leer geworden, so unsagbar leer!‹« Solche Worte können theatralisch und unnatürlich scheinen, indes können sie durchaus wahrhaftig sein, nicht nur, weil es sich um einen noch jungen Mann handelt, der von tiefem Schmerz überwältigt ist – wir werden auch später noch bei Stalin diese Neigung zum übertriebenen Pathos finden, die bei verhärteten Naturen nicht gar so selten ist. Den unbeholfenen Stil, in dem er seine Gefühle ausdrückte, hatte er von den seminaristischen Übungen für Kanzelreden beibehalten.
Seine verstorbene Frau hinterließ Koba einen zarten Jungen mit feinen Zügen. In den Jahren 1919 bis 1920 studierte er auf dem Tifliser Kollegium, an dem Iremaschwili damals Lehrer war. Bald darauf ließ ihn der Vater nach Moskau kommen. Im Kreml werden wir Jascha wiederfinden. Das ist alles, was wir von dieser Ehe wissen, die zeitlich (1903-1907) in die Periode der Ersten Revolution gehört. Dieses Zusammentreffen ist nicht zufällig; der Rhythmus des Privatlebens der Revolutionäre war eng verbunden mit dem Rhythmus der großen Ereignisse.
»Von dem Tag an, an dem er sein Weib begrub«, betont Iremaschwili, »verlor er die letzte Spur menschlichen Fühlens. Sein Herz füllte sich mit jenem unsagbaren Haß, den schon der unerbittliche Vater in die Seele des Kindes gesenkt hatte. Mit Hilfe von Sarkasmen unterdrückte er jeden immer seltener auftretenden moralischen Impuls. Unnachgiebig gegen sich selbst, wurde er unnachgiebig allen anderen Menschen gegenüber.« So stand es um ihn, als die Periode der Reaktion im Lande einsetzte.
Die ersten Massenstreiks in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre hatten das Heraufkommen der Revolution angekündigt; doch hatte die Durchschnittszahl der Streikenden nicht einmal 50000 pro Jahr betragen. 1905 stieg diese Zahl plötzlich auf zwei und dreiviertel Millionen an; 1906 fiel sie auf eine Million; 1907 ging sie auf eine dreiviertel Million hinunter, diejenigen Streikenden inbegriffen, die an mehreren Streiks teilgenommen haben. Das ist das Zahlenbild, das die drei Revolutionsjahre bieten. Nie zuvor hatte die Welt solch eine Streikwelle gesehen! 1908 beginnen die Jahre der Reaktion, die Zahl der Streikenden fällt auf 174000, 1909 auf 64000, 1910 auf 50000. Aber während die Kampfkraft des Proletariats rapide sank, setzten die vom Proletariat erweckten Bauern ihre Offensive verstärkt fort. In den Monaten der ersten Duma nahm die Brandschatzung von Großgrundbesitzern besonders erheblichen Umfang an. Es folgte eine Welle von Soldatenunruhen. Nach der Niederschlagung der Meutereien von Sveaborg und Kronstadt im Juli 1906 faßte die Monarchie neuen Mut, führte die Ausnahmegerichte ein und fälschte mit Hilfe des Senats die Wahlgesetze. Das gewünschte Ergebnis erzielte sie dennoch nicht; die zweite Duma stellte sich als noch radikaler heraus als die erste.
Im Februar 1907 charakterisierte Lenin die politische Situation des Landes mit folgenden Worten: »Hemmungsloseste, schamloseste Willkür ... Die reaktionärsten Wahlgesetze Europas. Die revolutionärste Volksvertretungs-Körperschaft im rückständigsten aller Länder!« Und hier seine Schlußfolgerung: »Wir stehen vor einer neuen, noch viel gewaltigeren revolutionären Krise.« Diese Schlußfolgerung stellte sich als irrtümlich heraus. Die Revolution war noch stark genug, um sich innerhalb der Arena des zaristischen Pseudo-Parlamentarismus bemerkbar zu machen, aber sie war bereits gebrochen; ihre Zuckungen wurden schwach und schwächer.
Die sozialdemokratische Partei machte einen ähnlichen Prozeß durch. Ihrer Mitgliederzahl nach wuchs sie ständig, aber ihr Einfluß auf die Massen ging zurück. Hundert Sozialdemokraten brachten nicht mehr so viel Arbeiter auf die Straße wie zehn Sozialdemokraten ein Jahr zuvor. Die verschiedenen Seiten der revolutionären Bewegung als eines einheitlichen historischen Prozesses und ganz allgemein als eines lebendigen Entwicklungsvorgangs sind ihrem Inhalt und ihrem Rhythmus nach weder einförmig noch harmonisch. Nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Kleinbürger wollten sich, indem sie links wählten, für ihre Niederlage am Zarismus rächen, aber zu einer neuen Erhebung waren sie nicht länger imstande. Ohne den Apparat der Sowjets und vom direkten Kontakt mit den Massen abgeschnitten, die bald völlig in Apathie verfielen, spürten die aktivsten Arbeiter die Notwendigkeit einer revolutionären Partei. So waren also der linke Umschwung der Duma und das Anwachsen der Sozialdemokratie diesmal nicht Symptome des Aufstiegs der Revolution, sondern ihres Niedergangs.
Kein Zweifel, daß Lenin dies damals schon zugab; solange es aber nicht durch die Erfahrung endgültig bestätigt war, gründete er seine Politik weiterhin auf die Perspektive der Revolution. Das war die Grundregel dieses Strategen. »Die revolutionäre Sozialdemokratie«, schrieb er im Oktober 1906, »muß als erste den Weg des entschlossensten und direktesten Kampfes betreten und als letzte indirekte Kampfmittel anwenden.« Unter direkten Kampfmitteln verstand er Streiks, Kundgebungen, den Generalstreik, Zusammenstöße mit der Polizei, den Aufstand. Der indirekte Weg bedeutete die Ausnützung der legalen Möglichkeiten, mit Einschluß des Parlamentarismus, zur Sammlung der Kräfte. Diese Strategie barg unvermeidlicherweise die Gefahr in sich, daß Methoden des bewaffneten Kampfes noch in einem Augenblick angewendet wurden, wo die objektiven Bedingungen dafür nicht mehr vorhanden waren. Doch wog diese taktische Gefahr auf der Waage der revolutionären Partei unendlich leichter als die strategische Gefahr, außerhalb der Ereignisse zu bleiben und eine revolutionäre Situation ungenützt vorübergehen zu lassen.
Der Fünfte Parteitag vom Mai 1907 in London ist wegen der außerordentlich hohen Zahl der Teilnehmer bemerkenswert; in der Halle einer »sozialistischen« Kirche waren 302 Delegierte (ein Delegierter für 500 Parteimitglieder) mit vollem Stimmrecht versammelt, ungefähr 50 Delegierte mit beratender Stimme und eine große Anzahl Gäste. Unter den Delegierten waren 90 Bolschewiki und 85 Menschewiki. Die Delegation der Nationalitäten bildeten das »Zentrum« zwischen diesen beiden Flügeln. Auf dem vorhergehenden Parteitag waren Vertreter für insgesamt 13 000 Bolschewiki und 18 000 Menschewiki (je ein Delegierter für 300 Parteimitglieder) erschienen. In den zwölf Monaten zwischen dem Stockholmer Parteitag und dem von London war die russische Sektion der Partei von 31 000 auf 77 000 Mitglieder angewachsen, das heißt, ihre Mitgliederzahl war um das Zweieinhalbfache gestiegen. Je schärfer der Fraktionskampf, um so höher wurden natürlich die Ziffern. Doch waren zweifellos während des ganzen verflossenen Jahres ständig fortgeschrittene Arbeiter der Partei beigetreten. Zugleich wuchs der linke Flügel verhältnismäßig schneller als die gegnerische Fraktion. In den Sowjets des Jahres 1905 hatten die Menschewiki die Oberhand gehabt, die Bolschewiki waren eine bescheidene Minderheit gewesen. Anfang 1908 waren beide Richtungen in Petersburg ungefähr gleich stark. In der Zeit während der ersten und der zweiten Duma bekamen die Bolschewiki immer mehr das Übergewicht; im Augenblick der zweiten Duma hatten sie schon die absolute Führung über die fortschrittlichen Arbeiter. Den angenommenen Resolutionen nach zu urteilen, war Stockholm ein menschewistischer Kongreß gewesen, London war ein bolschewistischer.
Diese Verschiebung nach links innerhalb der Partei wurde von den Behörden aufmerksam verfolgt. Kurz vor dem Parteitag erklärte das Polizeiministerium den örtlichen Dienststellen: »Ihrer gegenwärtigen Haltung nach stellen die menschewistischen Gruppen keine so ernste Gefahr dar wie die bolschewistischen.« In einem der laufenden Berichte über die Vorgänge auf dem Parteitag, die dem Polizeiminister von einem seiner Auslandsagenten zugingen, heißt es: »Unter den Rednern, die in den Diskussionen einen extremistischen revolutionären Standpunkt vertreten, sind Stanislaw (Bolschewik), Trotzky, Pokrowski (Bolschewik), Tyszko (Polnische Sozialdemokratie); den opportunistischen Gesichtspunkt vertreten Martow und Plechanow (Führer der Menschewiki).« »Man kann deutlich beobachten«, fährt der Ochrana-Agent, nachdem er diese Einschätzung gegeben hat, fort, »daß die Sozialdemokratie eine Schwenkung zu revolutionären Kampfmethoden vornimmt ... Der Einfluß der Menschewiki war infolge der Duma gestiegen, er ging zurück, als sich die Machtlosigkeit der Duma herausstellte, und überließ das Feld von neuem den Bolschewiki, oder genauer gesagt den extremen revolutionären Strömungen.« In Wirklichkeit waren, wie schon gesagt, die inneren Verschiebungen im Proletariat viel komplizierter und auch viel widerspruchsvoller. Die fortgeschrittenste Schicht wanderte unter dem Einfluß der Erfahrungen nach links ab, die Massen, unter dem Einfluß der Niederlage, nach rechts; die Stickluft der Reaktion lagerte schon über dem Parteitag. »Unsere Revolution macht eine schwierige Zeit durch«, sagte Lenin auf der Sitzung vom 12. Mai. »Es bedarf all unserer Willenskraft, der ganzen Härte und Festigkeit einer im Kampf gestählten revolutionären Partei, um Zweifel nicht aufkommen zu lassen und um der Schwäche, der Gleichgültigkeit, der Neigung zur Fahnenflucht zu widerstehen.«
»In London«, schreibt Stalins französischer Biograph, »hat Stalin zum erstenmal Trotzky gesehen. Aber letzterer hat wahrscheinlich keine Notiz von ihm genommen. Der Vorsitzende des Petersburger Sowjets ist nicht der Mann, der schnell Verbindungen anknüpft und sich mit jemandem einläßt, mit dem er keine echten geistigen Berührungspunkte besitzt.« Ob das nun richtig ist oder nicht, Tatsache ist, daß ich erst aus dem Buch Souvarines von der Anwesenheit Kobas auf dem Londoner Parteitag erfahren habe; später habe ich die Bestätigung dafür in den Tagungsprotokollen gefunden. Wie schon in Stockholm, hat Iwanowitsch auch am Londoner Parteitag nicht als einer der 302 Delegierten mit voll gültiger Stimme teilgenommen, sondern gehörte zu den 42 Delegierten mit beratender Stimme. Der Bolschewismus war in Georgien so schwach geblieben, daß Koba in Tiflis nicht die notwendigen 500 Stimmen zu mustern vermochte! »Selbst in Kobas und meiner Vaterstadt«, schreibt Iremaschwili, »gab es nicht einen einzigen Bolschewiken.« Das eindeutige Übergewicht des Menschewismus im Kaukasus wurde auf dem Parteitag von Kobas Rivalen Schaomyan, führendem kaukasischen Bolschewik und späterem Mitglied des Zentralkomitees, zugegeben. »Die kaukasischen Menschewiki«, klagte er, »benutzen ihre zahlenmäßige Überlegenheit und ihr offizielles Übergewicht im Kaukasus dazu, um mit allen Mitteln zu verhindern, daß Bolschewiki gewählt werden.« In einer vom selben Schaomyan und von Iwanowitsch unterzeichneten Erklärung lesen wir: »Die kaukasische menschewistische Organisation setzt sich fast ausschließlich aus dem Kleinbürgertum der Städte und Dörfer zusammen.« Von den 18 000 Parteimitgliedern im Kaukasus waren nicht mehr als 6000 Arbeiter, auch von diesen waren die meisten Menschewiki.
Die Zuerteilung einer beratenden Stimme an Iwanowitsch war von einem pikanten Zwischenfall begleitet. Als die Reihe an Lenin gekommen war, das Präsidium des Parteitags einzunehmen, schlug dieser vor, die Resolution der Mandatskommission, die empfahl, vier Delegierten, darunter Iwanowitsch, die beratende Stimme zuzuerkennen, ohne Diskussion anzunehmen. Der unermüdliche Martow schoß von seinem Sitz auf: »Ich verlange, daß man uns erklärt, an wen diese beratenden Stimmen gegeben werden. Wer sind diese Leute da, woher kommen sie?« Lenins Antwort: »Ich weiß es wirklich nicht, aber der Parteitag sollte der einstimmigen Meinung der Mandatsprüfungskommission Vertrauen schenken!« Höchstwahrscheinlich besaß Martow schon einige Informationen über den besonderen Charakter von Iwanowitschs Tätigkeit – wir werden gleich noch darauf kommen – und Lenin beeilte sich aus diesem Grunde, die drohende Gefahr abzuwenden, indem er die Einstimmigkeit der Mandatsprüfungskommission vorschützte. Jedenfalls konnte Martow sich erlauben, von »diesen Leuten da« als von Unbekannten zu sprechen – »wer sind sie, woher kommen sie« – und Lenin seinerseits beanstandete die Charakterisierung nicht, sondern bestätigte sie. Stalin war 1907 noch eine unbekannte Größe, nicht nur in der Partei überhaupt, sondern selbst unter den dreihundert Parteitagsdelegierten. Der Vorschlag der Mandatsprüfungskommission wurde mit einer erheblichen Zahl von Stimmenthaltungen angenommen.
Wichtiger ist, daß Iwanowitsch nicht ein einziges Mal von der Möglichkeit Gebrauch machte, die ihm seine beratende Stimme bot. Der Parteitag dauerte fast drei Wochen; die Debatten waren umfassend und ausgedehnt. Aber Iwanowitsch figuriert nicht unter den zahlreichen Rednern. Nur seine Unterschrift erscheint unter zwei kurzen schriftlichen Erklärungen, die von den kaukasischen Bolschewiki zum Thema ihrer lokalen Konflikte mit den Menschewiki abgegeben werden, und auch nur an dritter Stelle. Sonst hinterließ Iwanowitschs Anwesenheit auf dem Kongreß keine Spuren. Um diese Tatsache in ihrer ganzen Bedeutung zu erfassen, muß man die verborgenen Hintergründe des Mechanismus dieses Parteitags kennen. Jede der einzelnen Fraktionen und der nationalen Organisationen tagte in den Pausen zwischen den offiziellen Sitzungen getrennt voneinander, um die eigene Linie festzulegen und die eigenen Redner zu bestimmen. Die bolschewistische Fraktion hielt es also im Verlauf dreier Wochen voller Diskussionen, an denen alle einigermaßen bemerkenswerten Parteimitglieder teilnahmen, nicht für angebracht, Iwanowitsch mit einer einzigen Debattenrede zu beauftragen.
Gegen Ende einer der letzten Sitzungen sprach ein junger Delegierter aus Petersburg. Alle Welt beeilte sich, den Saal zu verlassen, und niemand hörte zu. Der Redner sah sich gezwungen, auf einen Stuhl zu steigen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Trotz der mißgünstigen Umstände brachte er es fertig, eine immer größere Anzahl von Delegierten um sich zu versammeln und schließlich die Ruhe im Saal wiederherzustellen. Diese Ansprache machte aus dem Neuling ein Mitglied des Zentralkomitees. Iwanowitsch, zum Schweigen verurteilt, hat diesen Erfolg des jungen Unbekannten – Sinowjew war damals fünfundzwanzig Jahre alt – wahrscheinlich ohne Sympathie, aber auch neidlos hingenommen. Keine Seele kümmerte sich um den ehrgeizigen Kaukasier mit der unausgenützten beratenden Stimme! Der Bolschewik Gandurin, der zu den einfachen Tagungsteilnehmern gehörte, erzählt in seinen Lebenserinnerungen folgendes: »In den Pausen bildeten wir gewöhnlich einen Kreis um diesen oder jenen bedeutenden Führer und bombardierten ihn mit Fragen.« Gandurin erwähnt unter den Delegierten Litwinow, Woroschilow, Tomski und andere damals noch verhältnismäßig unbekannte Bolschewiki. Stalin erwähnt er nicht ein einziges Mal. Und das, obwohl er seine Memoiren 1931 geschrieben hat, als es schon viel schwieriger war, Stalin zu vergessen, als sich seiner zu erinnern.
Unter den in das neue Zentralkomitee gewählten Mitgliedern waren die Bolschewiki Mjeschkowsky, Rozkow, Theodorewitsch und Nogin. Ersatzleute wurden Lenin, Bogdanow, Krassin, Sinowjew, Rykow, Schanzer, Sammer, Leitheisen, Taratuta und A. Smirnow. Die bekanntesten Fraktionsführer wurden zu Ersatzleuten gewählt, damit diejenigen, die in Rußland selbst tätig sein konnten, in den Vordergrund traten. Iwanowitsch war weder unter den Mitgliedern noch unter den Ersatzmännern. Es wäre unrecht, den Grund dafür in irgendwelchen Manövern der Menschewiki zu suchen: in Wirklichkeit bestimmte jede Fraktion selbst ihre Kandidaten. Einige der bolschewistischen Mitglieder des Zentralkomitees, wie Sinowjew, Rykow, Taratuta, A. Smirnow, stammten aus derselben Generation wie Iwanowitsch und waren sogar jünger als er.
Auf der letzten Sitzung der bolschewistischen Fraktion, schon nach Schluß des Parteitags, wurde eine geheime bolschewistische Zentrale gewählt, »B. Z.« genannt, die sich aus fünfzehn Mitgliedern zusammensetzte. Unter ihnen befinden sich die Theoretiker und »Literaten« von damals und von später, als da sind: Lenin, Bogdanow, Pokrowski, Rozkow, Sinowjew, Kamenew sowie die bedeutendsten Organisatoren: Krassin, Rykow, Dubrowski, Nogin und andere. Auch diesem Kollegium hat Iwanowitsch nicht angehört. Die Bedeutung dieser Tatsache springt in die Augen. Ins Zentralkomitee konnte Stalin nicht aufgenommen werden, weil er nicht der ganzen Partei bekannt war, oder weil – nehmen wir das für einen Augenblick an – die kaukasischen Menschewiki ihm gegenüber besonders feindselig eingestellt waren. Wenn er aber Gewicht und Einfluß innerhalb seiner eigenen Fraktion gehabt hätte, wäre er zwangsläufig Mitglied der Bolschewistischen Zentrale geworden, die im Kaukasus notwendig einen autorisierten Vertreter brauchte. Iwanowitsch selbst wird von einem Sitz in der »B.Z.« geträumt haben – auch dort war für ihn kein Platz.
Warum ist denn Koba überhaupt nach London gegangen? Als Delegierter konnte er die Hand nicht heben. Als Redner war er überflüssig. In den geschlossenen Sitzungen der bolschewistischen Fraktion spielte er offensichtlich überhaupt keine Rolle. Daß er nur gekommen wäre, um zu hören und zu sehen, ist unwahrscheinlich. Er muß andere Dinge vorgehabt haben. Was für welche?
Der Parteitag endete am 19. Mai. Schon am 1. Juni forderte der Ministerpräsident Stolypin von der Duma den Ausschluß der 55 sozialdemokratischen Abgeordneten und die Ermächtigung zur Verhaftung von 16 unter ihnen. Ohne die Zustimmung der Duma abzuwarten, nahm die Polizei schon in der Nacht zum 2. Juni Verhaftungen vor. Am 3. Juni wurde die Duma für aufgelöst erklärt und im Anschluß an diesen Staatsstreich der Regierung ein neues Wahlgesetz erlassen. Gleichzeitig fanden von langer Hand vorbereitete Massenverhaftungen im ganzen Lande statt; vor allem Eisenbahner wurden eingekerkert, um einem Generalstreik vorzubeugen. Aufstandsversuche in der Schwarzmeerflotte und in einem Kiewer Regiment endeten mit einer Niederlage. Die Monarchie triumphierte. Wenn sich Stolypin im Spiegel betrachtete, sah er das Bildnis des Heiligen Georg, des sieghaften Drachentöters.
Der offenbar gewordene Niedergang der Revolution rief eine Reihe neuer Krisen in der Partei hervor und auch in der bolschewistischen Fraktion, die in ihrer Mehrheit für den Boykott der Duma war. Es war dies eine fast instinktive Reaktion gegen die Gewaltmaßnahmen der Regierung, aber es war auch gleichzeitig ein Versuch, die eigene Schwäche mit einer radikalen Geste zu verdecken. Lenin hielt sich nach dem Parteitag zur Erholung in Finnland auf; dort überlegte er sich die Dinge von allen Seiten und entschied sich energisch gegen den Boykott. Seine Stellung in der eigenen Fraktion war nicht gerade einfach. Es ist nicht so leicht, aus der revolutionären Hochspannung wieder in die nüchterne Alltagsarbeit zurückzufinden. »Mit Ausnahme von Lenin und Rozkow«, schrieb Martow, »haben sich alle prominenten Vertreter der bolschewistischen Fraktion (Bogdanow, Kamenew, Lunatscharsky, Wolsky usw.) für den Boykott ausgesprochen.« Das Zitat ist deshalb von Interesse, weil es unter den »prominenten Vertretern« nicht nur Lunatscharsky, sondern auch den längst vergessenen Wolsky aufzählt, ohne Stalin zu nennen. Als die offizielle Moskauer Historische Zeitschrift 1924 Martows Bezeugung veröffentlichte, kam es der Redaktion nicht in den Sinn, danach zu fragen, wofür Stalin in jener Zeit gestimmt haben mochte.
Koba war Boykottist. Außer direkten Zeugnissen über diesen Punkt, die allerdings von Menschewiki stammen, gibt es einen indirekten, noch überzeugenderen Beweis: keiner der offiziellen Geschichtsschreiber läßt auch nur ein einziges Wort über Stalins Stellungnahme während der Wahlen zur dritten Reichsduma verlauten. In einer kurz nach dem Staatsstreich erschienenen Broschüre »Über den Boykott der dritten Duma«, in der Lenin für die Wahlbeteiligung eintrat, wird der Boykottstandpunkt von Kamenew verteidigt. Es fiel Koba um so leichter, im Schatten zu bleiben, als 1907 niemand auf die Idee kam, von ihm einen Artikel zu verlangen. Der alte Bolschewik Pirjeiko erinnert daran, daß die Boykottanhänger »dem Genossen Lenin seinen Menschewismus vorwarfen«. Kein Zweifel, daß Koba selbst in engem Kreise nicht mit heftigen georgischen und russischen Ausdrücken gespart haben wird. Was Lenin betrifft, so verlangte er von seiner Fraktion die Bereitschaft und die Fähigkeit, der Wirklichkeit ins Antlitz zu schauen. »Der Boykott ist die offene Kriegserklärung an das alte Regime, der offene Angriff. Ohne breiten revolutionären Aufschwung ... kann von einem Erfolg des Boykotts keine Rede sein.« Sehr viel später, 1920, schrieb Lenin: »Schon der Boykott der Duma durch die Bolschewiki im Jahre 1906 ... war ein Fehler.« Es war ein Fehler, weil man nach der Dezemberniederlage unmöglich in Kürze wieder einen revolutionären Aufschwung erwarten konnte und weil es infolgedessen sinnlos war, auf die Dumatribüne zu verzichten, statt sich ihrer dazu zu bedienen, die revolutionären Reihen wieder auszurichten.
Auf der Parteikonferenz, die im Juli in Finnland stattfand, waren alle neun bolschewistischen Delegierten, mit Ausnahme von Lenin, für den Boykott. Iwanowitsch nahm an der Konferenz nicht teil. Die Boykottanhänger hatten Bogdanow zum Berichterstatter bestimmt. Die Frage der Wahlbeteiligung wurde positiv entschieden, mit den vereinigten Stimmen, schreibt Dan, »der Menschewiki, der Bundisten, der Polen, eines Letten und eines Bolschewiken«. Der »eine Bolschewik« war Lenin. »In einem kleinen Landhause«, schildert die Krupskaja, »verteidigte Iljitsch hitzig seine Stellungnahme. Krassin kam auf dem Fahrrad an, blieb am Fenster stehen und hörte Iljitsch aufmerksam zu. Dann, ohne erst noch ins Haus zu kommen, entfernte er sich, in Gedanken versunken ...« Krassin entfernte sich für zehn Jahre vom Fenster. Er kehrte erst nach der Oktoberrevolution in die Partei zurück, und auch dann nicht im ersten Elan. Nach und nach, unter dem Einfluß neuer Erfahrungen, gingen die Bolschewiki zu Lenins Ansicht über, jedoch nicht alle, wie wir gleich sehen werden. Auch Koba verzichtete stillschweigend auf die Boykottparole. Seine kaukasischen Reden und Artikel für den Boykott hat man gnädigerweise in Vergessenheit geraten lassen.
Am 1. November nahm die dritte Reichsduma ihre wenig glorreiche Tätigkeit auf. Die Großbourgeoisie und der Landadel hatten sich im voraus die Majorität gesichert. Eins der bittersten Kapitel in der Geschichte des »wiedererstandenen Rußlands« begann. Die Arbeiterorganisationen wurden zerschlagen, die revolutionäre Presse wurde unterdrückt, Sondergerichte wurden eingesetzt, Strafexpeditionen ausgesandt. Schlimmer noch als die Schläge von außen war die Reaktion im Innern der Partei. Eine allgemeine Fahnenflucht setzte ein. Die Intellektuellen ließen die Politik fallen und wandten sich den Wissenschaften zu, der Kunst, der Religion, erotischem Mystizismus. Eine Epidemie von Selbstmorden gab dem Bild die düsterste Farbe. Die Umwertung aller Werte richtete sich vor allem gegen die revolutionären Parteien und ihre Führer. Der schroffe Wechsel in der Geisteshaltung fand ein klares Spiegelbild in den Archiven der Polizeiabteilungen, in denen verdächtige Briefe zensuriert wurden; die interessantesten sind auf diese Weise der Geschichte erhalten geblieben.
Aus Petersburg wurde damals an Lenin in Genf geschrieben:
»Alles ist ruhig oben und unten, aber unten ist die Atmosphäre giftgeschwängert. Unter dem Schein der Ruhe reift ein Haß heran, der all die aufheulen machen wird, die eines Tages wohl oder übel werden heulen müssen. Vorläufig allerdings haben wir selbst noch darunter zu leiden ...« Ein gewisser Sacharow schreibt an seinen Freund in Odessa: »Man hat vollständig das Vertrauen zu denen verloren, die man bisher so hoch gestellt hatte ... Erinnern Sie sich, wie Trotzky Ende 1905 noch in allem Ernst erklärte, daß die politische Revolution mit einem vollen Erfolg geendet habe und daß ihr die soziale Revolution auf dem Fuße folgen werde... Und die wunderbare Taktik des bewaffneten Aufstandes, die uns die Bolschewiki angepriesen haben ... Wahrhaftig, ich habe alles Vertrauen in unsere Führer und überhaupt in die sogenannten revolutionären Intellektuellen verloren.« Die Presse der Liberalen und Fortschrittlichen ihrerseits sparte nicht mit Sarkasmen an die Adresse der Unterlegenen.
Der Briefwechsel mit den Ortsorganisationen, der in dem von neuem ins Ausland verlegten Zentralorgan der Partei veröffentlicht wurde, brachte den Verfallsprozeß der Revolution nicht weniger klar zum Ausdruck. »Da es hier keine Intellektuellen gibt, liegt die Bezirksorganisation seit einiger Zeit brach«, wird aus einem Industriestädtchen in Zentralrußland berichtet. »Unsere intellektuelle Mitgliedschaft schmilzt zusammen wie Schnee in der Sonne«, heißt es in einem Bericht aus dem Ural, »viele Elemente, die im Augenblick des Erfolgs zur Partei gestoßen waren, haben die Organisation jetzt wieder verlassen.« In diesem Ton sind alle Briefe gehalten. Selbst in den Zuchthäusern wenden sich die Helden und Heldinnen der Aufstände und Terrorakte voller Feindschaft von ihrem eigenen Gestern ab und gebrauchen Ausdrücke wie »Partei«, »Genosse«, »Sozialismus« nur noch ironisch.
Aber nicht nur Intellektuelle ließen die Fahne im Stich, nicht nur Konjunkturritter, sondern auch viele der fortgeschrittensten Arbeiter, die Jahre hindurch Fleisch vom Fleische der Partei gewesen waren. »In den Parteikomitees da herrscht Leere, da ist die Wüste ...« meldet Woitinsky, der später von den Bolschewiki zu den Menschewiki überging. In den rückständigeren Schichten der Arbeiterklasse wurde einerseits die Anziehungskraft der Religion wieder stärker, andererseits griffen Alkoholismus und Kartenspiel um sich. In den oberen Schichten der Arbeiterklasse gaben jetzt die Individualisten den Ton an, die danach strebten, ihre persönliche Kultur und ihre Lebenshaltung über die ihrer Klassengenossen zu erheben. Auf diese dünne Schicht von Arbeiteraristokraten, die sich hauptsächlich aus Druckern und Metallarbeitern zusammensetzte, stützten sich die Menschewiki. Die Arbeiter aus der mittleren Schicht, die die Revolution gelehrt hatte, Zeitungen zu lesen, bewiesen größere Festigkeit. Aber, unter der Leitung von Intellektuellen ins politische Leben eingeführt und plötzlich auf sich selbst gestellt, fühlten sie sich paralysiert und warteten ab.
Nicht alle desertierten. Doch sahen sich jene Revolutionäre, die den Kampf nicht aufgeben wollten, unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenüber. Eine illegale Organisation bedarf einer Umwelt, die mit ihr sympathisiert, und muß ihre Reserven ständig erneuern können. In der Atmosphäre einer allgemeinen Niedergeschlagenheit war es schwer, ja fast unmöglich, die einfachsten konspirativen Regeln zu beobachten und die revolutionären Verbindungen aufrechtzuerhalten. »Die illegale Arbeit klappte schlecht. Im Jahre 1909 wurden die Parteidruckereien in Rostow am Don, Moskau, Djuman, Petersburg ausgehoben ...« und »in Petersburg, Bialystock, Moskau wurden ganze Lager von geheimen Schriften beschlagnahmt und ebenso die Archive des Petersburger Zentralkomitees. Bei all diesen Verhaftungen verlor die Partei ihre besten Arbeiter.« So spricht, fast mit einem Unterton von Mißvergnügen, der Polizeigeneral im Ruhestand Spiridowitsch.
»Wir haben fast keine Leute mehr«, schreibt die Krupskaja mit unsichtbarer Tinte Anfang 1909 nach Odessa, »alle sind im Gefängnis oder in der Verbannung.« Es gelang der Polizei, den Brieftext sichtbar zu machen – und die Ziffer der Gefängnisinsassen zu erhöhen. Je mehr sich die revolutionären Reihen lichteten, desto mehr ging auch das Niveau der Parteikomitees zurück. Mangelnde Auswahl machte es den Geheimagenten der Polizei möglich, alle Stufen der illegalen Hierarchie zu erklettern. Der Provokateur brauchte nur mit den Fingern zu schnipsen, und der Revolutionär, der ihm bei seinem Aufstieg im Wege stand, wurde verhaftet. Versuche, die Organisation von zweifelhaften Elementen zu säubern, führten unmittelbar zu Massenverhaftungen. Es herrschte eine Atmosphäre des Mißtrauens und der gegenseitigen Verdächtigungen, die jede Initiative lähmte. Nach einer Reihe wohlüberlegter Verhaftungen war es dem Spitzel Kukuschkin Anfang 1910 gelungen, an die Spitze der Moskauer Organisation zu kommen. »Das Ideal der Ochrana ist erreicht«, schrieb ein Mitglied der Bewegung, »alle Organisationen des Moskauer Bezirks werden von Geheimagenten geführt.« In Petersburg war die Lage nicht viel besser. »Die Führung ist vernichtet, es scheint keine Möglichkeit zu bestehen, sie zu ersetzen, die Provokateure sind allmächtig, die Organisationen fallen zusammen.« 1909 bestanden noch fünf oder sechs aktive Organisationen in Rußland, bald verschwanden auch sie. Die Mitgliederzahl der Moskauer Bezirksorganisation betrug Ende 1908 fünfhundert Mann, Mitte des darauffolgenden Jahres war sie auf dreihundertfünfzig zurückgegangen, sechs Monate später fiel sie auf einhundertfünfzig; 1910 hatte die Organisation aufgehört zu existieren.
Der ehemalige Dumaabgeordnete Samoilow erzählt, wie Anfang 1910 die Organisation von Iwanowo-Wossnessensk zusammenbrach, die bis dahin sehr aktiv gewesen war und großen Einfluß besessen hatte. Mit ihr verschwanden auch die Gewerkschaften. Hingegen traten nunmehr die »Schwarze Hundert«-Banden auf den Plan. In den Textilfabriken wurde nach und nach das Arbeitssystem wieder eingeführt, das vor der Revolution geherrscht hatte: niedrige Löhne, strenge Bußstrafen, strafweise Entlassungen und ähnliche Dinge. »Die Arbeiter schluckten alles schweigend hinunter.« Trotz alledem, die alte Ordnung völlig wieder aufzurichten, war nicht möglich. Lenin veröffentlichte im Ausland Briefe von Arbeitern, die, nachdem sie die neuerlichen Unterdrückungs- und Verfolgungsmaßnahmen der Fabrikbesitzer geschildert hatten, hinzufügten: »Geduld, 1905 kommt wieder!«
Außer dem von oben, gab es auch einen Terror von unten. Noch lange sollten die konvulsivischen Zuckungen andauern, in denen die niedergeschlagene Aufstandsbewegung lag, und die sich in Form von isolierten Ausbrüchen, Partisanenaufständen und individuellen Terrorakten äußerten. Die Statistik des Terrors zeichnet mit äußerster Klarheit die Kurve der Revolution: 1905 wurden 233 Menschen umgebracht, 768 im Jahre 1906, 1231 im Jahre 1907. Die Zahl der Verletzten wuchs nicht in gleichem Maße – die Terroristen lernten, besser zu zielen. 1907 erreichte die terroristische Welle ihren Höhepunkt. »Es gab Tage«, schreibt ein liberaler Beobachter, »wo zu einigen großen Terrorakten noch ein gutes Dutzend Attentate und Morde von geringerer Tragweite unter den kleineren Verwaltungsbeamten hinzukam ... Bombenwerkstätten gab es in allen Städten, oft wurden die unvorsichtigen Bombenhersteller selbst in die Luft gesprengt.« – Krassins Alchimie hatte sich »demokratisiert«!
Im ganzen genommen ist die dreijährige Periode von 1905 bis 1907 durch die Terrorakte ebenso beachtenswert wie durch die Streiks. Was ins Auge springt, ist der Gegensatz zwischen den beiden Zahlenreihen: während die Zahl der Streikenden von Jahr zu Jahr abnimmt, steigt die Zahl der Terrorakte in gleichem Tempo an. Der individuelle Terror wuchs in dem Maße, wie die Massenbewegung zurückging, das ist klar. Der Terror jedoch konnte nicht unbegrenzt anwachsen; auch hier mußte sich der von der Revolution gegebene Anstoß erschöpfen. Hatte es 1907 1231 Tote gegeben, so waren es 1908 nur noch ungefähr 400 und 100 im Jahre 1909. Der wieder steigende Prozentsatz von Verwundeten läßt darauf schließen, daß nicht mehr Leute mit Methode zur Waffe griffen, sondern nur noch unerfahrene Jugendliche.
Im Kaukasus, wo die romantischen Überlieferungen von Straßenraub und Blutrache noch sehr lebendig waren, fand der Guerillakrieg unerschrockene Kämpfer in unbegrenzter Zahl. Über tausend Terrorakte aller Art wurden während der Revolutionsjahre im Kaukasus allein verzeichnet. Auch im Ural hatte die Tätigkeit der bewaffneten Banden (»Bojewiki«) unter bolschewistischer Leitung großen Umfang angenommen, ebenso in Polen unter dem Banner der Polnischen Sozialistischen Partei. Am 2. August 1906 wurden in den Straßen Warschaus und anderer polnischer Städte Dutzende von Polizisten und Soldaten getötet. Den Erklärungen ihrer Führer nach war der Zweck dieser Attacken, »den revolutionären Geist des Proletariats zu wecken«. Führer dieser Führer war Josef Pilsudski, zukünftiger »Befreier« und späterer Unterdrücker Polens. Lenin kommentierte die Warschauer Ereignisse folgendermaßen: »Wir raten allen Bojewiki-Gruppen unserer Partei, mit ihrer Untätigkeit Schluß zu machen und Guerilla-Operationen zu unternehmen ...« »Und diese Appelle der bolschewistischen Führer«, kommentiert seinerseits General Spiridowitsch, »verhallten nicht ungehört, trotz des Widerstandes des (menschewistischen) Zentralkomitees.«
Geld ist der Nerv des Krieges – und des Bürgerkrieges; die Geldfrage spielte in dem Kampf der Partisanen gegen die Polizei eine große Rolle. Vor dem Verfassungserlaß vom Jahre 1905 war die revolutionäre Bewegung hauptsächlich von der liberalen Bourgeoisie und der fortschrittlichen Intelligenz finanziert worden. Das galt auch für die Bolschewiki, in denen die liberale Opposition damals nur etwas hitzigere revolutionäre Demokraten sah. Nachdem aber die Bourgeoisie ihre Hoffnungen auf die zukünftige Duma gesetzt hatte, begann sie, die Revolutionäre als ein Hindernis auf dem Wege zu einem Übereinkommen mit der Krone zu betrachten. Für die Finanzen der Revolution war dieser Frontwechsel ein schwerer Schlag. Aussperrungen und Arbeitslosigkeit stoppten auch den Zufluß von jenen Geldern, die bisher von den Arbeitern gekommen waren. Inzwischen hatten die revolutionären Organisationen große politische Apparate aufgebaut, mit eigenen Druckereien, Verlagen, Stäben von Propagandisten und schließlich den »Bojewiki«-Gruppen, die ständig mehr Waffen verlangten. Sich mit Gewalt in den Besitz von Geld zu bringen, das war unter diesen Umständen die einzige Möglichkeit, der Revolution weitere materielle Mittel zuzuführen. Wie fast immer, kam auch hier der Anstoß dazu von unten. Die ersten Expropriationen gingen noch sehr friedlich vor sich, oft erfolgte die »Expropriation« mit dem schweigenden Einverständnis der Angestellten des expropriierten Unternehmens. Da hat es z. B. eine Expropriation im Büro der Versicherungsgesellschaft »Nadeschda« (»Hoffnung«) gegeben, wo die Angestellten den Bojewiki, denen vor Aufregung die Knie schlotterten, zuriefen: »Nur keine Angst, Genossen!« Diese idyllische Periode dauerte aber nicht lange. Der Bourgeoisie nachfolgend, trennte sich die Berufsintelligenz mit Einschluß der Bankangestellten von der Revolution. Die Maßnahmen der Polizei wurden verschärft; die Zahl der Opfer auf beiden Seiten wuchs. Der Hilfe und der Sympathie beraubt, lösten sich die Kampfgruppen auf und verflüchtigten sich.
Ein typisches Bild von der Demoralisierung einer der diszipliniertesten Kampfgruppen entwirft der bereits zitierte Samoilow, der von den Textilarbeitern des Iwanowo-Wossnessensker Bezirks in die Duma geschickt worden war. Die Gruppe, von der er erzählt, hatte ursprünglich »unter Aufsicht der Parteileitung« gehandelt und begann in der zweiten Hälfte des Jahres 1906 zu »schwanken«. Als sie der Partei nur einen Teil des Geldbetrages übergeben wollte, den sie in einer Fabrik geraubt hatte (wobei der Kassierer getötet worden war), verweigerte das Parteikomitee die Annahme und rief den Bojewiki energisch die Parteidisziplin in Erinnerung. Doch war das schon zu spät, die Bojewiki hatten allen Halt verloren und sanken rapide auf die Stufe des »Banditentums im üblichen kriminellen Sinne« hinab. Ständig über große Geldsummen verfügend, begannen die Bojewiki ein ausschweifendes Leben zu führen und fielen eben dadurch oft der Polizei in die Hände. So nahm denn bald die ganze Kampfgruppenbewegung ein ruhmloses Ende. »Trotzdem muß anerkannt werden«, schreibt Samoilow, »daß es in ihren Reihen nicht wenig ... ehrlich der Sache der Revolution ergebene Genossen gab, mit Herzen rein wie Kristall.«
Der ursprüngliche Sinn der Kampforganisationen war gewesen, den aufständischen Massen eine Führung zu geben, sie im Gebrauch der Waffen zu unterrichten und ihnen zu zeigen, wie man den Feind an den empfindlichsten Stellen treffen konnte. Der bedeutendste, wenn nicht überhaupt der einzige Theoretiker auf diesem Gebiet war Lenin. Nach der Niederwerfung des Dezemberaufstandes hieß das Problem: was soll aus den Kampfgruppen werden? Lenin brachte auf dem Stockholmer Parteitag eine Resolution ein, in der die Tätigkeit der Kampfgruppen als eine zwangsläufige Fortsetzung des Dezemberaufstandes charakterisiert wurde, die der Vorbereitung eines neuen Großkampfes gegen den Zarismus dienen sollte; die Resolution billigte die sogenannten Expropriationen »unter der Kontrolle der Partei«. Da aber ein Teil ihrer eigenen Leute nicht mit ihr einverstanden war, zogen die Bolschewiki diese Resolution wieder zurück. Mit einer Mehrheit von 64 gegen vier Stimmen und bei zwanzig Stimmenthaltungen wurde die menschewistische Resolution angenommen, die die »Expropriation« von Privatpersonen und Privatunternehmen absolut untersagte und die die Beschlagnahme öffentlicher Gelder nur in solchen Fällen guthieß, wo in der betreffenden Ortschaft revolutionäre Machtorgane entstanden waren, das heißt, nur in direkter Verbindung mit einem Volksaufstand. Die vierundzwanzig Delegierten, die gegen diese Resolution stimmten oder sich der Stimme enthielten, bildeten die unversöhnliche leninistische Hälfte der bolschewistischen Fraktion.
In einem ausführlichen gedruckten Bericht über den Stockholmer Parteitag vermeidet Lenin, diese Entschließung über die bewaffneten Aktionen zu erwähnen, mit der Begründung, daß er bei der Diskussion dieser Frage nicht anwesend war. »Außerdem hat diese Frage keine prinzipielle Bedeutung.« Es ist kaum anzunehmen, das Lenins Abwesenheit ein Zufall war: er wollte sich nicht die Hände binden. Ein Jahr später spielte sich dasselbe ab; auf dem Londoner Parteitag war Lenin zwar in seiner Eigenschaft als Vorsitzender gezwungen, den Debatten über die Enteignungen beizuwohnen, stimmte aber nicht mit ab, trotz der wütenden Protestrufe, die von den menschewistischen Bänken kamen. Die Londoner Resolution verbot kategorisch die Expropriationen und ordnete die Auflösung der »Kampforganisationen« der Partei an.
Natürlich ging es bei dieser Frage nicht um abstrakte Moral. Alle Klassen und alle Parteien gehen an das Problem des Mordes nicht vom Standpunkt der biblischen Gebote aus heran, sondern im Hinblick auf die historischen Interessen, die sie vertreten. Als der Papst und seine Kardinäle die Waffen Francos segneten, hat keiner der konservativen Staatsmänner vorgeschlagen, sie wegen Aufforderung zum Mord ins Gefängnis zu schicken. Die Hüter der offiziellen Moral verdammen die Gewalt, sobald es sich um revolutionäre Gewalt handelt. Im Gegensatz dazu kann derjenige, der gegen die Klassenunterdrückung kämpft, nicht anders, als die Revolution gutheißen. Wer die Revolution gutheißt, billigt auch den Bürgerkrieg. Schließlich ist »der Guerillakrieg eine unvermeidliche Form des Kampfes ... wenn zwischen den großen Schlachten eines Bürgerkriegs mehr oder weniger lange Pausen eintreten« (Lenin). Von den allgemeinen Prinzipien des Klassenkampfes aus gesehen, ist dies alles vollkommen selbstverständlich. Meinungsverschiedenheiten darüber entstanden erst, als es sich um die Einschätzung der konkreten historischen Umstände handelte. Sind zwei große Kampfhandlungen im Bürgerkrieg nur durch ein Intervall von zwei oder drei Monaten voneinander getrennt, so wird die Pause mit Handstreichen gegen den Feind ausgefüllt sein. Erstreckt sich die »Lücke« aber über mehrere Jahre, dann hört der Guerillakrieg auf, die Vorbereitung einer neuen Kampfperiode zu sein, und ist kaum mehr als ein die Niederlage überdauerndes krampfartiges Zucken. Es ist gewiß nicht leicht, mit Genauigkeit zu bestimmen, wo das eine aufhört und das andere anfängt.
Die Frage der Enteignungen war mit der des Wahlboykotts eng verbunden. Eine repräsentative Körperschaft kann man nur dann boykottieren, wenn die Massenbewegung schon stark genug ist, um sie hinwegzufegen oder einfach über sie hinauszugehen. Wenn die Massenbewegung aber im Rückzug begriffen ist, verliert die Boykott-Taktik allen revolutionären Sinn. Lenin hat das besser begriffen und erklärt als irgendein anderer. Schon 1906 war er gegen den Boykott der Duma. Nach dem Staatsstreich vom 3. Juni 1907 führte er einen entschiedenen Kampf gegen die Boykottisten, eben weil nach der Flut die Ebbe eingetreten war. Es war klar, daß nunmehr, wo es sich darum handelte, die Arena des zaristischen »Parlamentarismus« dazu zu benützen, den Boden für eine neue Mobilmachung der Massen vorzubereiten, der Guerillakrieg reiner Anarchismus geworden war. Im Feuer des Bürgerkrieges hatte die Guerillatätigkeit die Bewegung der Massen angefacht und erweitert, in der Periode der Reaktion versuchte sie, die Massenbewegung zu ersetzen, führte in der Tat aber nur dazu, die Partei bloßzustellen und ihren Verfall zu beschleunigen. Olminsky, einer der schätzenswertesten Kampfgefährten Lenins, schrieb, aus der Sowjetzeit heraus die damalige Periode der Reaktion kritisch beleuchtend: »Zahlreiche ausgezeichnete junge Genossen sind dem Galgen zum Opfer gefallen, andere sind völlig verkommen, viele haben den Glauben an die Revolution verloren. Und die Öffentlichkeit stellte schließlich die Revolutionäre mit gewöhnlichen Banditen auf die gleiche Stufe. Als später die revolutionäre Arbeiterbewegung von neuem zu erwachen begann, erfolgte das Wiederaufleben dort am langsamsten, wo die ›Ex‹ am zahlreichsten gewesen waren. (Ich denke beispielsweise an Baku und Saratow.)« Merken wir uns, daß Baku besonders erwähnt wird.
Die Gesamtsumme der revolutionären Aktivität Kobas in den Jahren der ersten Revolution scheint so niedrig, daß man sich nolens volens fragt: war das alles? In dem Wirbel der Ereignisse, die an ihm vorüberfluteten, muß Koba unzweifelhaft nach Möglichkeiten gesucht haben, die ihm Gelegenheit boten zu zeigen, was er wert sei. Daß Koba an Terrorakten und Expropriationen beteiligt war, steht fest. Es ist aber nicht einfach, die Art dieser Beteiligung zu bestimmen.
»Der Inspirator und oberste Leiter ... der Kampfgruppen«, schreibt Spiridowitsch, »war Lenin selbst; zuverlässige Freunde standen ihm dabei zur Seite.« Wer waren sie? Der ehemalige Bolschewik Alexinsky, der sich nach Kriegsausbruch in Enthüllungen über den Bolschewismus spezialisierte, schrieb in der Auslandspresse, im Schoße des Zentralkomitees bestände noch »ein Sonderkomitee, das nicht nur vor den Augen der Polizei, sondern auch vor denen der Parteimitglieder selbst verborgen gehalten wird. Dieses kleine Komitee setzt sich aus Lenin, Krassin und einer dritten Person zusammen ... und befaßt sich besonders mit den Parteifinanzen«. Was für Alexinsky die Organisierung von Expropriationen bedeutete. Die ungenannte dritte »Person« war der Naturwissenschaftler, Arzt, Theoretiker der politischen Ökonomie und Philosoph Bogdanow, den wir schon kennen. Alexinsky hätte keinen Grund gehabt, über eine Teilnahme Stalins an den Operationen der Kampfgruppen zu schweigen. Wenn er darüber nichts sagt, so heißt das, daß er darüber nichts weiß. Alexinsky hatte in jenen Jahren nicht nur dem bolschewistischen Zentralkomitee nahegestanden, sondern war auch mit Stalin zusammengetroffen. Im allgemeinen sagt der dunkle Ehrenmann mehr, als er weiß.
Von Krassin heißt es in den Anmerkungen zu Lenins Gesammelten Werken: »(Er) leitete das Büro für die Kampforganisationen beim Zentralkomitee.« Die Krupskaja ihrerseits schreibt: »Die Parteimitglieder kennen jetzt die bedeutende Arbeit, die Krassin zur Zeit der Revolution von 1905 leistete, um die Bojewiki mit Waffen zu versorgen, die Herstellung von Sprengstoff zu überwachen und so weiter. Das alles wurde auf konspirative Weise getan und nicht an die große Glocke gehängt, aber ein gewaltiges Maß von Energie wurde darauf verwendet. Niemand kannte diese Arbeit Krassins besser als Wladimir Iljitsch, und er hat von da an Krassin immer sehr hoch geschätzt.« Woitinsky, ein während der ersten Revolution sehr bekannt gewordener Bolschewik, schreibt: »Ich habe den Eindruck gehabt, daß Nikitsch (Krassin) der einzige Mann in der bolschewistischen Fraktion war, dem Lenin mit echtem Respekt und vollem Vertrauen begegnete.« Zwar stimmt es, daß Krassin seine Tätigkeit vor allem auf Petersburg konzentrierte. Wenn Koba aber im Kaukasus mit Operationen der gleichen Art beschäftigt gewesen wäre, so müßten das Krassin, Lenin und die Krupskaja gewußt haben. Die Krupskaja, die, um ihre Loyalität zu beweisen, Stalins Namen so oft wie möglich zu nennen sucht, sagt kein Wort über seine Rolle in den Kampforganisationen der Partei.
Am 3. Juli 1938 berichtete die Moskauer »Prawda« recht unerwarteterweise, daß »der beispiellos mächtige revolutionäre Aufschwung im Kaukasus« im Jahre 1905 verbunden war mit »der Führung der kämpferischsten Organisationen der Partei, die dort zum erstenmal direkt vom Genossen Stalin geschaffen worden sind«. Doch bezieht sich diese völlig vereinzelt dastehende Erwähnung einer Teilnahme Stalins an den »kämpferischen Organisationen« auf Anfang 1905, auf eine Zeit also, wo die Frage der Expropriationen noch nicht aufgetaucht war; außerdem sagt sie nichts über Kobas tatsächliche Rolle. Schließlich ist sie überhaupt äußerst zweifelhaft, denn bolschewistische Organisationen entstanden in Tiflis erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1905.
Sehen wir zu, was Iremaschwili darüber zu sagen hat. Mit tiefem Abscheu von den »Ex« und den Terrorakten überhaupt sprechend, erklärt er: »Koba war der Anstifter dieser Verbrechen, die von den Bolschewiki in Georgien begangen worden sind und die der Reaktion die Bälle zuspielten.« Nach dem Tode seiner Frau, als Koba seine »letzten warmen Gefühle allen Menschenwesen gegenüber« verloren hatte, wurde er »ein fanatischer Verteidiger und Organisator ... des verabscheuungswürdigen systematischen Mordes an Fürsten, Priestern und Bürgern«. Nun haben wir schon Gelegenheit gehabt zu bemerken, daß die Bekundungen Iremaschwilis um so unzuverlässiger werden, je weniger sie das private und je mehr sie das politische Gebiet betreffen und je mehr sie sich von der Zeit der Kindheit entfernen und sich dem reiferen Alter nähern. Das politische Band zwischen den beiden Jugendfreunden war mit dem Beginn der ersten Revolution zerrissen. Es war reiner Zufall, daß Iremaschwili am 17. Oktober, dem Tag, an dem das Verfassungsmanifest veröffentlicht wurde, Koba in Tiflis von einer gußeisernen Laterne aus eine Ansprache halten gesehen hatte, nur gesehen, nicht gehört – an diesem Tage erkletterte alle Welt die Laternenpfähle. Auch konnte Iremaschwili als Menschewik von Koba als Terroristen nur aus zweiter oder dritter Hand wissen. Seine Aussagen müssen also mit Vorsicht aufgenommen werden. Zwei Beispiele wollen wir anführen: die bekannte Expropriation von Tiflis im Jahre 1907, die wir später behandeln werden, und die Ermordung des georgischen Nationalschriftstellers, des Prinzen Tschawtschawadse. Über die Expropriation, die er irrtümlicherweise in das Jahr 1905 verlegt, bemerkt Iremaschwili: »Auch bei dieser Gelegenheit gelang es Koba wieder, die Polizei zu täuschen; sie hatte nicht einmal genügend Beweismaterial in der Hand, um darauf zu kommen, daß er der Anstifter dieses grausamen Attentats gewesen war. Doch aus der Sozialdemokratischen Partei Georgiens wurde Koba diesmal offiziell ausgeschlossen.« Für die Teilnahme Stalins an der Ermordung des Prinzen Tschawtschawadse bringt Iremaschwili seinerseits kein Beweismaterial, sondern beschränkt sich auf die nichtssagende Bemerkung: »Indirekt trat Koba auch für den Mord ein; dieser haßerfüllte Hetzer war der Anstifter zu allen Verbrechen.« Iremaschwilis Erinnerungen interessieren uns hier nur insoweit, als sie für den Ruf bezeichnend sind, den sich Koba inzwischen bei seinen politischen Gegnern erworben hatte.
Der gut informierte Verfasser eines in einer deutschen Zeitung erschienenen Artikels (Mannheimer »Volksstimme« vom 2. September 1932), wahrscheinlich ein georgischer Menschewik, weist darauf hin, daß sowohl Freunde wie Feinde Kobas terroristische Abenteuer stark übertrieben haben. »Es ist richtig, daß Stalin in hohem Maße die Fähigkeit und auch die Neigung dazu besaß, Attentate dieser Art zu organisieren ... Jedoch beschränkte er sich meistens darauf, die Rolle der treibenden Kraft, des Organisators und Leiters, zu spielen, ohne direkt daran teilzunehmen.« Es entspricht also durchaus nicht den Tatsachen, wenn gewisse Biographen ihn als »mit Bomben und Revolvern herumlaufend und ständig in die gefährlichsten Abenteuergeschichten verwickelt« schildern. Auch die Darstellung, die von der direkten Teilnahme Kobas an der Ermordung des Generals Griatznow, des Militärdiktators von Tiflis, am 17. Januar 1906, gegeben worden ist, scheint reine Erfindung zu sein. »Diese Handlung wurde auf Grund eines Beschlusses der Sozialdemokratischen Partei Georgiens (Menschewiki) von einer für diesen Zweck besonders zusammengestellten Terrorgruppe ausgeführt. Stalin hatte wie alle anderen Bolschewiki in Georgien überhaupt keinen Einfluß und hat weder direkt noch indirekt mit dieser Angelegenheit etwas zu tun gehabt.« Die Aussage dieses anonymen Verfassers verdient alle Beachtung. Leider ist ihre positive Seite recht unbedeutend: nachdem er Stalin »die Fähigkeit und die Neigung« zu Expropriationen und Attentaten zugeschrieben hat, versäumt der Verfasser, diese Charakteristiken auf irgendwelche Daten zu stützen.
Ein alter georgischer bolschewistischer Terrorist, Kote Tsindsadse, ein ernsthafter und zuverlässiger Zeuge, erzählt, daß Stalin, empört über die Langsamkeit, mit der die Menschewiki die Vollstreckung des Todesurteils an General Griatznow vorbereiteten, ihm vorschlug, für diese Sache eine Gruppe aus den eigenen Reihen zu bilden. Inzwischen war es den Menschewiki aber gelungen, diese Aufgabe selbst zu lösen. Weiter spricht Tsindsadse davon, wie ihm im Jahre 1906 die Idee kam, eine Kampfgruppe aus Bolschewiki zu bilden, um die Staatsbanken auszuplündern. »Unsere führenden Genossen, besonders Koba-Stalin, befürworteten meine Initiative.« Das ist von doppeltem Interesse. Erstens einmal sagt Tsindsadse, daß er Koba für einen »führenden Genossen« hielt, das heißt für einen örtlichen Führer; zweitens erlaubt es die Schlußfolgerung, daß Koba auf dem Gebiete des Terrors nicht weiter ging, als die Anregungen, die von anderen kamen, gutzuheißen. (Vermerken wir, daß Kote Tsindsadse 1931 in der Verbannung umgekommen ist, in die er von dem »führenden Genossen Koba-Stalin« geschickt worden war.)
Gegen den offenen Widerstand des menschewistischen Zentralkomitees, aber mit der aktiven Unterstützung Lenins, gelang es den Kampfgruppen der Partei, im November 1906 in Tammerfors eine eigene Konferenz abzuhalten. Unter den führenden Teilnehmern an dieser Konferenz finden wir die Namen derjenigen Revolutionäre, die später in der Partei eine hervorragende oder bemerkenswerte Rolle spielten, wie Krassin, Jaroslawski, Semljatschka, Lelajanz, Trillisser und andere. Stalin ist nicht unter ihnen, obwohl er sich zu jener Zeit in Tiflis in Freiheit befand. Man kann ihm zugute halten, daß er sich aus konspirativen Erwägungen heraus nicht auf die Konferenz begeben hat. Immerhin, Krassin, der in der Tat an der Spitze der Kampforganisationen stand und der infolge seines Rufes als bedeutender Ingenieur ein weitaus größeres Risiko als sonst irgend jemand einging, spielte auf der Konferenz eine führende Rolle.
Am 18. März 1918, das heißt also einige Monate nach Errichtung der Sowjetmacht, schrieb der Führer der Menschewiki, Julius Martow, in einer Moskauer Zeitung: »Daß die kaukasischen Bolschewiki bei allen möglichen dreisten Unternehmungen in der Art Expropriationen ihre Hand im Spiel hatten, sollte doch gerade diesem Bürger Stalin sehr gut bekannt sein, der seinerzeit wegen einer Expropriationsaffäre aus der Partei ausgeschlossen wurde.« Stalin hielt es für notwendig, Martow vor ein Revolutionstribunal zu zitieren: »Ich habe niemals«, sagte er in dem mit Zuhörern angefüllten Saal, »vor einem Parteigericht gestanden und bin niemals ausgeschlossen worden. Das ist eine unverschämte Verleumdung.« Aber über die Expropriationen sagte Stalin nichts. »Anschuldigungen, wie sie hier von Martow vorgebracht werden, kann man nur erheben, wenn man Beweise in der Hand hat. Es ist unehrenhaft, jemand mit Schmutz zu bewerfen, sich dabei nur auf Gerüchte stützend und ohne Tatsachen zu bringen.« Was war der eigentliche politische Grund dafür, daß Stalin sich so aufregte? Daß die Bolschewiki als solche an Enteignungsaktionen teilgenommen hatten, war kein Geheimnis: Lenin hatte die Expropriationen öffentlich in der Presse verteidigt. Andererseits konnte der Ausschluß aus einer menschewistischen Organisation von einem Bolschewiken schwerlich als unehrenhaft angesehen werden, noch dazu zehn Jahre später. Stalin konnte also keinen Grund haben, Martows »Anschuldigungen« zu leugnen, wenn sie der Wirklichkeit entsprachen. Einen so klugen und gewandten Gegner vor die Schranken des Gerichts zu fordern, hätte obendrein heißen können, ihm einen Sieg zu sichern. Bedeutet das, daß Martows Anklagen falsch waren? Von seinem Publizistentemperament hingerissen und getrieben vom Haß gegen die Bolschewiki, hat Martow mehr als einmal die Grenzen überschritten, in denen ihn die unbestrittene Vornehmheit seines Charakters hätte halten müssen. Hier aber handelte es sich um ein Verfahren vor dem Revolutionstribunal. Martow hielt kategorisch an seinen Aussagen fest. Er verlangte die Einvernahme von Zeugen: »Da ist zuerst einmal Isidor Ramischwili, eine der Öffentlichkeit wohlbekannte georgische sozialdemokratische Gestalt, der Vorsitzender des revolutionären Tribunals war, das die Beteiligung Stalins an der Expropriation auf dem Dampfschiff ›Nikolaus der Erste‹ in Baku festgestellt hat; ferner Noah Jordania, der Bolschewik Schaomyan und andere Mitglieder des transkaukasischen Distriktkomitees in den Jahren 1907 und 1908. Zweitens ist da eine Gruppe von Zeugen mit Gukowsky an der Spitze, dem gegenwärtigen Volkskommissar für Finanzen, unter dessen Vorsitz der Mordversuch an dem Arbeiter Jarinow untersucht wurde; Jarinow hatte vor der Parteiorganisation das Komitee und dessen Leiter Stalin angeklagt, an Expropriationen teilgenommen zu haben.« In seiner Erwiderung ging Stalin mit keinem Wort weder auf die Dampferexpropriation noch auf den Anschlag gegen Jarinow ein, behauptete aber nach wie vor: »Ich bin nie vor das Parteigericht gestellt worden. Wenn Martow das sagt, ist er ein unverschämter Verleumder.«
In strikt juristischem Sinne war ein Ausschluß von »Expropriateuren« gar nicht möglich, traten diese doch klugerweise stets vorher aus der Partei aus. Dagegen konnte entschieden werden, sie später nicht wieder in die Partei aufzunehmen. Ein tatsächlicher Ausschluß konnte nur denjenigen drohen, die eine Expropriation geleitet hatten, dabei aber Mitglieder der Partei geblieben waren. Direkte Beweise gab es gegen Koba offensichtlich nicht. Deshalb dürfte Martow wohl bis zu einem gewissen Grade im Recht gewesen sein, wenn er behauptete, es sei so gewesen, daß Stalin »im Prinzip« ausgeschlossen worden wäre. Aber Stalin hatte ebenfalls recht: persönlich war er nicht vor dem Parteigericht erschienen. Es war für das Gericht nicht leicht, sich in dieser ganzen Angelegenheit zurechtzufinden, besonders da keine Zeugen anwesend waren. Stalin widersetzte sich der Vorladung von Zeugen, indem er sich auf die Schwierigkeit und Unsicherheit der Verkehrs Verbindungen mit dem Kaukasus in jenen kritischen Tagen berief. Das Revolutionstribunal ging der Sache nicht auf den Grund, sondern erklärte, daß Pressevergehen nicht zu seinem Ressort gehörten, und erteilte Martow eine »öffentliche Rüge« wegen Beleidigung der Sowjetregierung (der »Regierung Lenin-Trotzky«, wie es in dem Bericht einer menschewistischen Zeitung über den Prozeß ironisch heißt). Beunruhigend bleibt die Erwähnung des Mordversuchs an dem Arbeiter Jarinow, der gegen die Expropriationen protestiert hatte. Näheres ist über diese Episode nicht bekannt, doch läßt sie für die Zukunft nichts Gutes ahnen.
Der Menschewik Dan schrieb 1925, daß solche »Expropriateure« wie Ordschonikidse und Stalin im Kaukasus die bolschewistische Fraktion mit Geldmitteln versehen hätten, doch handelt es sich hier nur um eine Wiederholung dessen, was schon Martow gesagt hatte, und stammt zweifellos aus derselben Quelle. Keiner hat sich bemüht, Tatsachen beizubringen. Indes hat es nicht an Versuchen gefehlt, den Schleier über dieser romantischen Periode im Leben Kobas zu lüften. Mit der ihm eigenen unterwürfigen Dreistigkeit hat Emil Ludwig im Kreml Stalin gebeten, ihm »irgend etwas« von seinen Jugendabenteuern zu erzählen, zum Beispiel einen Banküberfall. An Stelle einer Antwort überreichte Stalin seinem wißbegierigen Gesprächspartner eine kleine Broschüre mit seiner Biographie, in der »alles« gesagt sei – sie enthielt kein Wort über Banküberfälle.
Stalin selbst hat nie und nirgendwo auch nur ein einziges Wort über seine Abenteuer in der Bojewikenzeit geäußert. Warum, ist schwer zu sagen. Durch autobiographische Bescheidenheit hat er sich bisher nicht ausgezeichnet. Will er etwas nicht selbst sagen, befiehlt er anderen, es zu sagen. Vom Augenblick seines schwindelerregenden Aufstiegs an mag er sich durch »Prestige«rücksichten haben leiten lassen. Doch in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution waren ihm solche Rücksichten noch gänzlich fremd. Von Seiten der alten Bojewiki ist nichts über diesen Punkt in die Presse gedrungen, obwohl doch Stalin in jenen Jahren die Veröffentlichung von Lebenserinnerungen weder kontrollieren noch sonst irgendwie beeinflussen konnte. Sein Ruf als Organisator von Terroraktionen wird von keinem Dokument bestätigt. Weder von den Suchlisten der Polizei noch von den Aussagen der Verräter und Überläufer. Sicher, Stalin hält seine Hand auf den Polizeiarchiven. Doch wenn diese Archive irgendwelche konkreten Angaben über Dschugaschwili als »Expropriateur« enthalten würden, so wären die Strafen, zu denen er später verurteilt worden ist, unvergleichlich strenger ausgefallen.
Von allen Hypothesen besitzt nur eine Wahrscheinlichkeit. »Stalin erwähnt nicht und erlaubt anderen nicht, Terrorakte zu erwähnen, in deren Zusammenhang sein Name in dieser oder jener Art und Weise genannt worden ist«, schreibt Souvarine, »denn es würde sich zweifellos herausstellen, daß diese Handlungen von anderen ausgeführt worden sind und er sie nur aus der Ferne geleitet hat.« Gleichzeitig ist es durchaus möglich – und mit Kobas Charakter vereinbar – daß er sich überall, wo ihm das angebracht schien, hier etwas verschweigend, dort etwas übertreibend, in vorsichtiger Form Verdienste zuschrieb, die er gar nicht hatte. Irgend etwas nachzuprüfen war unter den konspirativen Bedingungen unmöglich. Daher später sein mangelndes Interesse, Einzelheiten aufzuhellen. Auf der anderen Seite erwähnen ihn die wirklichen Teilnehmer an den Expropriationen und die, die ihn nahe kannten, in ihren Erinnerungen lediglich deshalb nicht, weil sie nichts über ihn zu sagen haben. Geschlagen haben sich andere – Stalin hat aus sicherer Entfernung kontrolliert.
Über den Londoner Parteitag hatte Iwanowitsch in seinem illegalen Bakuer Blatt geschrieben: »Von den menschewistischen Resolutionen wurde nur die Resolution über die Tätigkeit der Partisanen angenommen und auch das nur durch Zufall; die Bolschewiki wichen diesmal dem Kampf aus, oder besser, wollten ihn nicht auf die Spitze treiben, einfach deshalb, damit die Menschewiki wenigstens auch einmal einen Grund zur Freude hatten.«
Eine reichlich alberne Erklärung: den Menschewiki »auch einmal einen Grund zur Freude« zu verschaffen, solche philanthropischen Bemühungen figurierten nicht unter Lenins politischen Gepflogenheiten. In Wirklichkeit waren die Bolschewiki »dem Kampf ausgewichen«, weil sie in dieser Frage nicht nur die Menschewiki gegen sich hatten, sondern auch die Bundisten und die Letten und vor allem die ihnen am nächsten stehenden Polen. Darüber hinaus gab es unter den Bolschewiki selbst heftige Meinungsverschiedenheiten über die Frage der Expropriationen. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß der Verfasser einfach seinen Mund zu voll genommen hätte, ohne dabei einen besonderen Zweck im Auge zu haben. Er hielt es vielmehr für notwendig, vor den »Bojewiki« diese Entscheidung des Parteitags, die ihrer Tätigkeit Grenzen zog, herabzusetzen. Das macht seine Erklärung natürlich nicht weniger sinnlos; aber so geht Stalin vor: immer, wenn er glaubt, sein Ziel verschleiern zu müssen, zögert er nicht, zu den unlautersten Tricks zu greifen. Und nicht selten erreichte er gerade durch die unverhüllte Oberflächlichkeit seiner Argumente den gestellten Zweck, von der Notwendigkeit, nach tiefer liegenden Motiven zu suchen, befreit zu sein. Ein ernsthaftes Parteimitglied konnte nur resigniert die Achseln zucken, wenn es vernahm, daß Lenin dem Kampf ausgewichen sei, um den Menschewiki auch einmal eine Freude zu machen. Der einfache Kampfgruppenmann hingegen mußte nur zu gern hören, daß die Entschließung gegen die Terroraktionen »nur durch Zufall« zustande gekommen sei und nicht ernst genommen werden brauchte. Für die nächste Aktion genügte das.
Am 12. Juni 1907, um 10 Uhr 45 morgens, fand auf dem Eriwan-Platz in Tiflis ein in seiner Kühnheit außergewöhnlicher bewaffneter Überfall auf eine Kosakenabteilung statt, die einen Geldtransport begleitete. Die Operation wickelte sich mit der Präzision eines Uhrwerks ab. In genau vorausberechneten Zeitabständen wurden mehrere Bomben von außerordentlicher Explosivkraft geworfen. Zahlreiche Revolverschüsse wurden abgegeben. Der Geldsack – 34 000 Rubel – verschwand mit den Revolutionären. Nicht ein einziger »Bojewik« wurde von der Polizei gefaßt. Drei Angehörige der Begleitmannschaft wurden getötet, über fünfzig Personen wurden verwundet, davon die meisten nur leicht. Der Leiter des Unternehmens, der Offiziersuniform trug, stand mitten auf dem Platze, behielt alle Bewegungen der Begleitmannschaft und der Bojewiki im Auge und war schon vor dem Angriff bemüht, mit geschickten Zurufen die Neugierigen fernzuhalten, um unnötige Opfer zu vermeiden. In einem kritischen Augenblick, als schon alles verloren schien, nahm der Pseudo-Offizier mit erstaunlicher Gelassenheit den Geldsack an sich; er versteckte ihn vorübergehend unter dem Sofa des Direktors vom Observatorium, dem gleichen Direktor, bei dem der junge Koba seinerzeit als Buchhalter gearbeitet hatte. Der Pseudo-Offizier war der armenische Bojewik Petrossjan, »Kamo« genannt.
Er war Ende des vorigen Jahrhunderts nach Tiflis gekommen und revolutionären Propagandisten – unter ihnen Koba – in die Hände gefallen; Petrossjan verstand kaum Russisch. Eines Tages richtete er an Koba die Frage: »Kamo« – anstatt wie es in korrektem Russisch heißt, Komu, zu wem – »zu wem soll das gebracht werden?« Koba machte sich über ihn lustig: »Was heißt Kamo, Kamo!« Aus dem etwas geschmacklosen Witz entstand ein revolutionäres Pseudonym, das in die Geschichte eingehen sollte. So erzählt es die Medwedijewa, Kamos Witwe. Sie sagt sonst nichts über die Beziehungen zwischen den beiden Männern. Dagegen spricht sie von Kamos rührender Anhänglichkeit an Lenin, den er das erstemal 1906 in Finnland besuchte. »Dieser Kämpfer von grenzenloser Kühnheit und unerschütterlicher Willenskraft«, schreibt die Krupskaja, »war zugleich ein außerordentlich sensibler Mensch, ein sehr zartfühlender, ein wenig naiver Genosse. Er hing leidenschaftlich an Iljitsch, Krassin und Bogdanow ... Er befreundete sich mit meiner Mutter, erzählte ihr von seiner Tante und seinen Schwestern. Kamo ging oft von Finnland nach Petersburg; er trug immer seine Waffen bei sich, und Mutter schnallte ihm jedesmal mit besonderer Sorgfalt die Revolver auf dem Rücken fest.« Das ist um so erstaunlicher, als die Mutter der Krupskaja die Witwe eines zaristischen Beamten war, die erst in hohem Alter mit der Religion brach.
Kurz vor der Tifliser Expropriation traf Kamo zu einem neuen Besuch beim Generalstab in Finnland ein. »Als Offizier verkleidet«, schreibt die Medwedijewa, »ging Kamo nach Finnland, besuchte Lenin und kam mit Waffen und Sprengstoff nach Tiflis zurück.« Diese Reise hat entweder unmittelbar vor Beginn des Londoner Parteitags oder kurz danach stattgefunden. Der Sprengstoff stammte aus Krassins Laboratorium. Chemiker von Beruf, hatte Leonid schon als Student von Bomben in der Größe einer Nuß geträumt. Das Jahr 1905 gab ihm die Möglichkeit, seine Experimente in dieser Richtung auszubauen. Die ideale Dimension einer Nuß haben seine Bomben zwar nie erreicht, aber in den Laboratorien, die unter seiner Leitung arbeiteten, wurden Bomben von größter Explosivkraft hergestellt. Auf dem Eriwan-Platz in Tiflis haben die Bojewiki diese Bomben nicht zum erstenmal ausprobiert.
Nach der Expropriation tauchte Kamo in Berlin auf. Dort wurde er auf eine Denunziation des Spitzels Schitomirski hin, der eine hohe Stellung in der Auslandsorganisation der Bolschewiki einnahm, verhaftet. Bei der Verhaftung entdeckte die preußische Polizei einen Koffer, in dem sich offenbar Bomben und Revolver befanden. Den Berichten der Menschewiki nach (die Untersuchung führte der spätere Diplomat Tschitscherin), waren die Waffen für einen Überfall auf das Bankhaus Mendelssohn in Berlin bestimmt gewesen. »Das ist nicht richtig«, erklärt der gut informierte Bolschewik Pjatnitzki, »es hat sich um Dynamit gehandelt, das im Kaukasus verwendet werden sollte.« Lassen wir die Frage offen, wofür das Dynamit bestimmt war. Kamo blieb über anderthalb Jahre in einem deutschen Gefängnis, wo er, wie ihm Krassin geraten hatte, die ganze Zeit hindurch eine schwere Geisteskrankheit simulierte. Als »unheilbar« wurde er an Rußland ausgeliefert und brachte abermals anderthalb Jahre im Metechgefängnis in Tiflis zu, wo er den schwierigsten Prüfungen unterworfen wurde. Schließlich wurde er endgültig für unheilbar geisteskrank erklärt und in eine Irrenanstalt übergeführt, aus der er entwich. »Dann reist er, illegal, im Kielraum eines Schiffes versteckt, nach Paris, um Iljitsch zu besuchen.« Das war im Jahre 1911. Kamo litt sehr unter der Spaltung zwischen Lenin einerseits und Krassin und Bogdanow andererseits. »Er war ihnen allen dreien tief zugetan«, wiederholt die Krupskaja. Folgt eine Idylle: Kamo bittet, man möchte ihm Mandeln bringen; er setzt sich in die Küche, die als Salon diente, ißt seine Mandeln wie im heimatlichen Kaukasus und erzählt von den schrecklichen Jahren, von den Tobsuchtsanfällen, die er simulierte, von dem Sperling, den er im Gefängnis gezähmt hatte. »Iljitsch hörte zu, tiefes Mitleid ergriff ihn mit diesem Menschen von schrankenloser Kühnheit, der, heißen Herzens und naiv wie ein Kind, zu den schwierigsten Aufgaben bereit, nun nach seiner Flucht aber nicht wußte, was er anfangen sollte.«
Kamo wurde später in Rußland von neuem verhaftet und zum Tode verurteilt. Der Zarenerlaß von 1913, anläßlich des dreihundertjährigen Bestehens der Dynastie Romanow, setzte unerwarteterweise lebenslängliche Zwangsarbeit an Stelle des Galgens. Vier Jahre später brachte die Februarrevolution, wieder unerwarteterweise, die Befreiung. Die Oktoberrevolution brachte die Bolschewiki an die Macht. Kamo stieß sie aus seinem Lebensgleise – einem mächtigen Fisch gleich, den man auf den Strand geworfen hat. Während des Bürgerkrieges habe ich versucht, ihn zum Partisanenkampf hinter den feindlichen Linien heranzuziehen, aber Betätigung auf dem Schlachtfeld lag ihm offenbar nicht. Die fürchterlichen Jahre, die er durchgemacht hatte, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Die neuen Verhältnisse erstickten ihn. Er hatte nicht seines und seiner Kameraden Leben Dutzende von Malen aufs Spiel gesetzt, um wohlbestallter Beamter zu werden. Eine andere legendäre Figur, Kote Tsindsadse, ist, von Stalin in die Verbannung geschickt, an Tuberkulose zugrunde gegangen. Ein ähnliches Schicksal wäre auch Kamo beschieden gewesen, hätte ihn nicht im Sommer 1922 in einer Straße in Tiflis ein Automobil überfahren. Wahrscheinlich saß in diesem Automobil ein Mitglied der neuen Bürokratie. Es war zur Dämmerstunde, Kamo war auf dem Fahrrad unterwegs – er hatte keine Karriere gemacht. Er ist auf symbolische Weise umgekommen.
Souvarine spricht im Zusammenhang mit Kamo geringschätzig von der »unzeitgemäßen Mystik«, die sich mit dem Rationalismus fortgeschrittener Länder nicht vertrage. In Wirklichkeit aber haben gewisse Züge des revolutionären Typus – der in den Ländern »westlicher Zivilisation« noch lange nicht verschwunden ist – in Kamo nur ihren besonders betonten Ausdruck gefunden. Der Mangel an revolutionärem Geist in der europäischen Arbeiterbewegung hat schon in einer Reihe von Ländern dem Faschismus zum Siege verholfen, in dem die »unzeitgemäße Mystik« – hier ist das Wort am Platze! – ihren abstoßendsten Ausdruck findet. Der Kampf gegen die faschistische Tyrannei wird unweigerlich den revolutionären Kämpfern im Westen jene Züge aufprägen, die den skeptischen Philister in der Figur Kamos so erstaunen machen. In seiner »Eisernen Ferse« prophezeit Jack London ein ganzes Zeitalter von amerikanischen Kamos im Dienste des Sozialismus. Der historische Prozeß ist sehr viel verwickelter, als ein oberflächlicher Rationalist glauben möchte.
Die persönliche Teilnahme Kobas an der Tifliser Expropriation wurde in der Partei lange Zeit hindurch nicht in Zweifel gestellt. Der ehemalige Sowjetdiplomat Bessedowsky, der in zweit- und drittrangigen Bürokratensalons die verschiedensten Geschichten erzählen gehört hat, meint, daß Stalin, »in Übereinstimmung mit Lenins Instruktionen«, nicht direkt an der Expropriation beteiligt war, daß er sich aber »später gerühmt habe, er sei es gewesen, der den Aktionsplan bis in die kleinsten Einzelheiten ausgearbeitet habe, und er habe eigenhändig die erste Bombe vom Dach des Fürst-Sumbatowschen Hauses geworfen«. Es ist schwer zu entscheiden, ob es wirklich Stalin war, der sich gelegentlich solcher Dinge gerühmt hat, oder ob sich nur Bessedowsky seiner Informationen rühmen will. Auf alle Fälle hat in der Sowjetzeit Stalin solche Gerüchte nicht bestätigt, aber dementiert hat er sie ebenfalls nicht. Er hatte offenbar nichts dagegen, daß sich die tragische Romantik der Expropriationen im Bewußtsein der Jugend mit seinem Namen verband. Ich für meinen Teil zweifelte noch 1932 nicht daran, daß Stalin bei dem Überfall auf dem Eriwan-Platz eine führende Rolle gespielt habe, und habe das auch in einem meiner Artikel nebenbei erwähnt. Inzwischen veranlaßt mich aber ein genaueres Studium der ganzen Begleitumstände, die traditionelle Ansicht zu revidieren.
In einer dem XII. Bande der Gesammelten Werke Lenins beigegebenen Zeittafel lesen wir unter dem Datum des 12. Juni 1907: »Expropriation von Tiflis (341 000 Rubel), organisiert von Kamo-Petrossjan.« Und das ist alles. In einem Krassin gewidmeten Sammelwerk, in dem viel von der berühmten Geheimdruckerei im Kaukasus und von den Kampfabteilungen der Partei die Rede ist, wird Stalin nicht einmal erwähnt. Ein ehemaliger Bojewik, der über die Vorgänge in dieser Zeit gut unterrichtet ist, schreibt: »Die Pläne für die Expropriationen in den Verwaltungsgebäuden von Kwirili und Douchet und die auf dem Eriwanplatz, die der letztere (Kamo) organisiert hatte, sind von ihm zusammen mit Nikititsch (Krassin) vorbereitet und ausgearbeitet worden.« Von Stalin kein Wort. Ein anderer früherer Bojewik schreibt: »Expropriationen wie die von Tiflis und anderswo wurden unter der direkten Leitung von Leonid Borissowitsch (Krassin) durchgeführt.« Wiederum nichts über Stalin. Noch ist Stalin in dem Buch von Bibineschwili erwähnt, in dem alle Einzelheiten über die Vorbereitung und Durchführung der Expropriationen zusammengetragen worden sind. Daraus folgt, daß Koba nicht in direkter Verbindung mit den Mitgliedern der Kampfgruppen gestanden hat, daß er ihnen keinerlei Anweisungen erteilt hat, daß er infolgedessen auch nicht der Organisator im eigentlichen Sinne des Wortes gewesen ist, geschweige denn an den Kampfhandlungen teilgenommen hat.
Der Londoner Parteitag ging am 27. April zu Ende. Die Tifliser Expropriation fand am 12. Juni statt, einundeinenhalben Monat später. Zwischen seiner Rückkehr aus dem Ausland und dem Tage der Expropriation blieb Stalin viel zu wenig Zeit, um die Vorbereitung eines so schwierigen Unternehmens zu leiten. Sicherlich hatten die Bojewiki schon vorher Muße gehabt, unter sich die notwendige Auswahl zu treffen und sich gelegentlich anderer gefährlicher Unternehmungen aufeinander einzuspielen. Möglicherweise warteten sie die Entscheidung des Parteitags ab. Vielleicht waren einige im Zweifel darüber, welche Stellung Lenin in der Frage der Expropriationen einnehmen würde. Sie warteten auf das Signal. Vielleicht hat Stalin das Signal gegeben. Aber ging seine Teilnahme weiter?
Von den Beziehungen zwischen Kamo und Koba wissen wir so gut wie nichts. Kamo schloß sich gern jemandem an. Doch spricht niemand von einer Freundschaft zwischen ihm und Koba. Das Stillschweigen, das über die Beziehungen zwischen beiden gewahrt wird, läßt eher darauf schließen, daß es Konflikte zwischen ihnen gab. Der Konfliktstoff mag darin gelegen haben, daß Koba versuchte, Befehle zu erteilen oder sich Dinge zuzuschreiben, mit denen er nichts zu tun gehabt hatte. Bibineschwili erzählt in seinem Buch über Kamo, daß später, als Georgien schon ein Sowjetland geworden war, ein »geheimnisvoller Unbekannter« auftauchte, der sich unter einem lügnerischen Vorwand Kamos Briefwechsel und andere wertvolle Dokumente aneignete. Wer brauchte diese Sachen und zu welchem Zweck? Die Dokumente sowohl wie der unbekannte Mann sind spurlos verschwunden. Ist es voreilig anzunehmen, daß Stalin mit Hilfe eines Agenten Kamos Dokumente in seinen Besitz gebracht hat, weil sie ihn aus dem einen oder anderen Grunde beunruhigten? Das würde natürlich nicht die Möglichkeit ausschließen, daß beide im Juni 1907 eng zusammengearbeitet haben. Noch hindert es uns anzunehmen, daß sich die Beziehungen zwischen beiden nach der Tifliser »Affäre« verschlechtert haben und daß Koba der Ratgeber Kamos bei der Ausarbeitung der letzten Einzelheiten gewesen ist. Der Berater kann im Auslande leicht eine übertriebene Vorstellung von seiner Rolle erweckt haben. Schließlich ist es nun einmal leichter, sich die Organisierung einer Expropriation zuzuschreiben, als die Führung der Oktoberrevolution. Allerdings ist Stalin später auch davor nicht zurückgeschreckt.
Barbusse erzählt, daß Koba 1907 nach Berlin gegangen und einige Zeit dort geblieben sei, »um sich mit Lenin zu unterhalten«. Worüber sich die beiden unterhalten haben, weiß der Verfasser nicht. Der Text des Buches von Barbusse besteht fast nur aus Irrtümern. Doch zwingt uns diese Anspielung auf eine Berliner Reise um so mehr zur Aufmerksamkeit, als Stalin auch in seinem Dialog mit Ludwig von einem Aufenthalt in Berlin im Jahre 1907 gesprochen hat. Wenn Lenin für diese Zusammenkunft eine besondere Reise nach der deutschen Hauptstadt unternommen hat, dann ganz bestimmt nicht theoretischer »Unterhaltungen« wegen. Die Zusammenkunft kann nur entweder kurz vor, während, oder kurz nach dem Parteitag stattgefunden haben und betraf sicherlich die bevorstehende Expropriation, die Mittel und Wege, das Geld zu transportieren und ähnliche Dinge. Warum hat sie in Berlin und nicht in London stattgefunden? Wahrscheinlich hielt es Lenin für unklug, sich mit Iwanowitsch in London zu treffen, wo sie den Blicken der übrigen Delegierten und denen der zaristischen Spitzel, die der Parteitag in großer Zahl angezogen hatte, ausgesetzt gewesen wären. Möglich ist auch, daß andere, die am Kongreß nicht teilnahmen, bei den Besprechungen zugegen sein sollten.
Von Berlin aus kehrte Koba nach Tiflis zurück, reiste aber kurz darauf nach Baku, von wo aus er, Barbusse nach, »wieder ins Ausland ging, um Lenin zu treffen«. Ein Kaukasier, der seine Sache gut gelernt hatte – Barbusse brachte einige Zeit im Kaukasus zu und schrieb dort eine Anzahl von Geschichten nieder, die ihm Beria servierte – erwähnte zwei Zusammenkünfte Stalins mit Lenin im Ausland, um zu zeigen, wie eng beide miteinander verbunden gewesen waren. Der Zeitpunkt dieser Zusammenkünfte sagt alles: sie fanden, die eine unmittelbar vor, die andere unmittelbar nach der Expropriation statt. Das erklärt ihren Zweck; aller Wahrscheinlichkeit nach wurde auf dem zweiten Zusammentreffen die Frage besprochen: weitermachen oder aufhören?
»Damals«, schreibt Iremaschwili, »begann die Freundschaft zwischen Koba-Stalin und Lenin.« Das Wort »Freundschaft« ist hier aber ganz sicher nicht am Platze. Die Distanz, die diese beiden Männer trennte, schloß eine persönliche Freundschaft aus. Doch scheint, daß sie sich in jener Zeit näher gekommen sind. Wenn die Vermutung richtig ist, daß Lenin mit Koba die Pläne für die Tifliser Expropriation besprochen hat, dann war es natürlich, daß er für denjenigen Bewunderung empfand, in dem er den Organisator der Expropriation sehen mußte. Wahrscheinlich hat Lenin, als er das Telegramm mit der Mitteilung in der Hand hielt, daß die Beute eingebracht werden konnte, ohne ein Opfer auf Seiten der Revolutionäre zu fordern, vor sich selbst oder vor der Krupskaja ausgerufen: »Welch prächtiger Georgier!« Das sind die Worte, die sich später in einem seiner Briefe an Gorki finden. Enthusiasmus für Leute, die Proben ihrer Entschlußkraft abgelegt oder eine ihnen anvertraute Aufgabe gut durchgeführt hatten, war einer der hervorstechendsten Züge Lenins bis an sein Lebensende. Vor allen anderen schätzte er Männer der Tat. Indem er sein Urteil über Koba auf dessen Leistungen bei den kaukasischen Expropriationen basierte, kam er anscheinend dazu, in Koba einen Mann zu sehen, fähig, bis zum äußersten zu gehen oder imstande, andere so zu dirigieren, daß sie vor nichts zurückschreckten. Er kam zu dem Schlusse, daß der »prächtige Georgier« sehr nützlich sein würde.
Glück brachte die Tifliser Beute nicht; die ganze Geldsumme bestand aus Fünfhundertrubel-Scheinen: unmöglich, so hohe Banknoten in Umlauf zu setzen. Die Öffentlichkeit nahm das Scharmützel auf dem Eriwan-Platz seines unglücklichen Ausgangs wegen unfreundlich auf, und es war nicht daran zu denken, die Geldscheine auf einer russischen Bank einzuwechseln. Das mußte im Ausland geschehen. Der Provokateur Schitomirsky, der an dieser Operation teilnahm, verriet sie beizeiten der Polizei. Der zukünftige Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, Litwinow, wurde in Paris bei dem Versuch, die Banknoten zu wechseln, verhaftet. Olga Rawitsch, die später Sinowjews Frau wurde, fiel in Stockholm der Polizei in die Hände. Semaschko, zukünftiger Volkskommissar für das Gesundheitswesen, wurde in Genf verhaftet, scheinbar durch Zufall. »Ich war einer von den Bolschewiki«, schreibt er, »die damals grundsätzlich gegen die Expropriationen waren.« Die Zahl solcher Bolschewiki stieg beträchtlich nach den Geschichten, die bei den Wechseloperationen passierten. »Der Durchschnittsschweizer«, vermerkt die Krupskaja, »war zu Tode erschrocken. Man sprach nur noch von den russischen Expropriateuren. Auch in der Pension, wo Iljitsch und ich aßen, wurde mit Schrecken davon gesprochen.« Erwähnen wir noch, daß sowohl Olga Rawitsch wie Semaschko seit der letzten »Säuberung« verschwunden sind.
Die Tifliser Expropriation kann in keiner Weise als eine Partisanentat zwischen zwei Schlachten im Bürgerkrieg angesehen werden. Lenin hatte einsehen müssen, daß der Aufstand auf eine unbestimmbare Zukunft zurückgeworfen worden war. Ihm stand diesmal einfach der Versuch vor Augen, der Partei auf Kosten des Feindes die finanziellen Mittel zu verschaffen, die ihr erlauben würden, über die bevorstehende ungewisse Periode hinwegzukommen. Lenin hat der Versuchung nicht widerstehen können; er ergriff die Gelegenheit, den günstigen »Ausnahmefall«, beim Schopfe. In diesem Sinne, und das muß offen ausgesprochen werden, enthielt die Idee von der Tifliser Expropriation ein gut Teil Abenteuertum, was im allgemeinen Lenins Politik fremd war. Im Falle Stalin liegt die Sache ganz anders. Weitschauende historische Erwägungen waren für ihn bedeutungslos. Die Londoner Resolution war für ihn nur ein Fetzen Papier, ein durchsichtiger Trick genügte, um sich ihren unangenehmen Konsequenzen zu entziehen. Der Erfolg würde das Risiko schon rechtfertigen. Souvarine hat bei dieser Gelegenheit eingewandt, daß es ungerecht sei, die Verantwortung vom Fraktionsführer auf eine zweitrangige Figur abzuschieben. Darum, die Frage der Verantwortlichkeit zu verschieben, handelt es sich aber nicht. Die Mehrheit der bolschewistischen Fraktion war zu jener Zeit in Sachen der Expropriationen gegen Lenin; die Bolschewiki, die mit den Kampfgruppen in nahe Berührung gekommen waren, hatten allzu überzeugungskräftige Beobachtungen gemacht, was Lenin, der von neuem Emigrant war, nicht tun konnte. Ohne Korrektur von unten muß auch der mit dem größten Genie begabte Führer Fehler machen. Tatsache bleibt, daß Stalin nicht zu denen gehörte, die rechtzeitig begriffen, daß Partisanenstreiche unter den Umständen, wie sie der revolutionäre Abstieg mit sich bringt, unzulässig sind. Und das war kein Zufall. Für ihn war die Partei vor allem ein Apparat. Der Apparat verlangte Mittel, um weiterexistieren zu können. Die Geldmittel mußten mit Hilfe eines anderen Apparates herbeigeschafft werden, ungeachtet des Lebens und Kampfes der Massen. Da war Stalin in seinem Element.
Die Folgen dieses tragischen Abenteuers, mit denen eine ganze Phase im Leben der Partei zu Ende ging, waren schwerwiegend. Die Auseinandersetzungen über die Tifliser Expropriation vergifteten auf lange Zeit hinaus die Atmosphäre in der Partei und auch innerhalb der bolschewistischen Fraktion selbst. Lenin nahm von da an einen Frontwechsel vor und trat entschieden gegen die Taktik der Expropriationen auf, die noch während einer gewissen Periode hindurch zum Fundus des »linken« Flügels der Bolschewiki gehörte. Zum letztenmal wurde die Tifliser »Affäre« im Januar 1910 auf Drängen der Menschewiki parteioffiziell im Zentralkomitee zur Debatte gestellt. Eine Resolution wurde gefaßt, die die Expropriationen als völlig unzulässigen Verstoß gegen die Parteidisziplin scharf verurteilte, aber anerkannte, daß es nicht in der Absicht der Teilnehmer gelegen habe, die Arbeiterbewegung zu schädigen, daß sich die Teilnehmer vielmehr »allein von schlecht verstandenem Parteiinteresse« hätten leiten lassen. Niemand wurde ausgeschlossen. Niemand wurde namentlich genannt. Wie die anderen, so wurde auch Koba amnestiert als einer, der sich »von schlecht verstandenen Parteiinteressen« hatte leiten lassen.
Inzwischen nahm der Auflösungsprozeß der revolutionären Organisationen seinen Fortgang. Schon im Oktober 1907 schrieb der menschewistische »Literat« Potressow an Axelrod: »Bei uns ist der Zusammenbruch vollständig und die Demoralisierung absolut ... Es gibt nicht nur keine Organisation mehr, sondern nicht einmal mehr die Elemente dafür ... Und diese Nicht-Existenz wird zum Prinzip erhoben ...« Es sollte bald zum Vorrecht der meisten Führer des Menschewismus mit Einschluß Potressows selbst werden, das Nichtsein zum Prinzip zu erheben! Sie erklärten, daß die illegale Partei ein für allemal erledigt und daß der Versuch, sie wiederzubeleben – eine reaktionäre Utopie sei. Martow versicherte, es seien gerade »solch skandalöse Vorkommnisse wie die beim Umtausch der Tifliser Banknoten«, die es »den ergebensten und aktivsten Elementen der Arbeiterklasse« ratsam erscheinen ließen, alle Berührung mit dem illegalen politischen Apparat zu vermeiden. Ein anderes Argument für die »Notwendigkeit«, den verpesteten Untergrund zu meiden, sahen die Menschewiki, nunmehr »Liquidatoren« genannt, in dem erschreckenden Überhandnehmen der Provokation. Sich auf die Gewerkschaften, Erziehungsvereine und Solidaritätsverbände zurückziehend, leisteten sie keine revolutionäre Arbeit mehr, sondern wurden zu Kulturpropagandisten. Um ihre Posten in den legalen Organisationen zu behalten, begannen die aus der Arbeiterklasse stammenden Funktionäre, sich eine Schutzfarbe zuzulegen. Streikkämpfen gingen sie aus dem Wege, um ihre gerade eben geduldeten Gewerkschaften nicht zu kompromittieren. In der Praxis bedeutete die Legalität um jeden Preis die völlige Preisgabe der revolutionären Methoden.
Die Liquidatoren standen in jenen düstersten Jahren im Vordergrund. »Sie hatten weniger unter polizeilichen Verfolgungen zu leiden«, schreibt Olminsky. »Sie hatten viele Schriftsteller auf ihrer Seite, zahlreiche Redner und fast alle Intellektuellen. Sie waren Hahn im Korb und krähten entsprechend.« Die Reihen der bolschewistischen Fraktion lichteten sich, und zwar von Stunde zu Stunde; die Versuche, den illegalen Apparat aufrechtzuerhalten, begegneten auf Schritt und Tritt feindlichem Widerstand; die Kraft des Bolschewismus schien endgültig gebrochen. »Die ganze gegenwärtige Entwicklung«, schrieb Martow, »macht die Bildung einer einigermaßen stabilen Parteisekte zu einer jämmerlichen reaktionären Utopie.« Diese grundlegende Prognose Martows und des russischen Menschewismus war ein schwerer Fehler. Was sich als reaktionäre Utopie herausstellte, das waren die Perspektiven und Losungsworte der Liquidatoren. Für eine legale Arbeiterpartei war im Regime des 3. Juni kein Platz. Sogar der Partei der Liberalen wurde die legale Anerkennung verweigert. »Die Liquidatoren haben die illegale Partei beseitigt«, schrieb Lenin, »aber ihre Verpflichtung, eine legale Partei zu schaffen, haben sie nicht erfüllt.« Gerade dadurch, daß der Bolschewismus den Aufgaben der Revolution in der Periode ihrer Demütigung und ihres Niedergangs treu blieb, bereitete er den unerhörten Aufschwung vor, den er in den Jahren des Wiedererwachens der Revolution nehmen sollte.
Innerhalb des linken Flügels der bolschewistischen Fraktion, auf dem den Liquidatoren entgegengesetzten Pole, hatte sich inzwischen eine extremistische Gruppe gebildet, die sich hartnäckig weigerte, die veränderten Verhältnisse anzuerkennen, und die fortfuhr, die Taktik der Direkten Aktion zu verteidigen. Nach den Dumawahlen führten die Meinungsverschiedenheiten, die seinerzeit über die Frage des Boykotts entstanden waren, zur Bildung einer neuen Fraktion, die für die Abberufung der sozialdemokratischen Abgeordneten aus der Duma eintrat, »Otsowisten« (»Zurückrufer«) genannt. Die Otsowisten waren zweifellos das genau symmetrische Gegenstück zu den Liquidatoren. So wie es die Menschewiki immer und bei jeder Gelegenheit, selbst im Augenblick des unwiderstehlichsten Vorwärtsdrängens der Revolution, für notwendig erachteten, in jedes »Parlament« zu gehen, auch wenn es sich nur um ein kurzlebiges Täuschungsexperiment des Zaren handelte, ebenso glaubten die Otsowisten, sie würden, wenn sie das nur dank einer Niederlage der Revolution zustande gekommene Parlament boykottierten, einen neuen Druck der Massen auslösen können. Wie elektrische Entladungen von Donnerschlägen begleitet sind, so versuchten diese »Unversöhnlichen«, elektrische Entladungen hervorzurufen mittels künstlichen Gedonners.
Auf Krassin übte die Zeit der Dynamitlaboratorien noch immer eine große Anziehungskraft aus. Dieser scharfsinnige und einsichtige Mensch gesellte sich für eine Zeitlang zur Sekte der Otsowisten, um sich aber dann für eine ganze Reihe von Jahren von der Revolution überhaupt zu trennen. Der andere nächste Mitarbeiter Lenins in der geheimen bolschewistischen »Troika«, Bogdanow, ging auch nach links. Mit dem Ende des geheimen Triumvirats hatte auch die alte bolschewistische Leitung zu bestehen aufgehört. Aber Lenin wankte nicht. Im Sommer 1907 war die Mehrheit der bolschewistischen Fraktion für den Boykott. Im Frühjahr 1908 waren die Otsowisten in Petersburg und Moskau schon in der Minderheit. An Lenins Überlegenheit war nicht zu zweifeln. Was auch Koba rechtzeitig erkannte, denn die unglückliche Erfahrung, die er mit seiner Haltung in der Agrarfrage gemacht hatte, als er offen gegen Lenin aufgetreten war, hatte ihn vorsichtiger werden lassen. Stillschweigend und ohne viel Aufhebens löste er sich von seinen Boykottierern. Von nun an wurde es zur Grundregel seines Verhaltens, lautlos die Stellung zu wechseln und bei Wendungen im Schatten zu bleiben.
Die fortlaufende Aufsplitterung der Partei in kleine Gruppen, die sich inmitten vollständiger Leere rücksichtslos untereinander befehdeten, ließ mancherorts die Neigung zur Versöhnung, zur Verständigung aufkommen, zur Einheit um jeden Preis. Eben in dieser Periode trat eine andere Seite des »Trotzkismus« in den Vordergrund, nicht die der Theorie der permanenten Revolution, sondern die der innerparteilichen »Versöhnung«. Für das Verständnis des späteren Kampfes zwischen Stalinismus und Trotzkismus ist es unerläßlich, hier darüber, wenn auch nur kurz, zu sprechen. Ich habe im Jahre 1904 – das heißt, seit dem Augenblick, wo die Meinungsverschiedenheiten über die Einschätzung der liberalen Bourgeoisie auftraten – mit der Minderheit auf dem Zweiten Parteitag (den Menschewiki) gebrochen und habe in den folgenden dreizehn Jahren keiner Fraktion angehört. Meine Einstellung im innerparteilichen Konflikt läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: solange sowohl bei den Bolschewiki wie bei den Menschewiki die revolutionären Intellektuellen die Führung innehatten und solange weder die eine noch die andere Gruppierung über die bürgerlich-demokratische Revolution hinausgehen wollte, war für eine Spaltung keine Berechtigung vorhanden; bei einer neuen Revolution würden beide Fraktionen unter dem Druck der arbeitenden Massen auf alle Fälle gezwungen sein, wie im Jahre 1905, dieselbe revolutionäre Politik zu verfolgen. Manche Kritiker des Bolschewismus halten noch heutigentags mein früheres Versöhnlertum für die Stimme der Weisheit. Doch hat sowohl die Theorie wie die Praxis längst erwiesen, daß es ein tiefer Irrtum war. Einfache Versöhnung von Fraktionen ist nur möglich auf einer »mittleren« Linie. Wo aber läge die Garantie dafür, daß diese künstlich gezogene Diagonale mit den Notwendigkeiten der objektiven Entwicklung übereinstimmt? Die Aufgabe wissenschaftlicher Politik besteht darin, ein Programm und eine Taktik aus der Analyse des Klassenkampfes abzuleiten, nicht aber aus einem Parallelogramm so zweitrangiger und unbeständiger Kräfte, wie es die politischen Gruppierungen sind. Gewiß, die Stellung der Reaktion war so stark, daß sie der politischen Aktivität der ganzen Partei äußerst enge Grenzen zog. Es konnte damals scheinen, als seien die Meinungsverschiedenheiten unwesentlich und nur von den Führern in der Emigration künstlich aufgebläht. Aber gerade in der Periode der Reaktion wäre die revolutionäre Partei ohne eine große Perspektive unfähig gewesen, neue Kader heranzubilden. Den morgigen Tag vorzubereiten, das war die Aufgabe der Stunde. Die Politik der Versöhnung nährte sich von der Hoffnung, daß der Verlauf der Ereignisse selbst die notwendige Taktik vorschreiben werde. Aber dieser fatalistische Optimismus bedeutet in der Praxis Verzicht nicht nur auf fraktionellen Kampf, sondern auf die Idee der Partei selbst – wenn der »Lauf der Ereignisse« imstande ist, den Massen unmittelbar die richtige Politik zu diktieren, wozu dann noch eine besondere Vereinigung der Vorhut des Proletariats, wozu dann noch die Ausarbeitung eines Programms, das Auswählen der Führer, die Erziehung im Geiste der Disziplin?
Später, im Jahre 1911, hat Lenin die Bemerkung gemacht, daß das Versöhnlertum unauflöslich mit dem Wesen derjenigen Aufgaben verbunden ist, die die Partei in den Zeiten der Konterrevolution zu lösen hat. »Eine Anzahl von Sozialdemokraten«, schrieb er, »verfielen zu dieser Zeit in Versöhnlertum, wobei sie von den verschiedensten Voraussetzungen ausgingen. In ihrer konsequentesten Form vertrat Trotzky die Versöhnung, der auch der einzige war, der versuchte, dieser Politik eine theoretische Fundierung zu geben.« Weil das Versöhnlertum in jenen Jahren den Charakter einer Epidemie angenommen hatte, erblickte Lenin darin die größte Gefahr für die Entwicklung der revolutionären Partei. Er unterschied sehr gut die »verschiedensten Voraussetzungen« bei den Versöhnlern, die opportunistischen von den revolutionären. Doch hielt er sich in seinem Kreuzzug gegen die gefährliche Tendenz für berechtigt, keinen Unterschied zwischen den subjektiven Quellen zu machen; im Gegenteil, mit verdoppelter Schärfe griff er die Versöhnler an, die ihrer Grundauffassung nach dem Bolschewismus nahestanden. Den öffentlichen Kampf mit dem eigenen versöhnlerischen Flügel in der bolschewistischen Fraktion vermeidend, zog Lenin es vor, gegen den »Trotzkismus« zu polemisieren, besonders nachdem ich, wie erwähnt, versucht hatte, der Versöhnung eine theoretische Grundlage zu geben. Zitate aus den dieser heftigen Polemik gewidmeten Schriften haben später Stalin Dienste erwiesen, zu denen sie sicherlich nicht bestimmt waren.
Das Studium von Lenins Werken aus der Periode der Reaktion – peinlich genau bis ins einzelne gehend, aber von kühnem gedanklichen Schwung – wird für die revolutionäre Schulung stets unerläßlich bleiben. »In der Zeit der Revolution«, schrieb Lenin im Juli 1909, »lernten wir, französisch zu sprechen, das heißt ... die Energie und den Umfang des direkten Massenkampfes zu steigern. Jetzt, in der Zeit der Stagnation, der Reaktion, des Verfalls, müssen wir lernen, deutsch zu sprechen, das heißt ... langsam vorangehen, Schritt für Schritt.« Der Führer der Menschewiki, Martow, schrieb im Jahre 1911: »Das, was die Führer der legalen Bewegung (das heißt: die Liquidatoren) vor zwei und drei Jahren nur im Prinzip anerkannten, nämlich die Notwendigkeit, eine ›deutsche‹ Partei zu schaffen, das wird jetzt allgemein als eine Aufgabe betrachtet, an deren praktische Lösung heranzugehen höchste Zeit ist.« Martow und Lenin schienen beide »deutsch« zu sprechen, in Wirklichkeit redeten sie ganz verschiedene Sprachen. Für Martow hieß »deutsch« reden, sich dem russischen Halbabsolutismus anzupassen, in der Hoffnung, ihn stufenweise zu »europäisieren«. Für Lenin bedeutete derselbe Ausdruck: mit Hilfe der illegalen Partei die mageren legalen Möglichkeiten auszunützen zur Vorbereitung einer neuen Revolution. Der spätere opportunistische Niedergang der deutschen Sozialdemokratie hat gezeigt, daß die Menschewiki viel richtiger den Geist der »deutschen Sprache« in der Politik widerspiegelten. Lenin aber hat weitaus besser den objektiven Verlauf der Entwicklung in Deutschland sowohl wie in Rußland verstanden: der Epoche der friedlichen Reformen mußte eine Epoche der Katastrophen folgen.
Was Koba anbelangt, so kannte er weder das Französische noch das Deutsche. Aber alle seine Eigenschaften drängten ihn auf Lenins Stellung. Koba suchte keine öffentliche Tribüne, wie die Redner und Journalisten des Menschewismus – auf der öffentlichen Tribüne zeigten sich seine schwächeren viel deutlicher als seine stärkeren Seiten. Er brauchte vor allem einen zentralisierten Apparat. Doch unter den Bedingungen des konterrevolutionären Regimes konnte der Apparat nur illegal sein. Mangelte es Koba auch an historischer Perspektive, mit Starrsinn war er reich versehen. In den Jahren der Reaktion hat er nicht zu den Zehntausenden gehört, die die Partei im Stich ließen, sondern zu den wenigen Hundert, die ihr trotz allem treu blieben.
Kurze Zeit nach dem Londoner Parteitag ging der junge Sinowjew, der ins Zentralkomitee gewählt worden war, in die Emigration; dasselbe tat Kamenew, Mitglied der bolschewistischen Leitung. Koba blieb in Rußland. Später schrieb er sich das als ein besonderes Verdienst an. Es ist keins gewesen: die Wahl des Ortes und der Art der Arbeit hing nur in sehr geringem Maße von dem Parteimitglied selbst ab. Wenn das Zentralkomitee in Koba einen jungen Theoretiker und Publizisten gesehen hätte, fähig, sich im Ausland auf ein höheres Niveau zu erheben, würde es ihn unbedingt in die Emigration berufen haben, und er hätte weder die Möglichkeit noch den Wunsch gehabt, abzulehnen. Aber niemand berief ihn ins Ausland. Von den Spitzen der Partei wurde er, von der Zeit an, wo sie auf ihn aufmerksam geworden waren, stets als »Praktiker« betrachtet, das heißt als der einfachen revolutionären Mannschaft zugehörig, vor allem für die lokale Partei-Organisationsarbeit geeignet. Und Koba selbst, der auf den Kongressen von Tammerfors, Stockholm und London Gelegenheit gehabt hatte, seine Kräfte zu messen, hat wohl kaum den Wunsch verspürt, sich unter die Emigranten zu begeben, unter denen er in die dritte Stufe eingereiht worden wäre. Später, nach Lenins Tode, wurde aus der Not eine Tugend gemacht, und das Wort »Emigrant« nahm im Munde der neuen Bürokratie die gleiche Bedeutung an, die es schon bei den Konservativen der Zarenzeit gehabt hatte.
Lenin kehrte, seinen eigenen Worten nach, ins Exil zurück wie jemand, der in sein Grab steigt. »Wir sind von allem schrecklich abgeschnitten hier ...«, schrieb er von Paris aus im Herbst des Jahres 1909, »diese Jahre sind wirklich höllisch schwierig.« In der russischen bürgerlichen Presse begannen Artikel veröffentlicht zu werden, die die Emigration herabsetzten und sie als den Inbegriff der niedergeschlagenen und von den gebildeten Kreisen abgelehnten Revolution darstellten. 1912 antwortete Lenin auf solche Anwürfe in der Petersburger Zeitung der Bolschewiki: »Ja, es gibt manche unangenehmen Dinge in der Emigration ... Es gibt mehr Not und Elend als sonst irgendwo. Besonders hoch ist der Prozentsatz der Selbstmorde.« Aber, »nur hier und nirgendwo sonst sind die wichtigsten Grundfragen der ganzen russischen Demokratie in den Jahren des Interregnums und der Konfusion gestellt worden«. In den mühseligen und zermürbenden Kämpfen der Emigrantengruppen sind die leitenden Ideen der Revolution von 1917 herausgearbeitet worden. An dieser Arbeit hat Koba nicht den geringsten Anteil gehabt.
Vom Herbst 1907 bis März 1908 betätigte sich Koba in Baku. Das genaue Datum seiner Ankunft in Baku anzugeben, ist nicht möglich. Es kann sehr wohl sein, daß er Tiflis in dem Augenblick verließ, als Kamo seine letzte Bombe lud; Koba ist mit Vorsicht mutig. Baku, diese Herberge der verschiedensten Rassen, zählte schon Anfang des Jahrhunderts über 100 000 Einwohner und wuchs ständig; seine Ölindustrie zog Massen von Aserbeidschan-Tataren an. Auf die revolutionäre Bewegung von 1905 hatten die zaristischen Behörden nicht ohne Erfolg geantwortet, indem sie die Tataren gegen die viel fortgeschritteneren Armenier ausgespielt hatten. Die Revolution hatte aber dennoch auch auf die rückständigen Tataren übergegriffen. Mit einer gewissen Verspätung gegenüber den anderen Landesteilen nahmen sie an den Streiks von 1907 en masse teil.
Koba blieb ungefähr acht Monate in der Schwarzen Stadt, von welcher Zeit noch seine Berliner Reise abzuziehen ist. »Unter der Leitung des Genossen Stalin«, schreibt der nicht eben einfallsreiche Beria, »wuchs die bolschewistische Organisation in Baku, wurde stark und stählte sich in ihrem Kampf gegen die Menschewiki.« Koba wurde in jene Ortschaften gesandt, in denen der Gegner besonders stark war. »Unter der Leitung des Genossen Stalin brachen die Bolschewiki den Einfluß der Menschewiki« usw. Aus Allilujew ist kaum mehr zu entnehmen. Die Sammlung der bolschewistischen Kräfte nach ihrer Zerschlagung durch die Polizei geschah, seinen Worten nach, »unter der unmittelbaren Leitung und der aktiven Teilnahme des Genossen Stalin ... Sein organisatorisches Talent, sein echter revolutionärer Enthusiasmus, seine unerschöpfliche Energie, sein fester Wille und seine bolschewistische Entschlossenheit ...« und so fort. Unglücklicherweise sind diese Erinnerungen des Schwiegervaters Stalins im Jahre 1937 geschrieben. Die Formel: »unter der unmittelbaren Leitung und der aktiven Teilnahme« weist unfehlbar die Beriasche Fabrikmarke auf. Der Sozialrevolutionär Wereschtschak, der damals die Tätigkeit seiner Partei in Baku leitete und der Koba mit den Augen des Gegners sah, spricht ihm außergewöhnliche organisatorische Fähigkeiten zu, bestreitet aber völlig seinen persönlichen Einfluß auf die Arbeiter. »Sein Äußeres«, schreibt er, »machte einen schlechten Eindruck auf jeden, der ihn zum erstenmal sah. Dem wußte Koba sehr gut Rechnung zu tragen. Er sprach niemals auf öffentlichen Massenversammlungen ... Seine Anwesenheit in diesem oder jenem Arbeiterbezirk blieb immer geheim, und man konnte auf sie nur durch eine erhöhte Tätigkeit der Bolschewiki schließen.« Das klingt sehr wahr. Wir werden Wereschtschak später noch wieder begegnen.
Die Lebenserinnerungen von Bolschewiki, soweit sie vor der totalitären Ära geschrieben worden sind, räumen den ersten Platz in der Bakuer Organisation nicht Koba ein, sondern Schaomyan und Tschaparidse, zwei hervorragenden Revolutionären, die von den Engländern während der Besetzung von Transkaukasien am 20. September 1918 erschossen worden sind. Karinian, Schaomyans Biograph, schreibt: »Von den alten Genossen in Baku waren damals aktiv tätig A. Jenukidse, Koba (Stalin), Timofei (Spandarian), Aljoscha (Tschaparidse). Die bolschewistische Organisation ... hatte eine breite Basis für ihre Tätigkeit: die Petroleumarbeitergewerkschaft. Sekretär und eigentlicher Organisator der ganzen Gewerkschaftsarbeit war Aljoscha (Tschaparidse).« Jenukidse wird vor Koba genannt, die Hauptrolle wird Tschaparidse zugeschrieben. Weiter: »Diese beiden (Schaomyan und Tschaparidse) waren die beliebtesten Führer des Bakuer Proletariats.« Es ist Karinian, der im Jahre 1924 schrieb, noch nicht eingefallen, Stalin zu den »beliebtesten Führern« zu zählen.
Der Bakuer Bolschewik Stopani erzählt, wie er im Jahre 1907 von der Gewerkschaftsarbeit völlig in Anspruch genommen war, »der brennendsten Aufgabe im Baku jener Tage«. Die Gewerkschaft stand unter der Führung der Bolschewiki. »Die führende Rolle« in der Gewerkschaft »spielte der unersetzliche Aljoscha Tschaparidse; eine geringere Rolle spielte der Genosse Koba (Dschugaschwili), der seine Kräfte hauptsächlich der Arbeit in der Partei widmete, die er leitete.« Stopani präzisiert nicht, worin die »Parteiarbeit« neben der »brennendsten Aufgabe«, der Gewerkschaftsarbeit, noch bestand. Er macht aber zufällig eine aufschlußreiche Bemerkung über die Unstimmigkeiten unter den Bakuer Bolschewiki. Alle waren sich darüber einig, daß es notwendig sei, eine organisatorische »Konsolidierung« des Einflusses der Partei auf die Gewerkschaften herbeizuführen; »doch darüber, bis zu welchem Grade und in welcher Form die Konsolidierung vor sich gehen sollte, herrschte Uneinigkeit unter uns; wir hatten unsere Linke (Koba-Stalin) und unsere Rechte (Aljoscha Tschaparidse und andere, und ich selbst); die Gegensätze waren nicht grundsätzlicher Art, sondern bezogen sich auf die Taktik und die Methoden der Aufrechterhaltung der Verbindungen.« Stopanis absichtlich unbestimmte Ausdrucksweise – Stalin war zu dieser Zeit schon sehr mächtig – läßt einwandfrei auf die wirkliche Stellung der Figuren schließen. Infolge der mit Verzögerung einsetzenden Streikbewegung gewann die Gewerkschaft besondere Bedeutung. Die Leiter der Gewerkschaften, Tschaparidse und Schaomyan, waren diejenigen, die zu den Massen zu sprechen und sie zu führen verstanden. Wiederum auf den zweiten Platz zurückgeworfen, verschanzte sich Koba im illegalen Parteikomitee. Der Kampf um den Einfluß der Partei auf die Gewerkschaft bedeutete für ihn die Unterstellung der Führer der Massen, Tschaparidse und Schaomyan, unter seinen Befehl. In dem Kampf um diese Art von »Konsolidierung« seiner persönlichen Macht hatte Koba, wie aus Stopanis Worten deutlich hervorgeht, alle führenden Bolschewiki gegen sich. Die Aktivität der Massen war den Manövern hinter den Kulissen nicht günstig.
Besonders heftig war die Rivalität zwischen Koba und Schaomyan. Das ging so weit, den Aussagen georgischer Menschewiki nach, daß die Arbeiter nach der Verhaftung Schaomyans Koba verdächtigten, seinen Gegenspieler der Polizei denunziert zu haben, und sein Erscheinen vor einem Parteigericht verlangten. Dieses Verlangen verstummte erst mit Kobas eigener Verhaftung. Daß die Ankläger wirkliche Beweise hatten, ist unwahrscheinlich. Das bloße Zusammentreffen einer Reihe von Umständen kann bewirkt haben, daß dieser Verdacht auftauchte. Doch ist es immerhin bezeichnend genug, daß die eigenen Parteigenossen Koba für fähig hielten, aus unbefriedigtem Ehrgeiz heraus zum Denunzianten zu werden! Nie sind jemand anderem solche Dinge nachgesagt worden.
Über die Beschaffung der Geldmittel für das Bakuer Komitee zu der Zeit von Kobas Anwesenheit in Baku liegen zwar miteinander übereinstimmende, aber keineswegs unanzweifelbare Zeugenschaften vor über mit bewaffneter Hand vorgenommene Expropriationen, über Geldzuschüsse, die Industriellen abgepreßt wurden – die mit dem Tode bedroht oder denen angekündigt wurde, daß man Feuer an ihre Ölquellen legen würde –, über Herstellung und Vertrieb von Falschgeld und ähnliche Dinge. Es ist sehr schwer zu entscheiden, ob all diese Untaten, die tatsächlich vorgekommen sind, wirklich schon in jenen frühen Jahren Koba zugeschrieben worden sind, oder ob der größte Teil davon mit seinem Namen erst beträchtlich später in Verbindung gebracht worden ist. Wie dem auch sei, Kobas Teilnahme an so riskanten Unternehmungen hat keine direkte sein können, sonst wäre sie unweigerlich publik gemacht worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er solche Operationen so geleitet, wie er auch die Gewerkschaft zu leiten versuchte, nämlich aus der Kulisse heraus. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, daß über die Bakuer Periode in Kobas Leben sehr wenig bekannt ist. Die unwahrscheinlichsten Kleinigkeiten werden aufgezeichnet, wenn sie nur irgendwie nutzbar gemacht werden können, um den Ruhm des »Führers« zu erhöhen, aber über seine revolutionäre Tätigkeit werden uns nur allgemeine Redewendungen geboten. So häufiges Schweigen ist wohl kaum ein Zufall.
Der Sozialrevolutionär Wereschtschak geriet in noch jugendlichem Alter in das sogenannte Bailow-Gefängnis in Baku und verbrachte dort dreieinhalb Jahre. Koba wurde am 25. März verhaftet, blieb ein halbes Jahr in diesem Gefängnis und verließ es, um in die Verbannung zu gehen, wo er neun Monate zubrachte; dann kehrte er illegal nach Baku zurück, wurde im März 1910 von neuem verhaftet und ins Bailow-Gefängnis eingeliefert, wo er dann ungefähr sechs Monate lang mit Wereschtschak zusammen saß. 1912 trafen sich die beiden Gefängniskameraden in Narym in Sibirien wieder. Schließlich begegnete Wereschtschak seinem alten Bekannten nach der Februarrevolution auf dem Ersten Sowjetkongreß in Petersburg, an dem Wereschtschak als Delegierter der Tifliser Garnison teilnahm.
Nach Stalins politischem Aufstieg veröffentlichte Wereschtschak in der Emigrantenpresse eine detaillierte Schilderung ihres gemeinsamen Gefängnislebens. Vielleicht ist nicht alles, was er erzählt, glaubwürdig, und nicht alle seine Urteile sind überzeugend. So wenn Wereschtschak wiedergibt, was er sicherlich nur vom Hörensagen weiß, daß Koba selbst eingestand, einen Mitschüler vom Seminar »aus revolutionären Gründen« verraten zu haben; die Unwahrscheinlichkeit dieser Geschichte ist schon weiter oben nachgewiesen worden. Über Kobas Marxismus hat der »Volkstümler« nur äußerst naive Dinge zu sagen. Aber Wereschtschak hat den unschätzbaren Vorteil, Koba in einer Umgebung beobachtet zu haben, wo der Mensch, ob er will oder nicht, auf die Sitten und Gewohnheiten einer zivilisierten Existenz verzichten muß. Für 400 Mann bestimmt, zählte dieses Bakuer Gefängnis damals über 1500 Insassen. Die Gefangenen schliefen in überfüllten Zellen, auf den Gängen, auf den Treppenstufen. Unter solchen Bedingungen war es niemandem möglich, sich zu isolieren. Alle Türen, mit Ausnahme der der Strafzellen, standen offen. Kriminelle und Politische gingen von Zelle zu Zelle und von einem Gebäude zum anderen und liefen frei im Hof herum. »Es war unmöglich, sich niederzusetzen oder zu legen, ohne über eines anderen Füße zu stolpern.« Unter solchen Umständen sah man den anderen – und sah manch einer sich selbst – in ganz unerwartetem Licht. Selbst kalte und reservierte Naturen entblößten Charakterzüge, die sie unter gewöhnlichen Bedingungen zu verbergen gewußt hätten.
»Koba war ein äußerst einseitiger Mensch«, schrieb Wereschtschak. »Er hatte keine allgemeinen Prinzipien und keine entsprechende gründliche Erziehung. Seiner eigentlichen Art nach ist er immer ein roher, ungebildeter Mensch gewesen; das alles war mit einer ganz besonders hoch entwickelten Verschlagenheit verbunden, hinter der auch der aufmerksamste Beobachter nicht sogleich die anderen versteckten Züge entdecken konnte.« Unter »allgemeinen Prinzipien« scheint der Autor moralische Grundsätze zu verstehen – als »Volkstümler« gehörte er der Schule des »ethischen« Sozialismus an. Kobas Selbstbeherrschung rief Wereschtschaks Erstaunen hervor. Es gab im Gefängnis ein grausames Spiel, das darin bestand, jemand mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln in Wut zu versetzen; jemanden »aufblasen, bis er platzt« wurde das genannt. »Koba ist nicht ein einzigesmal aus dem Gleichgewicht geraten«, muß Wereschtschak feststellen, »niemand konnte ihn aus der Ruhe bringen.«
Das war ein ziemlich unschuldiges Spiel verglichen mit dem, das die Behörden spielten. Unter den Gefangenen waren auch kürzlich oder schon vor längerer Zeit zum Tode Verurteilte, die ständig der Besiegelung ihres Schicksals entgegensahen. Sie aßen und schliefen mit den anderen zusammen. Unter den Augen ihrer Mitgefangenen wurden sie nachts herausgeholt und im Gefängnishof gehängt; »in den Zellen hörte man ihr Weinen und Schreien«. Die Nerven aller Gefangenen waren aufs äußerste gespannt. »Koba schlief fest«, sagt Wereschtschak, »oder lernte ruhig Esperanto (er war überzeugt, daß Esperanto die internationale Sprache der Zukunft sei).« Es wäre absurd zu denken, daß die Hinrichtungen Koba gleichgültig ließen. Aber er hatte starke Nerven. Er empfand nicht nach, was andere fühlten. Allein solche Nerven waren schon ein großes Kapital.
Trotz des Chaos, der Hinrichtungen, der politischen und persönlichen Streitereien war das Bakuer Gefängnis eine wichtige revolutionäre Schule. Koba stach unter den marxistischen Wortführern hervor. An privaten Diskussionen beteiligte er sich nicht, sondern zog die öffentliche Debatte vor – ein sicheres Zeichen dafür, daß Koba der Mehrheit seiner Mitgefangenen an Schulung und Erfahrung überlegen war. »Seine äußere Erscheinung und seine grobkörnige Polemik machten sein Auftreten immer zu einer unerfreulichen Angelegenheit. Seinen Ausführungen fehlte jede Würze, sie nahmen stets die Form einer trockenen Aufzählung an.« Wereschtschak erinnert sich einer »Agrardiskussion«, bei der Kobas Waffengefährte Ordschonikidse »seinem Gegenredner, dem Sozialrevolutionär Ilja Kartsewadse ins Gesicht schlug, wofür er dann von den Sozialrevolutionären schwer verprügelt wurde«. Das ist nicht erfunden: der hitzige Ordschonikidse behielt seine Vorliebe für »schlagende« Argumente noch in der Zeit bei, als er schon ein bekannter sowjetischer Würdenträger geworden war. Lenin beantragte deswegen sogar einmal, ihn aus der Partei auszuschließen.
Wereschtschak war über das »mechanische Gedächtnis« Kobas erstaunt, dessen »kleiner Kopf mit der niedrigen Stirn« sozusagen das ganze »Kapital« von Marx enthielt. »Marxismus war das Gebiet, auf dem er nicht zu schlagen war. Es gab nichts, wofür er nicht sofort die entsprechende Formel von Marx hätte beibringen können. Dieser Mensch machte auf die jungen, weniger in der Politik bewanderten Mitglieder seiner Partei einen starken Eindruck.« Zu den »weniger Bewanderten« gehörte Wereschtschak selbst. Dem jungen »Sozialrevolutionär« aus der Schule der russisch-volkstümelnden belletristischen Soziologie mußte das marxistische Gepäck Kobas imposant erscheinen. In Wirklichkeit war es bescheiden genug. Koba war kein grübelnder Theoretiker und besaß weder Ausdauer im Studium noch Disziplin im Denken. Von »mechanischem Gedächtnis« zu sprechen, dürfte ebenfalls nicht richtig sein; sein Gedächtnis ist eng begrenzt, empirisch, rein zweckbestimmt und trotz des seminaristischen Drills durchaus nicht mechanisch; ein Bauerngedächtnis ohne weite Flügelspanne, ohne synthetisches Vermögen, aber steif und hartnäckig, besonders, wenn es sich um Rachegedanken handelt. Es ist vollständig falsch, zu sagen, daß Kobas Kopf mit Zitaten für alle Lebenslagen angefüllt war. Koba war weder Bücherwurm noch Erudit. Vom Marxismus hatte er sich aus Plechanow und Lenin die elementarsten Sätze über den Klassenkampf und über die untergeordnete Bedeutung der Ideen im Verhältnis zu den materiellen Faktoren angeeignet. Und wenn er auch diese Elementarsätze noch versimpelte, so war er nichtsdestoweniger mit ihrer Hilfe imstande, erfolgreich gegen die »Volkstümler« aufzutreten, so wie man selbst mit dem allereinfachsten Revolver mit Erfolg jemand gegenübertreten kann, der mit einem Bumerang bewaffnet ist. Die marxistische Doktrin als Ganzes blieb Koba im Grunde völlig gleichgültig.
Wir erinnern uns, wie Koba seinerzeit in den Gefängnissen von Batum und Kutaïs versucht hatte, in die Geheimnisse der deutschen Sprache einzudringen; der Einfluß, den die deutsche Sozialdemokratie auf die russische Partei ausübte, war zu jener Zeit außerordentlich stark. Nur gelang es Koba ebensowenig, sich Marxens Sprache zu eigen zu machen wie dessen Lehre. Im Gefängnis von Baku wandte er sich dem Esperanto als der »Sprache der Zukunft« zu. Dieser Zug zeigt deutlich, von welcher Art die geistige Ausrüstung Kobas war, dessen Lerneifer sich immer auf der Linie des geringsten Widerstandes voranbewegte. Obwohl er acht Jahre in Gefängnissen und in der Verbannung zubrachte, hat er nicht eine einzige fremde Sprache wirklich erlernt, sein unglückseliges Esperanto nicht ausgenommen.
Die Politischen vermieden es im allgemeinen, sich unter die Kriminellen zu mischen. Im Gegensatz dazu sah man Koba »allezeit in der Gesellschaft von Räubern, Erpressern und der gerissensten Diebe«. Er fühlte sich mit ihnen auf gleichem Fuße stehend. »Leute, die ein richtiges ›Ding gedreht‹ hatten, imponierten ihm immer sehr. Und er sah auch die Politik als ein ›Ding‹ an, das man ›drehen‹ und ›gut drehen‹ kann.« Eine treffende Beobachtung; aber gerade sie widerlegt am besten die Bemerkung über das mit gebrauchsfertigen Zitaten gespickte »mechanische Gedächtnis«. Der Umgang mit Leuten von höheren geistigen Interessen als den seinigen war Koba lästig. Im Politbüro der Leninschen Zeit schwieg er fast immer, war mürrisch und gereizter Stimmung. Erst in Gesellschaft von Leuten mit primitiver Mentalität, die sich nicht mit Gehirnarbeit belasten, wachte er auf und zeigte menschlichere Seiten. Während des Bürgerkrieges, wenn einzelne Armeeteile, meistens die Kavallerie, sich gehen ließen und sich Unfug und Ausschreitungen zuschulden kommen ließen, pflegte Lenin zu sagen: »Sollten wir da nicht mal Stalin hinschicken? Der weiß mit solchen Leuten umzugehen!«
Als Urheber von Protestkundgebungen ist Koba im Gefängnis nicht selbst hervorgetreten, er pflegte aber die Urheber zu unterstützen. »Deshalb erschien er der Gefängnisöffentlichkeit als guter Kamerad.« Auch das ist gut beobachtet. Koba ist nimmer und nirgendwo selbst der Urheber von irgend etwas gewesen. Aber er war sehr wohl imstande, aus der Urheberschaft anderer Nutzen zu ziehen, die eigentlichen Urheber voranzustoßen und sich selbst die Entscheidungsfreiheit vorzubehalten. Was nicht sagen will, daß es Koba an Mut gefehlt hätte, nur verstand er es, mit seinem Mut sparsam umzugehen. Das Gefängnisregime war eine Mischung aus Grausamkeit und Laxheit. Innerhalb der Gefängnismauern erfreuten sich die Gefangenen einer gewissen. Freiheit. Wurde aber die unscharf gezogene Grenze einmal überschritten, so nahm die Gefängnisverwaltung ihre Zuflucht zur bewaffneten Gewalt. Wereschtschak erzählt, wie am Ostersonntag des Jahres 1909 (es muß offenbar 1908 heißen) eine Kompanie Soldaten vom Regiment Saljan ausnahmslos alle politischen Gefangenen zwang, Spießruten zu laufen. »Koba marschierte unter den Kolbenschlägen, ohne den Kopf zu senken, ein Buch in der Hand. Als es nachher von allen Seiten Schläge zu regnen begann, sprengte er seine Zellentür mit dem Kübel auf, ungeachtet der drohenden Bajonette.« Dieser Mensch voller Selbstbeherrschung war, wenn auch selten, fähig, in blinde Wut zu geraten.
Der Moskauer »Historiker« Jaroslawski berichtigt Wereschtschak folgendermaßen: »Als Stalin durch die Soldatenreihen hindurchging, las er Marx ...« Marxens Name erscheint hier aus demselben Grunde wie das Röslein in den Händen der heiligen Jungfrau Maria. Die sowjetische Geschichtsschreibung besteht überhaupt nur aus solchen Rosen. Koba, der unter den Kolbenschlägen »Marx« hochhält, wurde zum Thema der sowjetischen Wissenschaft, Prosa und Poesie. Indes war ein solches Verhalten in keiner Weise außergewöhnlich. Schläge in den Gefängnissen und Heldentum in den Gefängnissen waren an der Tagesordnung. Pjatnitzki erzählt, wie nach seiner Verhaftung in Wilna im Jahre 1902 ein Polizeibeamter vorschlug, ihn, der damals noch ein ganz junger Arbeiter war, zum Abteilungschef zu schicken, der für die Prügel berüchtigt war, mit denen er Geständnisse erzwang. Aber ein älterer Polizeibeamter erklärte: »Der wird auch dort nichts sagen, das ist einer von den ›Iskra›-Leuten!« Schon in jenen Jahren hatten sich die Revolutionäre aus der Schule Lenins den Ruf erworben, unbeugsam zu sein. Kamo stachen die Ärzte Nadeln unter die Fingernägel, um festzustellen, ob er wirklich, wie es den Anschein hatte, alle Empfindungsfähigkeit verloren hatte, und nur weil er jahrelang unerschütterlich solchen Prüfungen standhielt, gelang es ihm schließlich, für unheilbar geisteskrank erklärt zu werden. Was sind im Vergleich dazu ein paar Kolbenschläge? Es besteht kein Anlaß, Kobas Mut zu unterschätzen, doch muß man dabei Zeit und Umwelt berücksichtigen.
Das Gefängnisleben machte es Wereschtschak leicht, jenen Stalinschen Charakterzug zu beobachten, der es ihm ermöglicht hat, so lange Zeit hindurch unbekannt zu bleiben: »Das war seine Fähigkeit, andere vorzuschicken und selbst in der hinteren Linie zu bleiben.« Folgen zwei Beispiele. Das einemal wurde im Gang des Gebäudes, das den politischen Gefangenen vorbehalten war, ein junger Georgier verprügelt. Das finstere Wort »Provokateur« machte die Runde. Nur die Wachsoldaten waren schließlich imstande, der Prügelei ein Ende zu machen; der blutüberströmte Körper wurde auf einer Tragbahre ins Gefängnislazarett gebracht. Handelte es sich um einen Provokateur, und wenn ja, warum wurde er nicht umgebracht? »Im Bailow-Gefängnis wurden erwiesene Provokateure getötet«, bemerkt Wereschtschak nebenbei. »Niemand wußte etwas und niemand verstand etwas; erst lange Zeit später wurde bekannt, daß das Gerücht von Koba ausgegangen war.« Niemals hat festgestellt werden können, ob der blutig Geschlagene tatsächlich ein Provokateur gewesen war. War er nur einer von den Arbeitern, die sich gegen die Expropriationen ausgesprochen oder Koba vorgeworfen hatten, Schaomyan denunziert zu haben?
Ein anderer Fall. Auf den Treppenstufen, die zum Gebäude der »Politischen« hinaufführten, stach ein als »der Grieche« bekannter Gefangener einen jungen Arbeiter nieder, der eben erst ins Gefängnis eingeliefert worden war. Der Grieche bezeichnete den Mann, den er getötet hatte, als einen Spion, obwohl er ihn niemals vorher gesehen hatte. Dieser blutige Vorfall, der natürlich im ganzen Gefängnis große Erregung hervorrief, blieb lange ungeklärt. Schließlich deutete der Grieche an, er sei absichtlich »mißleitet« worden – die falsche Information war von Koba ausgegangen.
Die Kaukasier sind leicht in Erregung zu bringen, und das Messer sitzt ihnen locker. Dem kalten und berechnenden Koba, der mit der Sprache und den Gewohnheiten seiner Landsleute gut vertraut war, fiel es nicht schwer, einen gegen den anderen aufzuhetzen. In beiden Fällen handelte es sich zweifellos um Racheakte. Daß die Opfer den Urheber ihres Mißgeschicks kannten, daran war der Anstifter nicht interessiert. Koba ist nicht geneigt, seine Gefühle mit jemandem zu teilen, auch nicht die Befriedigung über eine gelungene Rache. Er zieht vor, sie selbst und allein zu genießen. Beide Episoden, so übel sie sein mögen, haben nichts Unwahrscheinliches; spätere Ereignisse machen sie um so wahrscheinlicher ... Die späteren Ereignisse bereiten sich im Bailow-Gefängnis vor. Koba sammelt Kräfte und Erfahrungen, Koba reift heran. Der Schatten, den die farblose Gestalt des pockennarbigen ehemaligen Seminaristen wirft, wird düsterer.
Fernerhin berichtet Wereschtschak, aber nur noch vom Hörensagen, von den verschiedensten gefährlichen Unternehmungen Kobas während seiner Parteitätigkeit in Baku: über die Organisation von Falschmünzerbanden, über Raubüberfälle auf öffentliche Kassen und andere Dinge mehr. »Er ist niemals für eine dieser Affären vor Gericht gekommen, obwohl die Falschmünzer und die Expropriateure mit ihm zusammen im Gefängnis waren.« Wenn sie seine Rolle gekannt hätten, hätte ihn sicher einer unter ihnen verraten. »Diese Fähigkeit, sein Ziel mit Hilfe anderer zu erreichen und dabei selbst völlig unbemerkt zu bleiben, hat aus Koba einen verschlagenen Intriganten gemacht, der vor keinem Mittel zurückschreckt und der sich jeder öffentlichen Rechenschaft und aller Verantwortung entzieht.«
So wissen wir über Kobas Leben im Gefängnis mehr als über seine Tätigkeit in der Freiheit. Aber beiderorts blieb er sich selber treu. Über die Diskussionen mit den Volkstümlern und die Unterhaltungen mit den Gaunern vergaß er seine revolutionäre Organisation nicht. Beria informiert uns darüber, daß es Koba gelang, vom Gefängnis aus eine regelmäßige Verbindung mit dem Bakuer Komitee herzustellen. Das war sehr wohl möglich: dort, wo die politischen nicht voneinander und von den kriminellen Gefangenen isoliert sind, ist es unmöglich, sie ganz von der Außenwelt abzuschneiden. Eine der Ausgaben der illegalen Zeitung wurde ausschließlich im Gefängnis vorbereitet. Der Puls der Revolution ging schwach, aber er schlug weiter. Wenn das Gefängnis nicht Kobas Interesse für die Theorie erhöhte, so brach es doch auch seinen Kampfgeist nicht.
Am 20. September wurde Koba nach Solwitschegodsk im nördlichen Teil der Provinz Wologda verschickt. Nur auf zwei Jahre verbannt zu werden, nicht nach Sibirien, sondern ins europäische Rußland, nicht in ein Dorf, sondern in eine kleine Stadt mit zweitausend Einwohnern und günstigen Möglichkeiten für die Flucht, das hieß, mit Vorzug behandelt worden zu sein. Daraus geht klar hervor, daß die Polizei nicht den bescheidensten Beweis gegen Koba in den Händen hatte. Die äußerst billigen Lebenshaltungskosten in so weitab liegenden Regionen machten es den Verbannten möglich, mit den paar Rubeln auszukommen, die ihnen jeden Monat von der Regierung zugeteilt wurden; bei unvorhergesehenen Ausgaben halfen ihnen Freunde und das revolutionäre Rote Kreuz. Wie Koba die neun Monate in Solwitschegodsk verbrachte, was er tat, was er studierte, wissen wir nicht. Darüber sind keinerlei Dokumente veröffentlicht worden, weder Schriften, noch Tagebücher, noch Briefe. In den Akten der lokalen Polizeibehörde über den »Fall Josef Dschugaschwili« ist unter »Betragen« zu lesen: »Grob, unverschämt und respektlos den Behörden gegenüber.« Wenn »Respektlosigkeit« ein allen Revolutionären gemeinsamer Zug war, so war die »Grobheit« eine individuelle Eigenschaft Kobas.
Im Frühjahr 1909 erhielt Allilujew, der damals in Petersburg lebte, von Koba aus der Verbannung einen Brief mit der Bitte um Angabe seiner Adresse. »Und Ende Sommer desselben Jahres flüchtete Stalin aus der Verbannung und kam nach Petersburg, wo ich ihn zufällig in einer Straße des Litjeny-Viertels traf.« Stalin hatte Allilujew weder zu Hause noch auf seinem Arbeitsplatz angetroffen und hatte lange ziellos in den Straßen umherlaufen müssen. »Er war völlig erschöpft, als ich ihn zufällig auf der Straße traf.« Allilujew brachte Koba bei dem Hausmeister eines Garderegiments unter, der mit der Revolution sympathisierte. »Dort ruhte sich Stalin eine Weile aus, traf sich mit einigen bolschewistischen Abgeordneten der Dritten Duma und reiste dann wieder nach dem Süden ab, nach Baku.«
Wieder nach Baku! Es war wohl kaum Lokalpatriotismus, was ihn dorthin zog. Vielmehr muß angenommen werden, daß Koba in Petersburg völlig unbekannt war, daß die Duma-Abgeordneten kein besonderes Interesse für ihn an den Tag legten, daß ihn niemand zum Bleiben aufforderte oder ihm die Hilfe anbot, die jeder Illegale unbedingt brauchte. »Wieder in Baku, ging er mit Energie daran, die bolschewistische Organisation zu festigen ... Im Oktober 1909 ging er nach Tiflis und organisierte und leitete den Kampf der Tifliser bolschewistischen Organisation gegen die menschewistischen Liquidatoren.« Der Leser hat sicher schon Berias Stil erkannt.
In der illegalen Presse veröffentlichte Koba einige Artikel, die einzig und allein deshalb interessant sind, weil sie von dem zukünftigen Stalin geschrieben worden sind. In Ermangelung irgendwelcher hervorhebenswerter Dinge verleiht man heute einem von Koba verfaßten und im Dezember 1909 vom ausländischen Parteiorgan veröffentlichten Brief außergewöhnliche Bedeutung. Der »Brief aus dem Kaukasus« stellt dem aktiven Industriezentrum Baku die leblose Beamtenstadt Tiflis mit ihren Händlern und Handwerkern gegenüber und erklärt ganz richtig das Übergewicht der Menschewiki in Tiflis mit dessen sozialer Struktur. Folgt eine Polemik gegen Jordania, nach wie vor Führer der georgischen Sozialdemokratie, der abermals die notwendige »Vereinigung der Kräfte der Bourgeoisie und des Proletariats« proklamierte – auf eine Politik der Unversöhnlichkeit müßten die Arbeiter verzichten, denn, so argumentierte Jordania, »je schwächer der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie ist, um so größer wird der Sieg der bürgerlichen Revolution sein«. Koba vertrat die entgegengesetzte These: »Je mehr sich die Revolution auf den Klassenkampf des Proletariats stützt, das die Dorfarmut gegen den Großgrundbesitz und die liberale Bourgeoisie führt, um so vollständiger wird der Sieg der Revolution sein.« Das alles war im Grunde völlig richtig, enthielt aber durchaus nichts Neues; seit dem Frühjahr 1905 war die gleiche Polemik unzählige Male wiederholt worden. Wenn dieser Brief irgendeinen Wert für Lenin hatte, dann nicht, weil er seine eigenen Ideen in der Form eines Schulaufsatzes wiederholte, sondern weil er eine lebendige Stimme aus Rußland bedeutete, und zwar in einer Zeit, wo fast alle Stimmen schwiegen. Nichtsdestoweniger wurde 1937 der »Brief aus dem Kaukasus« zum »klassischen Beispiel für die leninistisch-stalinistische Taktik« erklärt. »In unserer Literatur und im Unterricht«, schreibt ein Panegyriker, »ist dieser inhaltsreiche und in seiner Tiefe und historischen Bedeutung außergewöhnliche Artikel noch nicht genügend beleuchtet worden.«
Der gleiche Geschichtsschreiber, ein gewisser Rabitschew, unterrichtet uns darüber, daß es »im März und April 1910 endlich gelang, ein Russisches Büro des Zentralkomitees zu schaffen. Stalin gehörte diesem Büro an. Alle Mitglieder des Büros wurden aber verhaftet, bevor es seine Arbeit aufnehmen konnte«. Wenn das wahr ist, so wäre Koba, zumindest der Form nach, im Jahre 1910 ins Zentralkomitee aufgenommen worden; ein Meilenstein in seiner Biographie! Aber es ist nicht wahr. Fünfzehn Jahre vor Rabitschew hat der alte Bolschewik Germanow (Frumkin) folgendes erklärt: »Bei einer Zusammenkunft zwischen Nogin und dem Verfasser dieser Zeilen wurde beschlossen, dem Zentralkomitee vorzuschlagen, als Russisches Büro des Zentralkomitees folgende Liste mit fünf Namen zu bestätigen: Nogin, Dubrowsky, Malinowsky, Stalin, Miljutin.« Es hat sich also nicht um eine Entschließung des Zentralkomitees gehandelt, sondern um einen Vorschlag zweier Bolschewiki. »Stalin war uns beiden persönlich bekannt«, fährt Germanow fort, »als einer der besten und aktivsten Bakuer Parteiarbeiter. Nogin ging nach Baku, um sich mit ihm zu besprechen; aber aus einer Reihe von Gründen konnte Stalin nicht die Verpflichtungen eines Mitglieds des Zentralkomitees auf sich nehmen.« Germanow gibt die hindernden Gründe nicht näher an. Nogin selbst schrieb zwei Jahre später über seine Bakuer Reise: »Stalin (Koba) lebte in der tiefsten Illegalität; er war damals im Kaukasus sehr bekannt und deshalb gezwungen, sich im Balachanischen Ölgebiet verborgen zu halten.« Aus Nogins Bericht geht hervor, daß er Koba selbst überhaupt nicht getroffen hat.
Das Stillschweigen über die Gründe, die Stalin daran hinderten, in das Russische Büro des Zentralkomitees einzutreten, suggeriert die bedeutsamsten Schlußfolgerungen. Das Jahr 1910 war die Periode des tiefsten Niedergangs der Bewegung, in dem die versöhnlerischen Tendenzen am weitesten verbreitet waren. Im Januar fand in Paris eine Vollsitzung des Zentralkomitees statt, auf der die Versöhnler einen knappen Sieg davontrugen. Es wurde beschlossen, das Zentralkomitee in Rußland unter Beteiligung der Liquidatoren wiederherzustellen; Nogin und Germanow gehörten zu den versöhnlerischen Bolschewiki. Mit der Wiedererrichtung des »Russischen Büros«, das heißt der in Rußland selbst illegal tätigen Abteilung des Zentralkomitees, wurde Nogin beauftragt. Da es an bekannten Persönlichkeiten fehlte, wurden die verschiedensten Versuche gemacht, Parteiarbeiter aus der Provinz heranzuziehen. Unter ihnen Koba, den Nogin und Germanow als »einen der besten Parteiarbeiter in Baku« kannten. Jedoch wurde das Projekt nicht verwirklicht. Der gut unterrichtete Verfasser des deutschen Zeitungsartikels, von dem weiter oben die Rede war, behauptet, daß, obgleich »die offiziellen bolschewistischen Biographen versuchen, (seine) Expropriationen und den Ausschluß aus der Partei ungeschehen zu machen... die Bolschewiki selbst doch immer gezögert haben, Stalin an irgendeinen beachtenswerten Führungsposten zu stellen«. Man irrt wohl nicht, wenn man annimmt, daß die Noginsche Mission deshalb fehlschlug, weil Koba erst kurze Zeit vorher an einer »Kampfhandlung« teilgenommen hatte. Die Pariser Tagung hatte die »Expropriateure« als Leute gebrandmarkt, die »von schlecht verstandenem Parteiinteresse gelenkt« seien. Die für die Legalisierung kämpfenden Menschewiki konnten auf keinen Fall mit einem bekannten Organisator von Expropriationen zusammenarbeiten. Nogin begriff das scheinbar erst im Verlauf der Unterhaltungen, die er mit den führenden Menschewiki im Kaukasus hatte. Nie wurde ein Russisches Büro mit Koba als Mitglied gegründet. Vermerken wir noch, daß von den beiden Versöhnlern, deren Schützling Stalin gewesen war, der eine, Germanow, zu denen gehört, die spurlos verschwunden sind, während Nogin nur durch seinen vorzeitigen Tod im Jahre 1924 davor bewahrt wurde, das Schicksal der Rykow, Tomski, Germanow und all seiner anderen engsten Freunde zu teilen.
Kobas Tätigkeit war in Baku, mag er nun die erste, zweite oder dritte Geige gespielt haben, zweifellos ein größerer Erfolg beschieden als in Tiflis. Doch gehört die Vorstellung, die Bakuer Organisation sei eine einzige uneinnehmbare Festung des Bolschewismus gewesen, ins Reich der Fabel. Lenin hat selbst unabsichtlich den Boden für diese Fabel geschaffen, als er Ende 1911 die Bakuer Organisation zusammen mit der von Kiew unter die »beispielgebenden und fortgeschrittensten im Rußland der Jahre 1910 und 1911« einreihte, das heißt der Jahre des vollständigen Zusammenbruchs und des beginnenden Wiederauflebens. »Die Organisation von Baku bestand ohne Unterbrechung während der schwierigen Jahre der Reaktion und nahm an allen Kundgebungen der Arbeiterbewegung aktiven Anteil«, heißt es in einer Fußnote zum XV. Bande von Lenins Werken. Beide Beurteilungen, die jetzt mit Kobas Tätigkeit in engsten Zusammenhang gebracht werden, haben sich bei näherer Prüfung als völlig falsch erwiesen. In Wirklichkeit hat Baku nach einem zeitweiligen Aufschwung die gleichen Stufen des Niedergangs durchschritten wie die anderen Industriezentren des Landes, mit einer gewissen Verspätung zwar, aber dafür mit noch schwerwiegenderen Begleiterscheinungen.
Stopani schreibt darüber in seinen Memoiren: »Mit dem Beginn des Jahres 1910 verschwindet das politische und gewerkschaftliche Leben in Baku vollständig.« Einige Überbleibsel der Gewerkschaften existierten noch eine Zeitlang, aber sie standen unter dem Einfluß der Menschewiki. »Bald war es mit der bolschewistischen Tätigkeit gänzlich aus, da viele Genossen verhaftet wurden und es überhaupt an aktiven Leuten fehlte. Dazu kam das allgemeine Chaos überhaupt.« Noch schlimmer war die Lage im Jahre 1911. Ordschonikidse, der Baku im März 1912 besuchte, als die neue Flut schon im ganzen Lande merklich anzusteigen begann, schrieb ins Ausland: »Gestern ist es mir endlich gelungen, mit einigen Arbeitern zusammenzukommen... Es gibt hier keine Organisation und kein lokales Zentrum, darum muß man sich mit privaten Diskussionen begnügen ...« Diese beiden Bekundungen sind charakteristisch genug; erinnern wir uns darüber hinaus noch der bereits angeführten Aussage Olminskis, daß »der Wiederaufstieg am langsamsten in den Städten vor sich geht, wo es die meisten Expropriationen gegeben hat (Baku und Saratow)«. Lenins Fehler in der Einschätzung der Bakuer Organisation gehört in die Reihe der Irrtümer, denen der Emigrant normalerweise unterworfen ist, wenn er von der Ferne her urteilen soll, nur auf parteiische und unvollständige Informationen gestützt unter denen sich sehr wohl übertrieben optimistische Informationen von Koba selbst befunden haben können.
Das Bild der allgemeinen Verhältnisse zeichnet sich klar genug ab: Koba nahm an der Gewerkschaftsbewegung keinen wirklichen Anteil; die Gewerkschaftsbewegung war zu jener Zeit der Hauptkampfschauplatz (Karinian, Stopani). Er sprach nicht auf Arbeiterversammlungen (Wereschtschak), sondern lebte in der »tiefsten Illegalität« (Nogin). Er konnte aus einer »Reihe von Gründen« nicht in das Russische Büro des Zentralkomitees eintreten (Germanow). In Baku waren die »Ex« zahlreicher als anderswo gewesen (Olminski) und ebenso individuelle Terrorakte (Wereschtschak). Koba war mit der direkten Leitung der Bakuer »Kampfgruppen« betraut (Wereschtschak, Martow und andere). Eine solche Tätigkeit verlangte zweifellos das Untertauchen in die »tiefste Illegalität«, weit von den Massen. Eine Zeitlang konnte die Existenz der illegalen Organisation mit geraubtem Geld künstlich aufrechterhalten werden. Um so stärker machte sich die Reaktion fühlbar und um so später begann die Wiedergeburt. Diese Schlußfolgerung hat nicht nur biographische, sondern auch theoretische Bedeutung, sie rückt bestimmte allgemeine Gesetze der Massenbewegung ins rechte Licht.
Am 24. März 1910 meldete der Gendarmeriehauptmann Martinow die Verhaftung von Josef Dschugaschwili, unter dem Namen Koba bekannt, Mitglied des Bakuer Komitees, »einer der aktivsten Parteiarbeiter, der eine führende Stellung einnimmt« (vorausgesetzt, daß dieses Dokument nicht von Berias Hand korrigiert worden ist). Im Zusammenhang mit dieser Verhaftung richtet sich ein anderer Polizist an die nächsthöhere Instanz: »Im Hinblick auf die ständige Beteiligung« Dschugaschwilis an revolutionärer Tätigkeit und seine »zweimalige Flucht«, möchte er, Hauptmann Galimbatowsky, »vorschlagen, zum höchsten Strafmaß zu greifen«. Man muß nicht glauben, daß er dabei an die Hinrichtung dachte: »das höchste Strafmaß« unter den administrativ verordneten Strafen bedeutete Verbannung in die entlegensten Orte Sibiriens für die Zeit von fünf Jahren.
Koba war unterdes im Bakuer Gefängnis, das er nun schon gut kannte. Die politische Lage im Lande und das Regime in den Gefängnissen hatten sich in den vergangenen anderthalb Jahren grundlegend geändert. Man schrieb 1910. Die Reaktion war auf der ganzen Linie siegreich. Nicht nur die Massenbewegung, auch die Expropriationen, die Terrorakte, die individuellen Verzweiflungstaten waren auf dem Tiefpunkt angelangt. Das Gefängnis war weniger lärmend und viel strenger geworden. Von gemeinschaftlichen Diskussionen war keine Rede mehr. Koba hatte Zeit genug, Esperanto zu lernen, sofern er nicht inzwischen seine Begeisterung für die Sprache der Zukunft verloren hatte. Am 27. August wurde auf Anordnung des kaukasischen Generalgouverneurs Dschugaschwili der Aufenthalt in Transkaukasien für fünf Jahre untersagt. Doch die Vorschläge Hauptmann Galimbatowskys, der offenbar über keine schwerwiegenden Beweise verfügte, fanden in Petersburg taube Ohren: Koba wurde in die Provinz Wologda zurückgeschickt, um dort die unterbrochene zweijährige Verbannung zu beenden. Die Petersburger Behörden erblickten offensichtlich in Josef Dschugaschwili noch keine ernsthafte Gefahr.
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