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Leo Trotzki: Stalin. Siebtes Kapitel: Das Jahr 1917

Portraits
Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein

Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
 

Siebentes Kapitel.
Das Jahr 1917

Es war das wichtigste Jahr im Leben des Landes und vor allem im Leben jener Generation von Berufsrevolutionären, der Josef Dschugaschwili angehörte. Es war ein Prüfstein, an dem Ideen, Parteien und Menschen die Bewährungsprobe abzulegen hatten.
Stalin fand in Petersburg, nunmehr Petrograd genannt, eine unerwartete Situation vor. Zu Beginn des Krieges hatte der Bolschewismus in der Arbeiterbewegung, besonders in der Hauptstadt, vorgeherrscht. Im März 1917 dagegen bildeten die Bolschewiki in den Sowjets eine unbedeutende Minderheit. Wie hatte das kommen können? Bedeutende Massen hatten an der Bewegung der Jahre 1911 bis 1914 teilgenommen, sie stellten aber dennoch einen kleinen Teil der Arbeiterklasse dar. Die Revolution hatte nicht nur mehr Hunderttausende, sondern Millionen auf die Beine gebracht. Hinzu kam, daß sich die Arbeiterklasse infolge der Mobilisierung um ungefähr 40 % vergrößert hatte. An der Front hatten die fortgeschrittenen Arbeiter als revolutionärer Sauerteig gewirkt, in den Fabriken aber waren ihre Plätze von den frisch vom Lande Zugewanderten eingenommen worden, von Bauernburschen und Bauernfrauen. Die neuen Schichten mußten, wenn auch in verkürzter Form, durch dieselben politischen Erfahrungen hindurch, die die Vorhut schon in der voraufgegangenen Periode gemacht hatte. Der Februaraufstand in Petrograd wurde von fortgeschrittenen Arbeitern, meist Bolschewiki geleitet, aber nicht von der bolschewistischen Partei. Die Leitung des Aufstandes durch bolschewistische Parteimitglieder konnte dem Aufstand den Sieg sichern, aber nicht der bolschewistischen Partei die politische Macht.
In der Provinz war die Lage noch ungünstiger. Die Welle der verstiegenen Illusionen und der allgemeinen Verbrüderung, verbunden mit der Naivität jener Massen, die erst kürzlich zum politischen Leben erwacht waren, hatte die natürlichen Vorbedingungen für ein Übergewicht der kleinbürgerlichen Sozialisten geschaffen, der Menschewiki und der Volkstümler. Die Arbeiter, und nach ihnen auch die Soldaten, hatten die in die Sowjets gewählt, die zumindest den Worten nach nicht nur gegen die Monarchie, sondern auch gegen die Bourgeoisie waren. Menschewiki und Volkstümler, denen fast die ganze Intelligenz folgte, verfügten über unzählige Agitatoren, die zur Einheit und zur Brüderlichkeit und anderen gleichermaßen zugkräftigen zivilen Tugenden aufriefen. Die Wortführer der Armee waren vor allem die Sozialrevolutionäre, traditionelle Hüter des Bauerntums, und das allein genügte schon, dieser Partei bei den neuen proletarischen Schichten Autorität zu verleihen. Die Überlegenheit der versöhnlerischen Parteien schien unerschütterlich, zumindest in ihren eigenen Augen.
Das Schlimmste aber war, daß die bolschewistische Partei von den Ereignissen überrascht worden war. Keiner ihrer Führer mit Erfahrung und Autorität befand sich in Petrograd. Das Büro des Zentralkomitees setzte sich aus zwei Arbeitern, Schljapnikow und Salutzki, und dem Studenten Molotow zusammen (die beiden ersten fielen späterhin Säuberungen zum Opfer, der letztere wurde Regierungschef). Das »Manifest«, das sie im Namen des Zentralkomitees nach dem Februarsieg herausgaben, rief »die Arbeiter in Fabriken und Betrieben sowie die aufständischen Truppen« auf, »sofort ihre Vertreter für die Provisorische Revolutionäre Regierung zu wählen«. Jedoch legten die Verfasser des »Manifestes« diesem Aufruf keine praktische Bedeutung bei. Sie stellten sich keineswegs darauf ein, einen selbständigen Kampf um die Eroberung der Macht zu entfesseln, sondern darauf, für eine ganze Epoche die Rolle der linken Opposition zu spielen.
Von Anfang an weigerten sich die Massen, der liberalen Bourgeoisie ihr Vertrauen zu schenken, und machten keinen Unterschied zwischen dieser und dem Adel und der Beamtenschaft. So konnte es zum Beispiel nicht vorkommen, daß Arbeiter oder Soldaten ihre Stimme einem »Kadetten« gaben. Die Macht befand sich vollkommen in Händen der versöhnlerischen Sozialisten, hinter denen das bewaffnete Volk stand. Aus Mangel an Vertrauen in sich selbst gaben die Versöhnler jedoch die Macht freiwillig an die von den Massen gehaßte und politisch isolierte Bourgeoisie ab. Das ganze Regime gründete sich auf ein quid pro quo. Die Arbeiter, und nicht nur die Bolschewiki, betrachteten die Provisorische Regierung als ihren Feind. Auf Betriebsversammlungen wurden die Resolutionen für die Übertragung der Macht an die Sowjets fast einstimmig angenommen. Der Bolschewik Dingelstädt, der tätigen Anteil an dieser Agitation nahm – er fiel später einer Säuberung zum Opfer –, bestätigt das: »Es gab keine einzige Arbeiterversammlung, die eine in diesem Sinne gehaltene Resolution, falls sie von uns vorgeschlagen wurde, zurückwies.« Unter dem Druck der Versöhnler machte das Petrograder Komitee aber dieser Kampagne ein Ende. Die fortgeschrittenen Arbeiter versuchten mit allen ihren Kräften, sich von der Bevormundung durch die opportunistischen Spitzen zu befreien, wußten aber nicht, wie sie den gelehrten Argumenten vom bürgerlichen Charakter der Revolution begegnen sollten. Die verschiedenen Strömungen innerhalb des Bolschewismus kamen miteinander in Konflikt, ohne aber die letzten Schlußfolgerungen aus ihren Argumenten zu ziehen. Die Partei befand sich in abgrundtiefer Verwirrung. »Niemand wußte, welches die Losungen der Bolschewiki waren«, erinnerte sich später der bekannte Saratower Bolschewik Antonow, »es war ein äußerst trauriges Schauspiel«.
Die zweiundzwanzig Tage, die Stalins Ankunft aus Sibirien (am Sonntag, dem 12. März) von der Ankunft des aus der Schweiz zurückkehrenden Lenin (am 3. April) trennen, sind wegen des Lichtes, das sie auf die politische Physiognomie Stalins werfen, von außerordentlicher Bedeutung. Plötzlich eröffnet sich vor ihm ein weites Betätigungsfeld. Weder Lenin noch Sinowjew sind in Petrograd. Kamenew ist da – der durch seine Haltung vor Gericht kompromittierte und allgemein für seine opportunistischen Tendenzen bekannte Kamenew. Swerdlow ist da, der der Partei wenig bekannt und mehr Organisator als Politiker ist. Der stürmische Spandarian war nicht mehr – er war in Sibirien gestorben. Wie 1912 war Stalin nun wieder, wenn nicht der führende, so doch einer der führenden Bolschewiki in Petrograd. Die desorientierte Partei wartete auf klare Anweisungen. Unmöglich noch länger zu schweigen. Stalin hatte auf die brennendsten Fragen zu antworten – über die Sowjets, die Macht, den Krieg, den Boden. Seine Antworten sind veröffentlicht worden; sie sprechen für sich selbst.
Sobald er in Petrograd angekommen war, das in jenen Tagen einer einzigen großen Massenversammlung glich, begab sich Stalin ins bolschewistische Hauptquartier. Die drei Mitglieder des Büros des Zentralkomitees, von einigen schreibenden Parteimitgliedern assistiert, hatten das Gesicht der »Prawda« bestimmt. Sie hatten es tastend getan, obwohl sie die Führung der Partei in der Hand hielten. Stalin, es anderen überlassend, sich in Arbeiter- und Soldatenversammlungen die Stimmbänder zu zerreißen, verschanzte sich im Hauptquartier. Mehr als vier Jahre zuvor, nach der Prager Konferenz, war er ins Zentralkomitee kooptiert worden. Inzwischen war viel Wasser den Berg hinuntergelaufen. Doch der Verbannte aus Kureika weiß den Parteiapparat zu handhaben; er hält sein Mandat für noch immer gültig. Unter Mithilfe von Kamenew und Muranow verdrängt er zuerst einmal das »linke« Büro des Zentralkomitees und die »Prawda«- Redaktion aus der Führung. Was er in um so brutalerer Weise tat, als er keinen Widerstand zu fürchten hatte und darauf brannte zu zeigen, daß er sich als Herr im Hause fühlte.
»Die zurückkehrenden Genossen«, schrieb Schljapnikow später, »nahmen zu unserer Arbeit eine kritische und negative Haltung ein.« Was sie für falsch hielten, war nicht der Mangel an Geschlossenheit und Entschiedenheit dieser Arbeit, sondern, im Gegenteil, die ständigen Bemühungen, eine Trennungslinie zwischen den Bolschewiki und den Kompromißlern zu ziehen. Ebenso wie Kamenew stand Stalin vielmehr der Mehrheit nahe, die die Sowjets beherrschte. Schon am 15. März erklärte die neue Redaktion der »Prawda«, daß die Bolschewiki entschieden die Provisorische Regierung unterstützen würden, »in dem Maße, wie sie gegen die Reaktion und die Konterrevolution kämpft«. Das Paradoxe an dieser Erklärung war, daß der einzige wesentliche Agent der Konterrevolution die Provisorische Regierung selbst war. Von derselben Art waren die Antworten auf die Kriegsfrage: solange die deutsche Armee ihrem Kaiser gehorcht, muß der russische Soldat »fest auf seinem Posten bleiben, mit der Kugel auf die Kugel und mit der Granate auf die Granate antworten«. Als ob der imperialistische Charakter des Krieges vom Kaiser abhinge! Der Artikel stammt von Kamenew, aber Stalin machte nicht die mindeste Einwendung. Wenn sich Stalin in dieser Zeit überhaupt von Kamenew unterschied, so nur durch eine noch ausweichendere Haltung. »Aller Defätismus«, wurde in der »Prawda« erklärt, »oder vielmehr das, was eine sich hinter der zaristischen Zensur versteckende ehrlose Presse unter dieser Bezeichnung verleumdet hat, ist in dem Augenblick gestorben, wo das erste revolutionäre Regiment in den Straßen von Petrograd erschienen ist.« Das hieß, sich entschieden von Lenin lossagen, der für den Defätismus außerhalb der Reichweite der zaristischen Zensur eingetreten war, und hieß, Kamenews Erklärungen auf dem Prozeß der bolschewistischen Dumafraktion bestätigen. Diesmal zeichnete Stalin selbst. Was das »erste revolutionäre Regiment« anbetrifft, so bedeutete sein Erscheinen lediglich einen Schritt von der byzantinischen Barbarei zur imperialistischen Zivilisation.
»Der Tag, an dem die umgewandelte ›Prawda‹ erschien«, berichtet Schljapnikow, »war ein Tag des Triumphes für die ›Verteidiger‹. Das ganze Taurische Palais, von den Geschäftsleuten aus dem Reichsdumakomitee bis zum Exekutivkomitee, dem Herzen der revolutionären Demokratie, war mit dieser einen Neuigkeit angefüllt, dem Sieg der einsichtsvollen und gemäßigten Bolschewiki über die Extremisten. Im Exekutivkomitee selbst wurden wir mit boshaftem Lächeln empfangen ... Als diese Nummer der ›Prawda‹ in den Fabriken ankam, rief sie unter den Mitgliedern unserer Partei und unter den Sympathisierenden Verwirrung und Empörung hervor und hämische Befriedigung bei unseren Gegnern ... In den Arbeitervierteln war die Empörung gewaltig, und als die Arbeiter erfuhren, daß sich drei kürzlich aus Sibirien zurückgekommene ehemalige Redakteure der ›Prawda‹ bemächtigt hatten, verlangten sie deren Ausschluß aus der Partei.«
Schljapnikow hat seinen Text 1925 geschrieben, zu einer Zeit, wo er ihn unter dem Druck der »Troika« Stalin, Kamenew, Sinowjew, die damals die Partei beherrschte, abschwächen mußte. Er gibt dennoch ein ziemlich klares Bild von Stalins ersten Schritten in die Arena der Revolution und von der Reaktion, die sie bei den klassenbewußten Arbeitern auslösten. Der lebhafte Protest der Wyborger Arbeiter, den die »Prawda« alsbald in ihren Spalten abdrucken mußte, zwang die Redaktion zu größter Vorsicht in den Formulierungen, aber nicht zu einer Änderung ihrer politischen Linie.
Die Politik der Sowjets war durch und durch zweideutig und kompromißlerisch. Was die Massen brauchten, war vor allem jemand, der die Dinge bei ihrem Namen nannte – eben darin besteht das Wesen der revolutionären Politik. Das tat niemand, aus Angst, das gebrechliche Gebäude der Doppelherrschaft zu erschüttern.
Der größte Berg von Lügen wurde um die Kriegsfrage herum angehäuft. Am 14. März legte das Exekutivkomitee dem Sowjet den Entwurf eines Manifestes »An alle Völker der Welt« vor. Dieses Dokument rief die Arbeiter Deutschlands und Österreich-Ungarns auf, sich zu weigern, »als Werkzeug der Eroberung und der Gewalt in den Händen der Könige, Grundbesitzer und Bankiers zu dienen«. Doch die Führer des Sowjets selbst zeigten nicht die mindeste Absicht, mit den Königen von Großbritannien und Belgien, mit dem Kaiser von Japan, mit den Bankiers und Grundbesitzern, sowohl ihren eigenen als denen der Entente-Länder, zu brechen. Das Organ Miljukows, Ministers des Auswärtigen, stellte mit Befriedigung fest, »daß sich der Aufruf in einer Ideologie bewegt, die uns und unseren Alliierten gemeinsam ist«. Das war durchaus richtig: er entsprach ganz dem Geiste der französischen sozialistischen Minister seit Ausbruch des Krieges. Zur gleichen Stunde sandte Lenin über Stockholm einen Brief nach Petrograd, in dem er schrieb, daß der Revolution die Gefahr drohe, daß die alte imperialistische Politik mit neuen revolutionären Phrasen bemäntelt werde: »Ich würde eher die Spaltung, mit wem es auch sei, in unserer Partei vorziehen, als dem Sozialpatriotismus nachgeben ...« Aber Lenins Ideen fanden in jenen Tagen nicht einen Verteidiger.
Die einstimmige Annahme des Manifestes durch den Petrograder Sowjet bedeutete nicht nur den Sieg des Imperialisten Miljukow über die kleinbürgerliche Demokratie, sondern auch den Sieg Stalins und Kamenews über die linken Bolschewiki. Alle beugten die Häupter vor der Disziplin der patriotischen Lüge. »Es ist unmöglich«, schrieb Stalin in der »Prawda«, »den gestrigen Aufruf des Sowjets nicht willkommen zu heißen ... Dieser Aufruf, wenn er die breiten Massen erreicht, wird zweifellos Hunderte und Tausende wieder zurückbringen zu der vergessenen Losung: ›Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‹« In Wirklichkeit hatte es an solchen Aufrufen im Westen nicht gefehlt, und alles, was sie bewirkt hatten, war, den herrschenden Klassen zu helfen, das Trugbild vom Krieg für die Demokratie aufrechtzuerhalten.
Stalins Artikel über das »Manifest« charakterisiert in ausgezeichneter Weise nicht nur seine Stellungnahme in dieser konkreten Frage, sondern seine Denkart überhaupt. Zeit und Umstände zwingen ihn vorübergehend, seinen organischen Opportunismus hinter abstrakten revolutionären Grundsätzen zu verbergen, in Wirklichkeit aber macht er mit diesen Grundsätzen kurzen Prozeß. Am Anfang des Artikels wiederholt der Verfasser fast Wort für Wort Lenins Argumentation, daß der Krieg russischerseits selbst nach dem Sturz des Zarismus seinen imperialistischen Charakter beibehalte. Wenn es sich aber darum handelt, praktische Schlußfolgerungen zu ziehen, begrüßt er, wenn auch mit vieldeutigen Einschränkungen, nichtsdestoweniger das sozialpatriotische »Manifest«, und Kamenews Spuren folgend weist er darüber hinaus auch noch die revolutionäre Mobilisierung der Massen gegen den Krieg zurück. »Vor allem ist es unzweifelhaft«, schreibt er, »daß die einfache Losung ›Nieder mit dem Krieg!‹ unmöglich praktisch anzuwenden ist.« Und der Weg, den er vorschlägt, ist, man solle auf die Provisorische Regierung einen Druck ausüben und verlangen, daß sie sofort Friedensverhandlungen einleitet. Mit Hilfe eines freundschaftlichen »Drucks« auf die Bourgeoisie, für die in der Eroberung der ganze Sinn des Krieges liegt, will Stalin zu einem »auf den Grundsätzen des Selbstbestimmungsrechts der Völker« beruhenden Frieden gelangen. Solch philisterhaften Utopismus hatte Lenin von Beginn des Krieges an aufs schärfste bekämpft. Durch »Druck« kann man unmöglich erreichen, daß die Bourgeoisie aufhört, Bourgeoisie zu sein: sie muß gestürzt werden. Aber vor dieser Schlußfolgerung schreckt Stalin voller Furcht zurück – genau so wie die Kompromißler.
Nicht weniger kennzeichnend war Stalins Artikel: »Über die Abschaffung der nationalen Unterdrückung« (in der »Prawda« vom 25. März 1917). Die Grundidee des Verfassers, den Propagandabroschüren entnommen, die er noch auf dem Tifliser Seminar gelesen hatte, ist, daß die nationale Unterdrückung ein Überbleibsel aus dem Mittelalter sei. Der Imperialismus als Herrschaft der starken über die schwachen Nationen wird vollständig außer acht gelassen. »Die soziale Basis der nationalen Unterdrückung,« schreibt er, »die Kraft, die sie inspiriert, ist die niedergehende Landaristokratie. In England, wo sich der Landadel mit der Bourgeoisie die Macht teilt ... ist die nationale Unterdrückung schwächer, weniger unmenschlich, vorausgesetzt natürlich, daß wir nicht den besonderen Fall in Betracht ziehen, daß im Laufe des Krieges, als die Macht in die Hände des Landadels überging, die nationale Unterdrückung beträchtlich verstärkt wurde (Verfolgung der Irländer, der Hindus).« Die extravaganten Behauptungen, von denen der Artikel voll ist – daß in den Demokratien die Gleichheit der Nationen und der Rassen gesichert ist, daß in England bei Ausbruch des Krieges die Macht an den Landadel überging, daß die Überwindung der Feudalaristokratie die Abschaffung der nationalen Unterdrückung bedeutet –, sind ganz von vulgär-demokratischem Geiste und von provinzieller Beschränktheit erfüllt. Nicht ein Wort darüber, daß der Imperialismus die nationale Unterdrückung auf einen Punkt getrieben hat, wohin sie zu treiben der Feudalismus, sei es auch nur aus ländlicher Trägheit heraus, absolut unfähig war. Der Verfasser hat auf dem Gebiete der Theorie seit Beginn des Jahrhunderts keine Fortschritte gemacht, mehr noch, er scheint seine eigene Arbeit über die nationale Frage, unter Lenins Diktat Anfang 1913 geschrieben, vollständig vergessen zu haben.
»In dem Maße, in dem die russische Revolution gesiegt hat«, schließt der Artikel, »hat sie schon die praktischen Bedingungen für die nationale Freiheit geschaffen, indem sie die auf die Leibeigenschaft gegründete Feudalmacht gestürzt hat.« Für unseren Verfasser war die Revolution eine Sache, die bereits vollständig der Vergangenheit angehörte. Was vor ihm lag, war, ganz im Geiste Miljukows und Tseretellis, die »Herausarbeitung der Gesetze« und »ihre endgültige Konsolidierung«. Unterdessen blieb nicht nur die kapitalistische Ausbeutung, an deren Überwindung Stalin noch nicht einmal dachte, sondern auch der Grundbesitz, den er selbst als Basis der nationalen Unterdrückung erklärte, völlig unberührt. Russische Großgrundbesitzer vom Schlage der Rodzjanko und des Fürsten Lwow saßen in der Regierung. Von solcher Art war – selbst heute ist das kaum zu glauben! – die historische und politische Konzeption Stalins, zehn Tage bevor Lenin die Orientierung auf die sozialistische Revolution hin proklamierte.
Am 28. März, gleichzeitig mit der Konferenz der Vorsitzenden der wichtigsten Sowjets von Rußland, wurde in Petrograd die Konferenz der Bolschewiki von ganz Rußland eröffnet, die vom Büro des Zentralkomitees einberufen worden war. Obwohl ein Monat seit dem Aufstand vergangen war, herrschte in der Partei vollständige Verwirrung, eine Verwirrung, die die Leitung in den beiden letzten Wochen nur noch vertieft hatte. Irgendeine Abgrenzung der politischen Tendenzen hatte noch nicht stattgefunden. In der Verbannung war dazu die Ankunft Spandarians notwendig gewesen, jetzt wartete die Partei auf Lenin. Extreme Chauvinisten wie Woitinsky und Eliava und andere nannten sich weiterhin Bolschewiki und nahmen an der Parteikonferenz Seite an Seite mit denen teil, die sich als Internationalisten betrachteten. Die Patrioten drückten sich mit weitaus mehr Kühnheit und Entschlossenheit aus als die Halbpatrioten, die sich ständig duckten und rechtfertigten. Die Mehrheit der Delegierten gehörte zum zentristischen »Sumpf« und fand ihren natürlichen Sprecher in Stalin. »Die Einstellung zur provisorischen Regierung ist bei allen die gleiche«, sagte der Delegierte von Saratow, Wassiljew. »In bezug auf die praktischen Schritte besteht keine Meinungsverschiedenheit zwischen Stalin und Woitinsky«, stellte Krestinsky mit Befriedigung fest. Woitinsky ging schon am nächsten Tage zu den Menschewiki über, und sieben Monate später führte er eine Kosakenabteilung gegen die Bolschewiki.
Kamenews Haltung auf dem Prozeß schien nicht vergessen worden zu sein. Möglicherweise wurde unter den Delegierten auch von dem geheimnisvollen Telegramm an den Großfürsten gesprochen. Vielleicht hat Stalin in seiner tückischen Art an diese Irrtümer seines Freundes erinnert. Auf jeden Fall wurde das politische Hauptreferat über die Einstellung zur provisorischen Regierung nicht Kamenew, sondern dem weniger bekannten Stalin übertragen. Das Protokoll davon ist aufbewahrt worden und stellt für den Historiker und Biographen ein Dokument von unschätzbarem Wert dar: es geht um das zentrale Problem der Revolution, die Beziehungen zwischen den Sowjets, die sich auf die bewaffneten Arbeiter und Soldaten stützen, und der bürgerlichen Regierung, deren Existenz nur vom guten Willen der Führer der Sowjets abhängt. »Die Regierungsmacht ist in zwei Organe aufgeteilt«, sagte Stalin, »von denen keines die volle Macht hat. In Wirklichkeit hat der Sowjet die Initiative bei den revolutionären Umänderungen; der Sowjet ist der revolutionäre Führer des aufständischen Volkes, das Organ, das die Provisorische Regierung kontrolliert. Die Provisorische Regierung hat in Wirklichkeit die Aufgabe übernommen, die Eroberungen des revolutionären Volkes zu konsolidieren. Der Sowjet mobilisiert die Kräfte und übt die Kontrolle aus, die Provisorische Regierung, zögernd und verwirrt, übernimmt die Rolle, die Eroberungen zu konsolidieren, die das Volk schon tatsächlich gemacht hat.« Dies Zitat ist ein ganzes Programm wert!
Der Redner stellt die Beziehungen zwischen den beiden Hauptklassen der Gesellschaft wie die Arbeitsteilung zwischen zwei »Organen« dar: die Sowjets, das heißt, die Arbeiter und Soldaten, machen die Revolution; die Regierung, das heißt die Kapitalisten und liberalen Grundeigentümer, »konsolidieren« sie. In den Jahren 1905 – 1907 hatte Stalin selbst, Lenin wiederholend, mehr als einmal geschrieben: »Die russische Bourgeoisie ist gegenrevolutionär, sie kann weder die Triebkraft noch viel weniger die Führerin der Revolution sein; sie ist der geschworene Feind der Revolution, und gegen sie muß ein hartnäckiger Kampf geführt werden.« Diese politische Leitidee des Bolschewismus war durch den Verlauf der Februarrevolution keineswegs widerlegt worden. Miljukow, der Führer der liberalen Bourgeoisie, hatte einige Tage vor dem Aufstand auf einer Konferenz seiner Partei erklärt: »Wir spazieren auf einem Vulkan. Wie die Regierungsmacht auch sein mag – gut oder schlecht –, wir brauchen jetzt mehr denn je eine starke Regierung.« Nachdem der Aufstand trotz des Widerstandes der Bourgeoisie ausgebrochen war, blieb den Liberalen nichts anderes mehr übrig, als sich auf den durch den Sieg des Aufstandes geschaffenen Boden der Tatsachen zu stellen. Und eben derselbe Miljukow, der noch am Vorabend erklärt hatte, daß eine Rasputin-Monarchie besser sei als ein Vulkanausbruch, leitete jetzt die provisorische Regierung, die nach Stalin die Errungenschaften der Revolution »konsolidieren« sollte, die sie in der Tat aber nur zu ersticken suchte. Für die aufständischen Massen bedeutete die Revolution die Abschaffung der alten Eigentumsformen, eben jener Formen, die die provisorische Regierung verteidigte. Stalin stellte den unversöhnlichen Klassenkampf, der sich allen Anstrengungen der Versöhnler zum Trotz jeden Tag in einen Bürgerkrieg zu verwandeln drohte, als eine einfache Arbeitsteilung zwischen zwei Apparaten dar. Selbst der linke Menschewik Martow ging nicht so weit. Das war Tseretellis Theorie – und Tseretelli war das Orakel der Kompromißler – in ihrer vulgärsten Ausdrucksform: auf der Arena der sogenannten Demokratie bewegen sich die »gemäßigten« und die »entschlosseneren« Kräfte, sie teilen sich die Arbeit, die einen erobern, die anderen befestigen. Wir haben hier das Schema der zukünftigen stalinistischen Politik in China (1924-1927) und in Spanien (1934-1939) sowohl als auch bei allen unglückseligen »Volks-fronten« in fertiger Form vor uns.
»Es liegt nicht in unserem Vorteil, jetzt den Verlauf der Ereignisse voranzutreiben«, fuhr der Redner fort, »und die Aufspaltung der bürgerlichen Schichten zu fördern ... Wir müssen Zeit gewinnen, indem wir die Aufspaltung der mittleren Schichten der Bourgeoisie bremsen, um uns auf den Kampf gegen die Provisorische Regierung vorzubereiten.« Die Delegierten nahmen diese Argumente mit einer gewissen Unruhe auf. »Nicht die Bourgeoisie erschrecken«, das war immer das Losungswort Plechanows und im Kaukasus das Jordanias gewesen. Der Bolschewismus war im heftigsten Kampf gegen diese Strömung gewachsen. »Die Aufspaltung der Bourgeoisie bremsen«, das ist nur möglich, wenn man den Klassenkampf des Proletariats bremst; das sind im Grunde nur die beiden Seiten eines und desselben Prozesses. »Wenn man davon sprach, nicht die Bourgeoisie zu erschrecken«, hatte Stalin selbst im Jahre 1913, kurze Zeit vor seiner Verhaftung geschrieben, »rief man nur ein Lächeln hervor, denn es war klar, daß sich die Sozialdemokratie anschickte, diese Bourgeoisie nicht nur zu ›erschrecken‹, sondern sie in der Person ihrer Anwälte, der Kadetten, zu vertreiben.« Es ist allerdings schwer zu verstehen, wieso ein alter Bolschewik die vierzehn Jahre lange Geschichte seiner Fraktion so weit vergessen konnte, daß er im kritischsten Augenblick zu den schlimmsten menschewistischen Formeln griff. Die Erklärung ist in Stalins Mentalität zu suchen: er ist für allgemeine Ideen unempfänglich, und sein Gedächtnis hält sie nicht zurück. Er bedient sich ihrer je nach Bedarf, von Fall zu Fall, und wirft sie ohne Bedauern und fast automatisch beiseite. In dem Artikel aus dem Jahre 1913 ging es um die Dumawahlen. »Die Bourgeoisie aus ihren Stellungen zu vertreiben« bedeutete einfach, den Liberalen Mandate abzujagen. Jetzt handelte es sich um die revolutionäre Überwältigung der Bourgeoisie. Diese Aufgabe verwies Stalin in eine ferne Zukunft. Im gegenwärtigen Augenblick hielt er es ganz wie die Menschewiki für notwendig, »sie nicht zu erschrecken«.
Nach der Verlesung der Resolution des Zentralkomitees, die er selbst mit ausgearbeitet hatte, erklärte Stalin unerwarteterweise, daß er »mit ihr nicht ganz einverstanden sei und die vom Krasnojarsker Sowjet eingebrachte Resolution unterstützen werde«. Was sich da hinter den Kulissen abgespielt hat, ist nicht klar. Stalin kann auf seinem Rückweg von Sibirien selbst an der Abfassung der Resolution des Krasnojarsker Sowjets beteiligt gewesen sein. Möglich ist, daß er jetzt, nachdem er den Geisteszustand der Delegierten kennengelernt hatte, versuchte, sich von Kamenew etwas abzugrenzen. Jedoch steht die Krasnojarsker Resolution auf einem noch tieferen Niveau als das Petrograder Dokument. »... es vollständig klarzumachen, daß die einzige Quelle der Macht und der Autorität der Provisorischen Regierung der Volkswille ist, dem die Provisorische Regierung vollständig zu gehorchen hat, und die Provisorische Regierung nur in dem Maße zu unterstützen ... wie sie es unternimmt, die Forderungen der Arbeiterklasse und der revolutionären Bauernschaft zu erfüllen.« Das aus Sibirien herbeigebrachte Geheimmittel stellte sich als ganz einfach heraus: die Bourgeoisie hat dem Volke »vollständig zu gehorchen« und die Forderungen der Arbeiter und Bauern »zu erfüllen«. In einigen Wochen sollte die Formel von der Unterstützung der Bourgeoisie »in dem Maße, wie ...« zum allgemeinen Gespött werden. Indes protestieren schon jetzt einige Delegierte gegen die Unterstützung der Regierung des Fürsten Lwow: diese Idee stand allzusehr im Widerspruch mit der ganzen Tradition des Bolschewismus. Am nächsten Tage war der Sozialdemokrat Steklow, selbst Anhänger der Formel »in dem Maße, wie«, aber als Mitglied der »Kontaktkommission« gut darüber informiert, was innerhalb der Rechten vorging, so unvorsichtig, auf der Sowjetkonferenz ein derartiges Bild von der Tätigkeit der Provisorischen Regierung zu entwerfen – Opposition gegen die sozialen Reformen, Kampf für die Monarchie, Kampf für Annexionen –, daß die lebhaft beunruhigte bolschewistische Konferenz die Unterstützungsformel fallen ließ. »Es ist klar, daß es nun nicht um die Frage der Unterstützung geht«, erklärte der gemäßigte Nogin, der die Auffassung der meisten übrigen ausdrückte, »sondern um Opposition.« Dieselbe Auffassung vertrat der Delegierte Skrypnik, der dem linken Flügel angehörte: »Seit der gestrigen Rede Stalins hat sich viel geändert ... Die Provisorische Regierung bereitet ein Komplott gegen die Revolution und das Volk vor ... und die Resolution spricht von Unterstützung.« Entmutigt, schlägt Stalin, dessen Einschätzung der Situation nicht vierundzwanzig Stunden lang der Probe standgehalten hatte, vor, »eine Kommission zur Abänderung der Unterstützungsklausel zu ernennen«. Die Konferenz geht darüber hinaus: »Die Mehrheit beschließt gegen vier Stimmen, daß die Klausel über die Unterstützung aus der Resolution zu streichen ist.«
Man sollte meinen, daß das ganze Schema unseres Redners über die Arbeitsteilung zwischen Proletariat und Bourgeoisie in Vergessenheit geraten wäre. In Wirklichkeit wurde aus der Resolution nur ein Satz herausgenommen, nicht aber die Idee. Die Furcht, »die Bourgeoisie zu erschrecken«, blieb. Die Resolution lief im wesentlichen darauf hinaus, die Provisorische Regierung »zum energischsten Kampf für die vollständige Beseitigung des alten Regimes« aufzufordern, indes diese Regierung den »energischsten Kampf« für die Wiederherstellung der Monarchie führte. Die Konferenz kam nicht über einen freundschaftlichen Druck auf die Liberalen hinaus. Von einem selbständigen Kampf für die Eroberung der Macht, sei es auch nur im Namen der demokratischen Aufgaben, war keine Rede. Wie um den wirklichen Inhalt der angenommenen Entschließungen noch klarer herauszuschälen, erklärte Kamenew auf der Sowjetkonferenz, die zu gleicher Zeit abgehalten wurde, daß er in bezug auf die Frage der Macht »glücklich« sei, die Stimme der Bolschewiki für die offizielle, von dem Führer der rechten Menschewiki, Dan, eingebrachte und verteidigte Resolution abgeben zu können. Im Lichte dieser Tatsachen mußte die Spaltung von 1903, die auf der Prager Konferenz von 1913 noch vertieft worden war, wie ein Mißverständnis erscheinen.
Es ist also kein Zufall, daß auf der bolschewistischen Konferenz am nächsten Tage über den Vorschlag verhandelt wurde, die beiden Parteien zu vereinigen – ein Vorschlag, der von Tseretelli, einem anderen Führer der rechten Menschewiki, ausgegangen war. Stalin nahm diesem Vorschlag gegenüber eine äußerst zustimmende Haltung ein: »Wir müssen annehmen. Wir müssen unsere Vorschläge über die Linie der Vereinigung festlegen. Die Vereinigung ist auf der Linie Zimmerwald-Kienthal möglich.« Das war die »Linie« der beiden sozialistischen Tagungen, die in der Schweiz stattgefunden und auf denen die gemäßigten Pazifisten überwogen hatten. Molotow, der zwei Wochen zuvor gestraft worden war, weil er zu links gewesen war, machte schüchterne Einwendungen: »Tseretelli will voneinander verschiedene Elemente vereinigen ... Die Vereinigung auf dieser Linie ist falsch ...« Salutzki, eins der zukünftigen Opfer der Säuberungen, protestierte entschiedener: »Von dem bloßen Wunsch der Vereinigung ausgehen, das kann ein Träumer tun, aber nicht ein Sozialdemokrat ... Es ist unmöglich, sich auf der Basis eines oberflächlichen Einverständnisses mit Zimmerwald-Kienthal zu vereinigen ... Es ist notwendig, eine genaue Plattform aufzustellen.« Doch der zum Träumer erklärte Stalin blieb der Ansicht: »Wir dürfen nicht vorgreifen und Meinungsverschiedenheiten vorwegnehmen. Ohne Meinungsverschiedenheiten gibt es kein Leben in der Partei. Innerhalb der Partei werden wir diese geringen Meinungsverschiedenheiten schon beilegen.« Man traut seinen Augen nicht: die Gegensätze zu Tseretelli, dem leitenden Kopf der Sowjetmehrheit, werden von Stalin zu »geringen Meinungsverschiedenheiten« erklärt, die innerhalb der Partei »beigelegt« werden könnten. Diese Debatte fand am 1. April statt. Drei Tage später erklärte Lenin Tseretelli den Krieg auf Leben und Tod. Zwei Monate später entwaffnete und verhaftete Tseretelli die Bolschewiki.
Die Konferenz vom März 1917 ist höchst bedeutend für die Beurteilung der Mentalität der führenden Schichten der bolschewistischen Partei unmittelbar nach der Februarrevolution – und ganz besonders für die Beurteilung des Geisteszustandes von Stalin nach seiner Rückkehr aus Sibirien, wo er vier Jahre lang auf sich selbst angewiesen war. Aus den Seiten des dünnen Protokolls ersteht er vor uns als ein plebejischer Demokrat und beschränkter Provinzler, der, dem Zuge der Zeit folgend, marxistisch geschminkt ist. Seine Artikel und Reden aus jenen Wochen werfen ein helles Licht auf seine Einstellung während der Kriegsjahre: hätte er sich in Sibirien Lenins Ideen auch nur um einen Schritt genähert, wie es die zwanzig Jahre später geschriebenen Memoiren wollen, dann hätte er nicht im März 1917 so tief im Morast des Opportunismus versinken können. Lenins Abwesenheit und Kamenews Einfluß ermöglichten ihm, sich am Vorabend der Revolution so zu zeigen, wie er wirklich war, und seine zutiefst eingewurzelten Züge hervorzukehren: Mißtrauen gegen die Massen, Mangel an Einbildungskraft, Kurzsichtigkeit, Neigung, der Linie des geringsten Widerstandes zu folgen. Diese Charakteristiken werden wir in späteren Jahren jedesmal wieder beobachten, wenn Stalin bei wichtigen Ereignissen eine führende Rolle spielt. Kein Wunder, daß die Märzkonferenz, auf der sich Stalin als Politiker so klar enthüllte, jetzt aus der Geschichte der Partei ausradiert ist und die Protokolle darüber hinter Schloß und Riegel gehalten werden. Im Jahre 1923 wurden drei Abschriften davon insgeheim für die Mitglieder der »Troika« angefertigt, für Stalin, Sinowjew, Kamenew. Erst 1926, als Sinowjew und Kamenew zu Stalin in Opposition traten, erhielt ich von ihnen dieses bemerkenswerte Dokument und war so später in der Lage, es im Ausland zu veröffentlichen.
Schließlich und endlich unterscheiden sich aber die Protokolle nicht wesentlich von den »Prawda«-Artikeln und vervollständigen sie nur. Es bleibt aus jenen Tagen keine Erklärung, kein Vorschlag, kein Protest, in denen Stalin in mehr oder weniger klarer Weise den bolschewistischen Gesichtspunkt gegen die kleinbürgerlich-demokratische Politik geltend gemacht hätte. Einer der Historiker dieser Periode, der linke Menschewik Suchanow, Verfasser des oben erwähnten Aufrufs »An die Werktätigen der ganzen Welt«, schreibt in seinen unersetzlichen »Randbemerkungen zur Revolution«: »Außer Kamenew hatten die Bolschewiki damals Stalin im Exekutivkomitee ... Während der Zeit seiner bescheidenen Tätigkeit ... machte er – und nicht nur auf mich allein – den Eindruck eines grauen Flecks, der gelegentlich auftaucht und dann wieder verschwindet. Mehr ist wirklich nicht über ihn zu sagen.« Suchanow hat seine Weigerung, mehr zu sagen, später mit dem Leben bezahlt.
Am 3. April kamen, nachdem sie das mit Rußland im Krieg liegende Deutschland durchquert hatten, Lenin, die Krupskaja, Sinowjew und andere auf dem Finnländischen Bahnhof in Petrograd an ... Eine von Kamenew geführte Gruppe von Bolschewiki war Lenin nach Finnland entgegengefahren. Stalin war nicht dabei, und diese unscheinbare Tatsache zeigt besser als alles andere, daß von nichts, was auch nur entfernt nach einer persönlichen Beziehung zwischen Lenin und Stalin aussah, die Rede sein konnte. »Kaum war er zurückgekommen und hatte sich auf den Diwan gesetzt«, erzählt Raskolnikow, Marineoffizier und späterer Sowjetdiplomat, »als Wladimir Iljitsch schon Kamenew anging: ›Was schreibt ihr da in der Prawda? Wir haben einige Nummern gesehen und haben uns sehr über euch geärgert‹ ...« Kamenew war, nach Jahren gemeinsamer Arbeit im Ausland, an solche kalten Duschen gewöhnt. Sie minderten seine Liebe und Bewunderung für Lenin nicht, für den ganzen Lenin, seine Leidenschaft, seine Tiefe, seine Einfachheit, seine witzigen Bemerkungen, über die Kamenew lachte, bevor sie ausgesprochen waren, seine Handschrift, die er unfreiwillig imitierte. Viele Jahre später entsann sich jemand, daß Lenin unterwegs nach Stalin gefragt hatte. Diese ganz natürliche Frage – Lenin hatte sich sicherlich nach allen Mitgliedern des alten bolschewistischen Generalstabs erkundigt – diente später als Vorwurf für einen sowjetischen Film.
Ein aufmerksamer und gewissenhafter Beobachter schreibt über das erste öffentliche Auftreten Lenins in einer bolschewistischen Versammlung: »Nie werde ich diese donnernde Rede vergessen, die nicht nur mich, den zufällig gekommenen Häretiker, aufwühlte und erschütterte, sondern auch alle gläubigen Bolschewiki. Ganz sicher hatte niemand etwas Ähnliches erwartet.« Es handelte sich nicht um oratorische Donnerschläge, mit denen Lenin sparsam umging, sondern um die ganze Richtung seines Denkens. »Was wir brauchen, ist keine parlamentarische Republik, was wir brauchen, ist nicht eine bürgerliche Demokratie, was wir brauchen, das ist keine andere Regierung als der Sowjet der Arbeiterdeputierten, der Soldaten und der armen Bauern!« In der Koalition der Sozialisten mit der liberalen Bourgeoisie, das heißt in der »Volksfront« von damals, sah Lenin nur Volksverrat. Die übliche Formel von der »revolutionären Demokratie«, die die Arbeiter und die Kleinbürger, die Volkstümler, die Menschewiki und die Bolschewiki in einen Topf warf, überschüttete er mit beißendem Spott. In den versöhnlerischen Parteien, die die Sowjets beherrschten, sah er nicht Verbündete, sondern unversöhnliche Feinde. »Dies allein reichte in jenen Tagen aus«, bemerkt Suchanow, »um zu bewirken, daß den Zuhörern schwindlig zu werden begann.«
Die Partei wurde von Lenin ebensosehr überrascht wie von der Februarrevolution. All die Kriterien, die Losungen und Redewendungen, die sich in den fünf Revolutionswochen herausgebildet hatten, waren zunichte gemacht. »Er griff die Taktik, die die leitenden Parteigruppen und einzelne Genossen vor seiner Ankunft befolgt hatten, scharf an«, schreibt Raskolnikow. Das betraf in erster Linie Stalin und Kamenew. »Die verantwortlichsten Parteiarbeiter waren anwesend. Aber auch für sie war Iljitschs Rede etwas vollständig Neues.« Eine Diskussion fand nicht statt. Alle waren wie betäubt. Niemand wollte sich den Schlägen dieses schrecklichen Führers aussetzen. Unter, sich, in den Ecken, flüsterten sie, daß Iljitsch zu lange im Ausland gewesen wäre, daß er die Verbindung mit Rußland verloren hätte, daß er die Situation nicht überschaue, schlimmer noch, daß er auf die Position des Trotzkismus übergegangen wäre. Stalin, gestern noch Hauptreferent auf der Parteikonferenz, hüllte sich in Schweigen. Er erfaßte, daß er eine fürchterliche Dummheit begangen hatte, viel folgenschwerer als die auf dem Stockholmer Parteitag, als er die Landaufteilung propagierte, oder die vom Jahr darauf, als er für kurze Zeit Boykottist gewesen war. Es war entschieden besser, jetzt im Schatten zu bleiben. Niemand sorgte sich darum, was Stalin über die Sache dachte. Niemand erinnerte sich später in seinen Memoiren daran, was Stalin in den folgenden Wochen tat.
Lenin blieb inzwischen nicht müßig: er beobachtete die Lage mit scharfen Augen, marterte seine Freunde mit Fragen, forschte die Arbeiter aus. Schon einen Tag nach seiner Rede legte er der Partei eine kurze Zusammenfassung seiner Gesichtspunkte vor. Sie wurde unter der Bezeichnung »Thesen vom Vierten April« das bedeutendste Dokument der Revolution. Lenin wagte nicht nur die Liberalen »zu erschrecken«, sondern auch die Mitglieder des bolschewistischen Zentralkomitees. Er spielte mit den anmaßenden Leitern der Sowjetparteien nicht Versteck, sondern deckte die Logik des Klassenkampfes auf. Nachdem er die schüchterne und ohnmächtige Formel »in dem Maße, wie ...« ausgeschaltet hatte, zeigte er der Partei die Aufgabe, die vor ihr stand: die Macht zu erobern. Aber zuerst und vor allem war es nötig festzustellen, wer der Feind ist. Die monarchistischen »Schwarzen Hundert«, die sich in die Winkel verkrochen hatten, waren bedeutungslos. Der Generalstab der bürgerlichen Konterrevolution war das Zentralkomitee der Kadettenpartei und die von diesem inspirierte Provisorische Regierung. Letztere aber hält sich nur dank den Sozialrevolutionären und den Menschewiki, die sich ihrerseits auf die Leichtgläubigkeit der Massen stützen. Unter diesen Umständen konnte keine Rede davon sein, revolutionäre Gewalt anzuwenden. Zuerst mußten die Massen gewonnen werden. Anstatt sich mit den Volkstümlern und Menschewiki zu vereinigen und zu verbrüdern, mußte man sie vor den Arbeitern, Soldaten und Bauern als Agenten der Bourgeoisie bloßstellen. »Die wirkliche Regierung ist der Sowjet der Arbeiterdeputierten ... Unsere Partei befindet sich im Sowjet in der Minderheit ... Da ist nichts zu machen! Wir müssen sie aufklären – geduldig, beharrlich, systematisch aufklären – über den Irrtum ihrer Taktik. Solange wir in der Minderheit sind, besteht unsere Arbeit in der Kritik, um die Massen aufzuklären.« Alles war einfach und verständlich an diesem Programm, und jeder Nagel war auf dem richtigen Fleck eingeschlagen. Die »Thesen« trugen nur eine Unterschrift: »Lenin«. Weder das Zentralkomitee noch die »Prawda«-Redaktion wollten dieses explosive Dokument gegenzeichnen.
Am selben 4. April erschien Lenin auf der Parteikonferenz, auf der Stalin seine Theorie von der friedlichen Arbeitsteilung zwischen der Provisorischen Regierung und den Sowjets dargelegt hatte. Welch grausamer Kontrast! Um ihn abzuschwächen, nahm Lenin gegen seine Gewohnheit keine Analyse der schon angenommenen Resolutionen vor, sondern drehte ihnen einfach den Rücken. Er hob die Konferenz auf ein höheres Niveau. Er zwang sie, alles in einer neuen Perspektive zu sehen, einer Perspektive, von der die behelfsmäßigen Führer überhaupt nichts geahnt hatten. »Warum hat man nicht die Macht übernommen?«, fragte der neue Hauptredner und zählte die üblichen Erklärungen auf: die Revolution sei bürgerlich, sie befinde sich noch in ihrer ersten Etappe, der Krieg schaffe besondere Schwierigkeiten usw. »Das ist alles Unsinn. Tatsache ist, daß das Proletariat sich seiner Aufgabe nicht bewußt genug und nicht genügend organisiert ist. Das muß eingesehen werden. Die materielle Kraft ist in den Händen des Proletariats, aber die Bourgeoisie ist aufmerksam und vorbereitet.« Aus der Sphäre der Pseudo-Objektivität heraus, in der Stalin, Kamenew und andere den Aufgaben der Revolution auszuweichen versuchten, trug Lenin das Problem in die Sphäre des Bewußtseins und der Aktion. Das Proletariat hat im Februar die Macht nicht übernommen, nicht, weil die Soziologie das verbot, sondern weil es sich von den Kompromißlern im Interesse der Bourgeoisie täuschen lassen hat – und das ist alles! »Selbst unsere Bolschewiki«, fuhr er fort, ohne noch jemand namentlich zu nennen, »schenken der Regierung Vertrauen. Das kann man nur mit dem Rausch erklären, den die Revolution erzeugt hat. Das ist der Ruin des Sozialismus ... Wenn es so ist, dann gehen wir nicht denselben Weg. Lieber will ich in der Minderheit bleiben ...« Stalin und Kamenew konnten unschwer feststellen, daß es sich um sie handelte. Die ganze Konferenz verstand, um wen es ging. Die Delegierten wußten, daß Lenin nicht spaßte, wenn er mit der Spaltung drohte. Wie weit war das alles von »in dem Maße, wie ...« und überhaupt von der alltäglichen Politik der voraufgegangenen Tage entfernt!
In der Kriegsfrage wurde die Achse mit nicht weniger Entschiedenheit verlagert. Nikolaus Romanow ist gestürzt. Die Provisorische Regierung hat halb und halb die Republik versprochen. Hat sich dadurch der Charakter des Krieges verändert? In Frankreich gibt es seit langem eine Republik, und zwar nicht zum ersten Male; der Krieg, den dieses Land führt, ist nichtsdestoweniger ein imperialistischer Krieg. Der Charakter des Krieges wird von dem Charakter der herrschenden Klasse bestimmt. »Wenn die Massen erklären, daß sie keine Eroberungen wollen, dann glaube ich ihnen. Wenn Gutschkow und Lwow sagen, daß sie keine Eroberungen wollen, dann lügen sie.« Dieses einfache Kriterium ist tief wissenschaftlich und zugleich jedem Soldaten in den Schützengräben zugänglich. Dann führte Lenin einen Streich gegen die »Prawda«, die er bei ihrem Namen nannte: »Von der Regierung der Kapitalisten verlangen, daß sie auf Annexionen verzichte, das ist Unsinn, das sind schlechte Scherze ...« Diese Worte waren direkt auf Stalin gemünzt. »Den Krieg durch einen Frieden beenden, der nicht auf Gewalt beruht, das ist unmöglich, ohne das Kapital zu stürzen!« Die Kompromißler aber unterstützen das Kapital und die »Prawda« unterstützt die Kompromißler. »Der Aufruf des Sowjets enthält nicht ein Wort, das von Klassenbewußtsein durchdrungen wäre. Nichts als Phrasen!« Es handelt sich um denselben Aufruf, den Stalin als eine Stimme des Internationalismus begrüßt hatte. »Solange noch die alten Bündnisse bestehen, die alten Verträge, die alten Kriegsziele, solange sind die pazifistischen Phrasen nur ein Mittel, um die Massen zu täuschen. Wodurch sich Rußland auszeichnet, das ist der außerordentlich geschwinde Übergang von wilder Gewalt zu feinster Täuschung.« Drei Tage vorher hatte sich Stalin zur Vereinigung mit der Partei Tseretellis bereiterklärt. »Ich höre«, sagte Lenin, »daß es in Rußland eine Vereinheitlichungstendenz gibt; die Vereinigung mit den Verteidigern ist Verrat am Sozialismus. Ich glaube, daß es besser ist, allein zu bleiben wie Liebknecht. Einer gegen Hundertzehn!« Es ist sogar nicht länger möglich, denselben Namen zu tragen wie die Menschewiki, den Namen »Sozialdemokraten«. »Mein persönlicher Vorschlag ist, den Namen der Partei zu ändern und sie Kommunistische Partei zu nennen.« Nicht ein einziger Konferenzteilnehmer, selbst nicht der mit Lenin zusammen angelangte Sinowjew, unterstützte diesen Vorschlag, der ein frevelhafter Bruch mit der eigenen Vergangenheit zu sein schien.
Die »Prawda«, die weiterhin von Kamenew und Stalin geleitet wurde, erklärte, daß die Thesen Lenins seine persönliche Meinung wären, daß das Büro des Zentralkomitees diese Meinung nicht teile und daß die »Prawda« an ihrer alten Politik festhalte. Die Erklärung war von Kamenew geschrieben. Stalin schwieg. Er sollte jetzt für lange Zeit schweigen müssen. Lenins Ideen schienen ihm die Phantasmagorien eines Emigranten zu sein, aber er wartete ab, wie der Parteiapparat reagieren würde. »Man muß offen zugeben«, schrieb später der Bolschewik Angarski, der dieselbe Entwicklung wie die andern durchmachte, »daß eine große Anzahl von alten Bolschewiki ... in der Frage des Charakters der Revolution von 1917 die alten bolschewistischen Konzeptionen von 1905 beibehielt und daß es nicht leicht war, diese Konzeptionen als überholt anzuerkennen und sich von ihnen loszumachen.« In Wirklichkeit handelte es sich nicht um »eine große Anzahl von alten Bolschewiki«, sondern um alle ohne Ausnahme. Auf der Märzkonferenz, auf der die Kader der Partei des ganzen Landes versammelt gewesen waren, hatte sich nicht eine einzige Stimme zugunsten des Kampfes für die Sowjetmacht erhoben. Alle mußten sich umstellen. Von den sechzehn Mitgliedern des Petrograder Komitees bekannten sich nur zwei zu den Thesen, und auch sie nicht sogleich. »Viele Genossen gaben vor«, berichtet Tsichon, »daß Lenin den Kontakt mit Rußland verloren habe, daß er die gegenwärtigen Bedingungen nicht in Betracht zöge usf.« Ein Bolschewik aus der Provinz, Lebedew, erzählt, wie Lenins Tätigkeit von den Bolschewiki anfänglich verurteilt wurde: »sie stellte sich als utopisch heraus und erklärte sich durch die lange Trennung vom russischen Leben.« Einer der Einflüsterer dieses Urteils war zweifellos Stalin, der immer schon die »Ausländer« von oben herab behandelt hatte. Einige Jahre später erinnerte sich Raskolnikow des folgenden: »Wladimir Iljitschs Ankunft rief eine völlige Umstellung in der Taktik unserer Partei hervor. Offen gestanden, herrschte vor seiner Ankunft ziemlich große Verwirrung in der Partei ... Die Aufgabe der Machtergreifung war als ein fernes Ideal dargestellt worden ... Es wurde als ausreichend betrachtet, die Provisorische Regierung mit diesen oder jenen Einschränkungen zu unterstützen ... Die Partei verfügte über keinen Führer, der genügend Autorität besessen hätte, sie zu einem Block zusammenzuschweißen und sie hinter sich her zu führen.« Im Jahre 1922 konnte es Raskolnikow nicht in den Sinn kommen, in Stalin einen »Führer mit genügender Autorität« zu sehen. »Unsere Führer«, schreibt ein Arbeiter aus dem Ural, Markow, den die Revolution an der Drehbank angetroffen hatte, »tappten vor der Ankunft Wladimir Iljitschs im Finstern ... die Stellung unserer Partei klärte sich mit dem Erscheinen seiner berühmten Thesen.« »Erinnert euch daran, welche Aufnahme die Aprilthesen Wladimir Iljitschs fanden«, sagte Bucharin kurze Zeit nach Lenins Tod, »als ein Teil unserer eigenen Organisation sie als nichts anderes denn einen Verrat an der allgemein anerkannten marxistischen Ideologie betrachtete.« Dieser »Teil unserer eigenen Organisation« – das war ausnahmslos ihre ganze führende Schicht gewesen. »Mit Lenins Ankunft in Rußland 1917«, schrieb Molotow im Jahre 1924, »fühlte unsere Partei festen Boden unter ihren Füßen ... Vor diesem Augenblick suchte die Partei tastend ihren Weg, schwächlich und unentschieden ... Es fehlte der Partei an der Klarheit und Entschlossenheit, die die revolutionären Umstände erforderten ...« Vor allen anderen und am genauesten und klarsten hat Ludmilla Stahl den Umschwung beschrieben: »Vor Lenins Ankunft irrten alle Genossen in der Finsternis«, schreibt sie am 14. April 1917, im Augenblick der schwersten Krise in der Partei. »Wir sahen die schöpferische Initiative des Volkes, aber wir wußten sie nicht in Rechnung zu stellen ... Unsere Genossen beschränkten sich auf die Vorbereitungen für die Konstituante mit Hilfe parlamentarischer Methoden und faßten nicht einmal die Möglichkeit ins Auge, weiter zu gehen. Indem wir Lenins Losungen übernehmen, werden wir das tun, was das Leben selbst von uns zu tun verlangt.«
Für Stalins persönliches Prestige war der Aprilumschwung in der Partei ein harter Schlag. Er war aus Sibirien mit der Autorität des alten Bolschewiken zurückgekommen, mit dem Titel eines Mitglieds des Zentralkomitees, mit der Unterstützung Kamenews und Muranows. Auch er hatte mit einer »Umstellung« eigener Fabrikation begonnen, indem er die Politik der örtlichen Leiter als zu radikal abgelehnt und sich mit einer Artikelserie in der »Prawda«, einer Konferenzrede und seiner Zustimmung zur Krasnojarsker Resolution bloßgestellt hatte. Mitten in dieser Aktivität, die ihrer ganzen Art nach die eines Leiters war, erschien Lenin. Er kam auf die Konferenz wie ein Schulinspektor in die Klasse und, nachdem er einige Sätze aufgefangen hatte, drehte er dem Lehrer den Rücken zu und wischte dessen hinfälliges Gekritzel mit dem nassen Schwamm von der Tafel. Das Gefühl der Verblüffung und Empörung, das zuerst unter den Delegierten vorherrschte, schlug in Bewunderung um. Stalin empfand keine Bewunderung; er fühlte sich tief verletzt, verspürte nur Hilflosigkeit und scheelen Neid. Er war vor der ganzen Partei viel härter gedemütigt worden als nach der unglückseligen Periode, in der er die »Prawda« geleitet hatte, auf der Krakauer Konferenz mit ihrer beschränkten Teilnehmerzahl. Den Kampf aufzunehmen, wäre unnütz gewesen: auch er sah jetzt neue Horizonte, deren Existenz er gestern noch nicht geahnt hatte. Da blieb nur, die Zähne zusammenzubeißen und zu schweigen. Die Erinnerung an die von Lenin im April 1917 bewerkstelligte Umwälzung drang für immer in sein Bewußtsein und stak darin wie ein brennender Pfahl im Fleisch. Er bemächtigte sich später aller Protokolle der Märzkonferenz und versuchte, sie vor der Partei und der Geschichte zu verbergen. Doch das allein genügte nicht. In den Bibliotheken blieben noch die Sammelbände der »Prawda« von 1917. Manche Nummern der »Prawda« wurden sogar auch noch in einem Sammelwerk nachgedruckt – und Stalins Artikel sprachen für sich selbst. In den ersten Jahren der Revolution erschienen in den historischen Zeitschriften und den Jubiläumsnummern der Zeitungen zahlreiche Erinnerungen an die Aprilkrise. All das mußte nach und nach aus dem Verkehr gezogen, gefälscht, ersetzt werden. Sogar der Ausdruck »Umrüstung« der Partei, den ich im Jahre 1922 gelegentlich verwandte, wurde später ein Gegenstand immer heftigerer Attacken Stalins und seiner Geschichtsschreiber.
Gewiß, 1924 schien es auch Stalin noch klüger, bei aller Nachsicht gegen sich selbst den Irrtum seiner Stellungnahme am Anfang der Revolution zuzugeben. »Die Partei«, so schrieb er, »hatte eine Politik akzeptiert, nach der die Sowjets auf die Provisorische Regierung in der Friedensfrage einen Druck ausüben sollten, und sie entschied sich nicht mit einem Schlage, einen Schritt vorwärts zu machen ... bis es zu der neuen Losung von der Sowjetmacht kam. Das war eine ganz irrtümliche Position, denn sie verbreitete pazifistische Illusionen, trug Wasser auf die Mühle der Verteidiger und behinderte die revolutionäre Erziehung der Massen. Diese irrtümliche Einstellung teilte ich mit anderen Genossen der Partei und sagte mich erst Mitte April vollständig davon los, als ich die Thesen Lenins annahm.« Dieses öffentliche Eingeständnis, das als notwendige Rückendeckung in dem damals beginnenden Kampfe gegen den Trotzkismus dienen sollte, stellte sich schon zwei Jahre später als allzu belastend heraus. Im Jahre 1926 leugnete Stalin kategorisch den opportunistischen Charakter seiner Politik vom März 1917: »Das ist nicht wahr, Genossen, das ist Geschwätz!« Und er gab lediglich »gewisse Schwankungen« zu: »Aber wer unter uns hat nicht mal vorübergehend geschwankt?« Vier Jahre später wurde Jaroslawsky, der als Historiker die Tatsache erwähnt hatte, daß Stalin am Anfang der Revolution eine »irrtümliche Stellungnahme« bezogen hatte, von allen Seiten her angegriffen. Es war nun nicht mehr erlaubt, auch nur die »vorübergehenden Schwankungen« zu erwähnen, denn das Prestige ist ein gefräßiges Untier. Schließlich und endlich schreibt sich Stalin in der von ihm selbst veröffentlichten »Geschichte« der Partei Lenins Position zu und überläßt seine eigenen damaligen Auffassungen seinen Feinden. »Kamenew und gewisse Parteiarbeiter der Moskauer Organisation, wie zum Beispiel Rykow, Bubnow und Nogin«, proklamiert diese seltsame Geschichte, »nahmen die halbmenschewistische Position der bedingten Unterstützung der Provisorischen Regierung und der Verteidigungspolitik ein. Stalin, der aus der Verbannung zurückkehrte, Molotow und andere verteidigten mit der Mehrheit der Partei die Politik, die darin bestand, der Provisorischen Regierung nicht das Vertrauen auszusprechen; sie intervenierten gegen die Verteidigungspolitik« usw. ... So wurde mit gradueller Veränderung der Fakten in eine Fiktion Schwarz in Weiß verwandelt. Dieser Methode, die Kamenew »Dosierung der Lüge« nannte, begegnen wir im ganzen Leben Stalins wieder; sie fand ihren höchsten Ausdruck in den Moskauer Prozessen, in denen sie aber auch in sich selbst zusammenstürzte.
Mit der Analyse der grundlegenden Ideen der beiden Fraktionen der Sozialdemokratie im Jahre 1909 beschäftigt, schrieb der Verfasser des vorliegenden Buches: »Die antirevolutionären Aspekte des Menschewismus sind schon jetzt in ihrer ganzen Stärke offensichtlich, die antirevolutionären Züge des Bolschewismus drohen, eine furchtbare Gefahr erst nach dem revolutionären Siege zu werden.« Nach dem Sturz des Zarismus, im März 1917, brachten die alten Kader der Partei diese antirevolutionären Züge des Bolschewismus extrem zum Ausdruck: selbst die Demarkationslinie zwischen Bolschewismus und Menschewismus schien ausgelöscht. Eine radikale Umrüstung der Partei war notwendig geworden, die Lenin, der einzige, der dieser Sache gewachsen war, im Laufe des Monats April vornahm. Stalin trat offenbar kein einziges Mal öffentlich gegen Lenin auf, aber auch nicht für ihn. Lautlos wandte er sich von Kamenew ab, so wie er zehn Jahre zuvor von den Boykottisten desertiert war, so wie er auf der Krakauer Konferenz schweigend die Versöhnler ihrem Schicksal überlassen hatte. Es gehörte nicht zu seinen Gewohnheiten, eine Auffassung zu verteidigen, die keinen unmittelbaren Erfolg versprach. Vom 14. bis 22. April wurde eine Konferenz der Petrograder Parteiorganisation abgehalten. Lenins Einfluß war schon vorherrschend, doch gab es noch scharfe Diskussionen. Unter den Teilnehmern begegnen wir Sinowjew, Kamenew, Tomski, Molotow und anderen bekannten Bolschewiki. Stalin zeigte sich überhaupt nicht. Offensichtlich wollte er für eine Weile vergessen werden.
Am 24. April wurde in Petrograd die Konferenz der bolschewistischen Partei von ganz Rußland eröffnet. Sie war dazu bestimmt, endgültig mit allen Überbleibseln der Märzkonferenz aufzuräumen. Ungefähr 150 Delegierte vertraten 79 000 Parteimitglieder, wovon 15 000 in der Hauptstadt lebten. Das waren keine schlechten Ziffern für eine eben aus der Illegalität aufgetauchte antipatriotische Partei. Lenins Sieg zeigte sich schon bei der Wahl der fünf Mitglieder des Präsidiums, in das weder Kamenew noch Stalin, die die Verantwortung für die opportunistische Märzpolitik trugen, gewählt wurden. Kamenew hatte wenigstens die Courage zu verlangen, daß er ein Gegenreferat halten dürfe. »Angesichts der Tatsache, daß der klassische Überrest des Feudalismus, der Großgrundbesitz, der Form und dem Inhalt nach noch nicht liquidiert worden ist ... ist es verfrüht zu sagen, daß die bürgerliche Demokratie alle ihre Möglichkeiten erschöpft habe.« Das war die grundlegende Auffassung Kamenews und seiner Anhänger Rykow, Nogin, Dzerschinsky, Angarski und anderer. »Der Impuls für die sozialistische Revolution«, sagte Rykow, »muß vom Westen ausgehen.« »Die demokratische Revolution ist nicht vollendet«: darauf bestanden die Oppositionsredner, die Kamenew unterstützten. Das war richtig. Aber die Mission der Provisorischen Regierung war keineswegs, die Revolution zu vollenden, sondern vielmehr ihren Lauf zurückzulenken. Daraus folgte, daß die bürgerliche Revolution nur unter der Herrschaft der Arbeiterklasse vollendet werden konnte. Die Diskussion nahm einen lebhaften Charakter an, blieb aber friedlich; im Grunde war die Entscheidung schon gefallen, und Lenin tat alles, um seinen Gegnern den Rückzug zu erleichtern.
Stalin nahm an den Debatten mit einer kurzen Erwiderung an seine gestrigen Verbündeten teil. Wenn wir nicht zum unmittelbaren Sturz der Provisorischen Regierung aufrufen, hatte Kamenew in seinem Korreferat gesagt, dann müssen wir die Kontrolle verlangen, sonst werden uns die Massen nicht verstehen. Lenin entgegnete, daß die »Kontrolle« des Proletariats über die bürgerliche Regierung unter den gegenwärtigen revolutionären Bedingungen entweder rein fiktiven Charakters sei oder aber auf eine Zusammenarbeit hinauslaufe. Stalin hielt den Augenblick für gekommen zu erklären, daß er mit Kamenew nicht übereinstimme. Um seinem Stellungswechsel den Anschein guter Begründung zu verleihen, bediente er sich einer Note Miljukows, des Ministers des Auswärtigen, vom 19. April, deren ungeschminkter äußerster Imperialismus die Soldaten buchstäblich auf die Straße getrieben und eine Regierungskrise hervorgerufen hatte. Die leninistische Auffassung von der Revolution ging von den Beziehungen der Klassen zueinander aus und nicht von irgendwelchen einzelnen diplomatischen Noten, die sich äußerst wenig von anderen Regierungshandlungen unterschieden. Aber allgemeine Ideen interessierten Stalin nicht. Was er brauchte, war eine Gelegenheit, die ihm erlaubte, seinen Stellungswechsel mit möglichst wenig Schaden für seine Eigenliebe vorzunehmen. Er »dosierte« seinen Rückzug. In der ersten Periode der Revolution war es, wie er sich ausdrückte, »der Sowjet, der das Programm vorschrieb, aber jetzt ist es die Provisorische Regierung, die das Programm vorschreibt«. Nach Miljukows Note »geht die Regierung zur Offensive gegen den Sowjet über, der Sowjet weicht zurück. Danach noch von Kontrolle zu reden, heißt ins Blaue hinein reden«. Das alles klang künstlich und falsch. Aber das unmittelbare Ziel war erreicht: es war ihm gelungen, sich beizeiten von der Opposition abzugrenzen, die bei den Wahlen nur sieben Stimmen auf sich vereinigen konnte.
In seinem Bericht über die Frage der nationalen Minderheiten tat er, was er konnte, um eine Brücke zwischen seiner Rede vom März, die die Quelle der nationalen Unterdrückung ausschließlich in der Grundaristokratie gesehen hatte, und der neuen Stellungnahme der Partei zu schlagen, die er zu der seinigen gemacht hatte. »Die nationale Unterdrückung«, sagte er, indem er ohne es einzugestehen gegen sich selbst polemisierte, »wird nicht nur durch den Großgrundbesitz aufrechterhalten, sondern auch durch andere Kräfte, nämlich die imperialistischen Gruppierungen, die die Methoden der nationalen Unterdrückung, die sie in den Kolonien angewendet haben, in das Innere ihres eigenen Landes übertragen.« Außerdem folgen der Großbourgeoisie »das Kleinbürgertum, ein Teil der Intelligenz, ein Teil der Arbeiteraristokratie, die ebenfalls von der Beute zehren«. Das ist das Thema, das Lenin während der Kriegsjahre beständig entwickelt hatte. »So bildet sich«, fährt der Redner fort, »ein ganzer Chor sozialer Kräfte, der die nationale Unterdrückung unterstützt.« Um mit der Unterdrückung Schluß zu machen, »muß dieser Chor von der politischen Bühne beseitigt werden«. Indem sie die imperialistische Bourgeoisie an die Macht gebracht hatte, hatte die Februarrevolution noch keinesfalls die Bedingungen für die nationale Freiheit geschaffen. So stemmte sich zum Beispiel die Provisorische Regierung mit aller Kraft gegen die Ausdehnung der Autonomie auf Finnland. »Auf welche Seite müssen wir uns stellen? Natürlich auf die Seite des finnischen Volkes.« Der Ukrainer Pjatakow und der Pole Dzerschinsky traten gegen das Programm der nationalen Selbstbestimmung auf, das sie für utopisch und reaktionär erklärten. »Wir müssen nicht die nationale Frage herausstellen«, sagte naiverweise Dzerschinsky, »das schiebt den Augenblick der sozialen Revolution hinaus. Deshalb würde ich vorschlagen, die Resolution über die Unabhängigkeit Polens zurückzuziehen.« »Insoweit die Sozialdemokratie«, antwortete Stalin, »an ihrer Orientierung auf die sozialistische Revolution festhält, muß sie die gegen den Imperialismus gerichtete revolutionäre Bewegung der Völker unterstützen.« Hier erwähnt Stalin zum erstenmal in seinem Leben die »Orientierung auf die sozialistische Revolution«. Das Blatt des Julianischen Kalenders trägt das Datum des 29. April 1917.
Nachdem sich die Konferenz die Befugnisse eines Parteitags zuerkannt hatte, wählte sie ein neues Zentralkomitee, in das Lenin, Sinowjew, Kamenew, Miljutin, Nogin, Swerdlow, Smilga, Stalin, Fedorow und als Stellvertreter Theodorowitsch, Bubnow, Glebow-Awilow und Prawdin eintraten. Von 133 Delegierten mit beschließender Stimme nahmen aus irgendeinem Grunde nur 109 an der geheimen Abstimmung teil – vielleicht war ein Teil der Delegierten schon abgefahren. Lenin erhielt 104 Stimmen (gehörte Stalin zu den fünf Delegierten, die Lenin ihre Stimme verweigerten?), Sinowjew 101, Stalin 97, Kamenew 95. Zum erstenmal war Stalin von einer normalen Parteiversammlung ins Zentralkomitee gewählt worden. Er ging auf sein achtunddreißigstes Lebensjahr zu. Rykow, Sinowjew und Kamenew waren dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt, als sie zum erstenmal in den bolschewistischen Generalstab gewählt wurden.
Auf der Konferenz wurde der Versuch gemacht, Swerdlow nicht mit ins Zentralkomitee aufzunehmen. Nach dem Tode des ersten Präsidenten der Sowjetrepublik sprach Lenin über diesen Zwischenfall und sagte, daß er da einen schreienden Irrtum begangen habe. »Glücklicherweise sind wir von unten korrigiert worden.« Lenin selbst hatte wohl kaum einen Grund, sich Swerdlows Kandidatur zu widersetzen, den er von der Korrespondenz her, die er mit ihm geführt hatte, als einen unermüdlichen Berufsrevolutionär kannte. Höchstwahrscheinlich ging der Widerstand von Stalin aus, der nicht vergessen hatte, daß Swerdlow nach ihm in Petersburg den Kampf für die Reorganisierung der »Prawda« durchgefochten hatte; das gemeinschaftliche Leben in Kureika hatte seine feindseligen Gefühle gegen Swerdlow nur noch verstärkt. Stalin vergab nie. Auf der Konferenz versuchte er anscheinend, Rache zu nehmen, wobei er sich Lenins Unterstützung zu sichern wußte – auf welche Weise, darüber sind wir auf Hypothesen angewiesen. Sein Versuch schlug aber fehl. Wenn Lenin im Jahre 1912 auf den Widerstand der Delegierten stieß, als er Stalin ins Zentralkomitee hineinbringen wollte, so begegnete er jetzt nicht geringerem Widerstand bei dem Versuch, Swerdlow draußen zu lassen. Von allen Mitgliedern dieses auf der Aprilkonferenz gewählten Zentralkomitees ist es nur Lenin und Swerdlow gelungen, beizeiten eines natürlichen Todes zu sterben. Mit Ausnahme natürlich von Stalin selbst fielen alle anderen, auch die vier Stellvertreter, in Ungnade und wurden entweder offiziell erschossen oder verschwanden auf geheimnisvolle Weise von der Bildfläche.
Ohne Lenin wußte sich niemand in einer neuen Situation zurechtzufinden, alle blieben Gefangene der alten Formeln. Sich jetzt aber noch auf die Losung von der demokratischen Diktatur beschränken, hieß, wie Lenin schrieb, »in der Tat zum Kleinbürgertum übergehen«. Was Stalin den anderen voraus hatte, war zweifellos die Tatsache, daß er vor diesem Übergang nicht zurückschreckte und sich auf eine Annäherung an die Versöhnler und eine Vereinigung mit den Menschewiki orientierte. Er war keineswegs vom Respekt vor alten Formeln geleitet. Ideenfetischismus war ihm fremd: deshalb konnte er ohne die geringsten Gewissensbisse die seit langem als gültig anerkannte Theorie von der konterrevolutionären Rolle der russischen Bourgeoisie fallen lassen. Wie immer ging er empirisch vor, unter dem Einfluß seines organischen Opportunismus, der ihn stets auf die Linie des geringsten Widerstandes trieb. Aber er war nicht allein gewesen; in den drei Wochen vor Lenins Ankunft hatte er den heimlichen Überzeugungen so gut wie aller »alten Bolschewiki« Ausdruck gegeben.
Vergessen wir nicht, daß der bolschewistische Parteiapparat von der Intelligenz beherrscht wurde, kleinbürgerlich ihren sozialen Ursprüngen und ihrer Lebensweise, marxistisch ihren Ideen und ihrer Bindung an das Proletariat nach. Die Arbeiter, die Berufsrevolutionäre wurden, traten mit Eifer in dieses Milieu ein und unterschieden sich bald nicht mehr von ihm. Die besondere soziale Zusammensetzung des Apparats und seine Autorität über das Proletariat (die eine wie die andere waren keine Zufallsprodukte, sondern entsprachen einer eisernen historischen Notwendigkeit) wurden öfter als einmal zur Ursache von Schwankungen der Partei und schließlich zur Quelle ihres Niedergangs. Die marxistische Doktrin, auf die sich die Partei stützte, drückte die geschichtlichen Interessen des Proletariats in seiner Gesamtheit aus; aber die Menschen, aus denen sich der Apparat zusammensetzte, assimilierten immer nur die ihrer eigenen persönlichen, also beschränkten Erfahrung entsprechenden Teile dieser Doktrin. Oft genug, wie Lenin klagte, eigneten sie sich nur die fertigen Formeln an und schlossen die Augen vor dem Wechsel in der Situation. In der Mehrzahl der Fälle fehlte ihnen sowohl das Verständnis für den historischen Prozeß wie die tägliche unmittelbare Verbindung mit den Arbeitermassen. Infolgedessen blieben sie dem Einfluß anderer Klassen unterworfen. Während des Krieges wurden die Spitzen der Partei in erheblichem Ausmaß von der Atmosphäre der Versöhnung ergriffen, die von den bürgerlichen Kreisen ausging – zum Unterschied von den einfachen bolschewistischen Arbeitern, die der patriotischen Welle viel besser standhielten.
Die Revolution eröffnete der Demokratie ein weites Betätigungsfeld und gewährte den »Berufsrevolutionären« aller Parteien unendlich mehr Befriedigung als den Soldaten in den Schützengräben, den Bauern in ihren Dörfern, den Arbeitern in den Rüstungsbetrieben. Die obskuren Illegalen von gestern wurden plötzlich führende politische Figuren. An Stelle der Parlamente hatten sie die Sowjets, in denen sie ungehindert diskutieren und ihre Entscheidungen treffen konnten. In ihren Augen schmolzen die Klassengegensätze, die die Revolution hervorgerufen hatten, unter den Strahlen der demokratischen Sonne. Das Resultat war, daß sich Bolschewiki und Menschewiki fast überall im Lande vereinigten und daß dort, wo sie, wie in Petersburg, getrennt blieben, eine Tendenz für die Vereinigung in beiden Organisationen starken Widerhall fand. Unterdes nahm der chronische Antagonismus in den Schützengräben, in Dörfern und Fabriken einen immer zugespitzteren und heftigeren Charakter an, was nicht die Einheit, sondern den Bürgerkrieg voraussehen ließ. Die in Bewegung geratenen Klassen gerieten mit den Interessen der Parteiapparate wie so oft in scharfen Widerspruch. Selbst die Kader der bolschewistischen Partei, die eine ganz außergewöhnliche revolutionäre Schule durchgemacht hatten, zeigten am Tage nach der Überwindung der Monarchie offen die Tendenz, sich von der Masse abzusondern und das Sonderinteresse des Apparats mit den Interessen der Arbeiterklasse zu identifizieren. Auf was mußte man sich gefaßt machen, wenn diese Kader zur allmächtigen Staatsbürokratie würden? Es ist unwahrscheinlich, daß diese Materie Stalins Gedanken beschäftigte. Er war Fleisch vom Fleische des Apparats und dessen festes Rückgrat.
Doch worin bestand das Wunder, das es Lenin ermöglichte, die Partei in ein paar Wochen in eine neue Bahn zu lenken? Die Antwort darauf muß in zwei Richtungen zugleich gesucht werden: in den persönlichen Qualitäten Lenins und in der objektiven Situation. Lenin war stark, nicht nur weil er die Gesetze des Klassenkampfes verstand, sondern auch deshalb, weil er den in lebendigster Bewegung befindlichen Massen ständig sein Ohr zu leihen wußte. Er repräsentierte nicht so sehr den Parteiapparat als vielmehr die Vorhut des Proletariats. Er war entschieden davon überzeugt, daß sich in der Schicht der Arbeiterklasse, die die illegale Partei unterstützt hatte. Tausende von Arbeitern fänden, die ihn, Lenin, unterstützen würden. Die Massen waren jetzt in höherem Maße revolutionär als die Partei, und die Partei war revolutionärer als der Apparat. Schon im März war die wirkliche Einstellung der Arbeiter und Soldaten in zahlreichen Fällen stürmisch zum Durchbruch gekommen, und sie stand in schreiendem Widerspruch zu den Instruktionen, die von den Parteien, mit Einschluß der bolschewistischen Partei, ausgingen. Lenins Autorität war nicht absolut, aber sie war groß, denn sie stützte sich auf die ganze vergangene Erfahrung. Andererseits war die Autorität des Apparats, wie auch dessen Konservatismus, erst in Bildung begriffen. Lenins heftiger Angriff war nicht seinem individuellen Temperament entsprungen, sondern aus dem Druck hervorgegangen, den die Klasse auf die Partei und die Partei auf den Apparat ausübte. Wer unter solchen Umständen Opposition machen wollte, fühlte bald, wie ihm der Boden unter den Füßen wegrutschte. Die Zögernden reihten sich hinter die Fortgeschrittensten ein, die Vorsichtigsten stießen zur Mehrheit. Auf diese Weise gelang es Lenin unter verhältnismäßig geringen Verlusten, das Steuer der Partei herumzuwerfen und sie für eine neue Revolution vorzubereiten.
Aber hier taucht eine neue Schwierigkeit auf. Immer wenn die bolschewistische Leitung allein, ohne Lenin, handeln muß, verfällt sie in Fehler, und zwar neigt sie zumeist nach rechts. Lenin erscheint wie ein deus ex machina und zeigt den richtigen Weg. Heißt das, daß in der bolschewistischen Partei Lenin alles ist und die anderen nichts? Diese in demokratischen Kreisen ziemlich weitverbreitete Anschauung ist äußerst einseitig, also falsch. Genau so könnte man von der Wissenschaft sagen: die Mechanik ohne Newton, die Biologie ohne Darwin waren lange Jahre hindurch nichts. Das ist richtig und falsch. Es bedurfte der Arbeit von Tausenden einfacher Wissenschaftler, um die Tatsachen zu sammeln, sie zu klassifizieren, das Problem zu stellen und den Boden für die umfassenden Lösungen Newtons und Darwins vorzubereiten. Diese Lösung ihrerseits wies Tausenden von neuen einfachen Forschern den Weg. Das Genie schafft die Wissenschaft nicht aus sich selbst heraus, es beschleunigt vielmehr nur den kollektiven Denkprozeß. Die bolschewistische Partei hatte einen genialen Führer. Das war kein Zufall. Ein Revolutionär von der Kraft und Größe Lenins konnte nur der Führer der furchtlosesten Partei sein, einer Partei, imstande, in Gedanke und Tat bis zur letzten Konsequenz zu gehen. Doch ist das Genie selbst eine seltene Ausnahme. Der geniale Führer orientiert sich schneller, dringt tiefer in die Situation ein, sieht weiter. Aber zwischen dem genialen Führer und seinen nächsten Mitarbeitern lag unvermeidlicherweise eine tiefe Kluft. Es mag zugegeben werden, daß Lenins Geisteskraft die selbständige Entwicklung seiner Mitarbeiter bis zu einem gewissen Grade hemmte. Das heißt aber nicht, daß Lenin »alles« und die Partei »nichts« war. Ohne die Partei wäre Lenin ohnmächtig gewesen, wie Newton und Darwin ohne die kollektive wissenschaftliche Betätigung ohnmächtig gewesen wären. Die Konsequenz daraus ist, daß es sich hier nicht um Sünden des Bolschewismus an sich handelt, angeblich durch die Zentralisierung, die Disziplin und dergleichen verschuldet, sondern um das Problem der Rolle des Genies im geschichtlichen Prozeß. Schriftsteller, die versuchen, den Bolschewismus herunterzumachen, weil die bolschewistische Partei das Glück hatte, einen genialen Führer zu finden, zeigen nur ihre intellektuelle Vulgarität.
Ohne Lenin hätte die bolschewistische Leitung ihren Weg nur nach und nach gefunden, um den Preis innerer Kämpfe und Zusammenstöße. Der Klassenkonflikt hätte weiter gewirkt und die inadäquaten Losungen der »alten Bolschewiki« diskreditiert und ausgeschaltet. Stalin, Kamenew und andere zweitrangige Figuren hätten entweder den in der proletarischen Vorhut vorherrschenden Strömungen ihren entsprechenden Ausdruck verleihen oder einfach auf die andere Seite der Barrikade übergehen müssen. Vergessen wir nicht, daß Schljapnikow, Salutzki und Molotow vom Beginn der Revolution an einen linkeren Kurs einzuschlagen versuchten.
Das heißt aber nicht, daß der richtige Weg auf alle Fälle gefunden worden wäre. Der Faktor Zeit spielt in der Politik, vor allem während einer Revolution, eine entscheidende Rolle. Der Klassenkampf läßt der politischen Führung durchaus nicht unbegrenzte Zeit, um die richtige Linie zu entdecken. Die Bedeutung eines genialen Führers liegt gerade darin, daß er die von der Erfahrung erteilten Lektionen abkürzt und so der Partei die Möglichkeit gibt, im gegebenen Augenblick in die Ereignisse einzugreifen. Wäre Lenin Anfang April nicht gekommen, so hätte die Partei sicherlich nur zögernd den Weg gefunden, den Lenin in seinen »Thesen« aufzeigte. Aber hätten dann nicht andere Führer die Partei rechtzeitig auf die Oktober-Lösung vorbereiten können? Auf diese Frage kategorisch zu antworten, ist nicht möglich. Eins kann mit Sicherheit gesagt werden: in dieser Situation, die genügende Kühnheit verlangte, um dem verknöcherten Parteiapparat lebendige Massen und Ideen gegenüberzustellen, hätte Stalin keine schöpferische Initiative bewiesen und wäre eher Hemmschuh als treibender Motor gewesen. Seine Stärke beginnt erst von dem Augenblick an wirksam zu werden, wo er die Massen mit Hilfe des Parteiapparats bezwingen kann.
Stalins Tätigkeit im Laufe der beiden nächsten Monate läßt sich nur schwer verfolgen. Er sah sich plötzlich in den dritten Rang versetzt. Jetzt leitete Lenin die Redaktion der »Prawda«, und zwar in eigener Person und jeden Tag und nicht mehr von ferne wie vor dem Krieg. Und die »Prawda« gibt den Ton an für die ganze Partei. Auf dem Felde der Agitation herrscht Sinowjew. Ebensowenig wie früher erscheint Stalin auf öffentlichen Versammlungen. Kamenew, mit der neuen Politik halb versöhnt, vertritt die Partei im Zentralen Exekutivkomitee des Sowjets und im Sowjet selbst. Stalin ist praktisch von der Bildfläche verschwunden und ward kaum jemals im Smolny gesehen. Die Leitung der organisatorischen Arbeit ist in Swerdlows Händen konzentriert; er stellt die Parteiarbeiter an ihre Plätze, empfängt die aus der Provinz Kommenden, schlichtet Konflikte. Außer seiner üblichen Beschäftigung auf der »Prawda« und seiner Teilnahme an den Sitzungen des Zentralkomitees werden Stalin nur gelegentlich verwaltungsmäßige, technische oder diplomatische Aufgaben übertragen. Sie sind nicht zahlreich. Stalin ist von Natur aus faul. Wenn nicht seine persönlichen Interessen direkt im Spiel sind, ist er unfähig, mit Volldampf zu arbeiten. Er zieht es dann vor, die Pfeife zu rauchen und seine Zeit abzuwarten. Er machte jetzt eine sehr unbehagliche Periode durch. Auf allen Gebieten war er von bedeutenderen und begabteren Leuten überflügelt worden. März und April ließen ihm die Erinnerung an eine Zeit zurück, in der seine Eigenliebe schwer verletzt worden war. Er tat sich Gewalt an und lenkte seine Gedanken in eine andere Richtung, doch gelang ihm das nur halb.
Während der stürmischen »Apriltage«, als die Soldaten auf die Straße gingen, um gegen Miljukows imperialistische Note zu protestieren, waren die Kompromißler wie immer damit beschäftigt, an die Regierung flehentliche Bitten und an die Massen besänftigende Versprechungen zu richten. Am Einundzwanzigsten sandte das Zentrale Exekutivkomitee eins seiner Bitt-Telegramme, von Tschcheidse gezeichnet, an Kronstadt und die andern Garnisonen: gewiß, Miljukows bellizistischer Note wird nicht zugestimmt, aber »Verhandlungen zwischen dem Exekutivkomitee und der Provisorischen Regierung haben begonnen, die noch nicht beendet sind« (Verhandlungen solcher Art endeten nie); »das Exekutivkomitee weist euch auf den Schaden hin, den ihm solche verstreut auftauchenden und unorganisierten öffentlichen Kundgebungen zufügen und ersucht euch um Zurückhaltung« usw. In den offiziellen Protokollen stellen wir nicht ohne Überraschung fest, daß der Text des Telegramms von einer aus zwei Versöhnlern und einem Bolschewiken zusammengesetzten Kommission redigiert worden ist – und daß der Bolschewik Stalin war. Eine Episode, die nicht sehr wesentlich – solche finden sich in dieser Zeit nicht –, aber charakteristisch ist. Das Beruhigungstelegramm ist das klassische Modell für jene »Kontrolle«, die einen notwendigen Bestandteil des Mechanismus der Doppelherrschaft bildet. Lenin geißelte mit ganz besonderer Schärfe die mindeste Teilnahme von Bolschewiki an dieser Politik der Ohnmacht. Wenn die Kundgebung der Kronstädter Matrosen unangebracht war, mußte man es ihnen im Namen der Partei und in deren Sprache sagen, aber man durfte keine Verantwortung für die »Verhandlungen« zwischen Tschcheidse und dem Fürsten Lwow auf sich nehmen. Die Versöhnler nahmen Stalin in die Kommission hinein, weil nur die Bolschewiki in Kronstadt über einige Autorität verfügten. Ein Grund mehr, die Teilnahme zu verweigern. Aber Stalin verweigerte die Teilnahme nicht. Drei Tage nach dem Beruhigungstelegramm intervenierte er auf der Parteikonferenz gegen Kamenew und wählte ausgerechnet den Konflikt wegen der Miljukowschen Note als besonders klaren Beweis für die Absurdität der »Kontrolle«. Logische Widersprüche haben diesen Empiriker niemals geschreckt.
Auf der Konferenz der bolschewistischen Militärorganisation im Juni berichtete Stalin, nach den Reden Lenins und Sinowjews über die allgemeine politische Lage, über die »nationale Bewegung und die nationalen Regimenter«. Unter dem Einfluß der erwachenden unterdrückten Nationalitäten hatten Einheiten der aktiven Armee spontan begonnen, sich ihrer Nationalität nach zu formieren: ukrainische, muselmanische, polnische usw. Regimenter waren aufgetaucht. Die Provisorische Regierung hatte den Kampf gegen diese »Desorganisierung der Armee« eröffnet; die Bolschewiki übernahmen auch auf diesem Gebiet die Verteidigung der unterdrückten Nationen. Stalins Bericht ist nicht aufbewahrt worden, doch dürfte er kaum etwas Neues gebracht haben.
Der erste allrussische Sowjetkongreß wurde am 3. Juni eröffnet und dauerte fast drei Wochen. Einige Dutzend aus der Provinz gekommener bolschewistischer Delegierten, die in der Masse der Versöhnler untergingen, bildeten eine wenig einheitliche Gruppe, die noch längst nicht die Mentalität des Monats März abgestreift hatte und die zu dirigieren nicht so einfach war. Eben hierauf bezieht sich die interessante Bemerkung eines uns schon bekannten Volkstümlers, den wir seinerzeit mit Koba zusammen im Gefängnis beobachtet haben. »Ich wollte um jeden Preis Stalins und Swerdlows Rolle in der bolschewistischen Partei kennenlernen«, schrieb Wereschtschak im Jahre 1928. »Während Kamenew, Sinowjew, Nogin und Krylenko am Tisch des Kongreßbüros saßen und Lenin, Sinowjew und Kamenew als Redner auftraten, leiteten Swerdlow und Stalin stillschweigend die bolschewistische Fraktion. Sie waren taktische Kräfte. Hier spürte ich zum erstenmal die ganze Bedeutung dieser Männer.« Wereschtschak hat sich nicht getäuscht. Bei der Vorbereitung der Fraktion auf die Abstimmungen, die sich hinter den Kulissen abspielte, war Stalin von größtem Wert. Er berief sich nicht immer auf grundsätzliche Argumente, aber er hatte die Gabe, die durchschnittlichen, besonders die aus der Provinz stammenden Parteiführer zu überzeugen. Doch auch bei dieser Arbeit nahm Swerdlow als ständiger Vorsitzender der bolschewistischen Kongreßfraktion den ersten Platz ein.
Inzwischen wurde die Armee der »moralischen« Vorbereitung für die Offensive unterworfen, einer Vorbereitung, die sowohl die Massen an der Front als auch im Hinterland nervös machte. Die bolschewistische Fraktion protestierte entschieden gegen das militärische Abenteuer, das eine Katastrophe voraussehen ließ. Die Kongreßmehrheit unterstützte Kerensky. Die Bolschewiki versuchten darauf mit einer Straßenkundgebung zu antworten. Als diese Frage diskutiert wurde, tauchten Meinungsverschiedenheiten auf. Wolodarsky, der Wortführer des Petrograder Komitees, war nicht sicher, daß die Arbeiter auf die Straße gehen würden. Die Vorsitzenden der Militärorganisation behaupteten, daß die Arbeiter nicht ohne Waffen demonstrieren würden. Stalin glaubte, daß »die Gärung unter den Soldaten eine Tatsache ist, bei den Arbeitern aber nicht ganz derselbe Geist herrscht«; doch meinte er, daß es trotzdem notwendig sei, der Regierung Widerstand zu leisten. Schließlich wurde die Kundgebung auf Sonntag, den 10. Juni, festgelegt. Die Kompromißler regten sich auf und untersagten die Kundgebung im Namen des Kongresses. Die Bolschewiki unterwarfen sich. Von dem Eindruck erschreckt, den das Verbot bei den Massen hervorgerufen hatte, setzte der Kongreß jedoch selbst für den 18. Juni eine allgemeine Kundgebung an. Das Ergebnis war überraschend: alle Fabriken und alle Regimenter erschienen mit bolschewistischen Plakaten. Der Autorität des Kongresses war ein nicht wieder gutzumachender Schlag versetzt worden. Die Arbeiter und Soldaten der Hauptstadt spürten ihre Kraft. Zwei Wochen später versuchten sie, sie anzuwenden. So kam es zu den »Julitagen«, dieser wichtigsten Trennungslinie zwischen den zwei Revolutionen.
Am 4. Mai schrieb Stalin in der »Prawda«: »Die Revolution wächst in die Breite und in die Tiefe ... Die Provinz marschiert an der Spitze der Bewegung. In den ersten Revolutionstagen marschierte Petrograd voraus, jetzt fängt es an, sich überholen zu lassen.« Genau zwei Monate später offenbarten die »Julitage«, daß die Provinz weit hinter Petrograd zurück war. Stalin hatte bei seiner Einschätzung der Situation nicht die Massen gesehen, sondern die Organisationen. »Die Sowjets der Hauptstadt«, bemerkte Lenin schon auf der Aprilkonferenz, »sind politisch in stärkerem Maße von der bürgerlichen Zentralregierung abhängig als die Sowjets der Provinz.« Während das Zentrale Exekutivkomitee mit allen Kräften versuchte, die Macht in den Händen der Regierung zu konzentrieren, hatten sich die ihrer Zusammensetzung nach menschewistischen oder Sozialrevolutionären Provinzsowjets oft, sozusagen gegen ihren Willen, selbst der Regierungsgewalt bemächtigt und versuchten sogar, das wirtschaftliche Leben zu regeln. Doch kam die »Rückständigkeit« des hauptstädtischen Sowjets auf das Konto der Tatsache, daß das Petrograder Proletariat schon so weit vorausgegangen war, daß es die kleinbürgerliche Demokratie durch den Radikalismus seiner Forderungen erschreckte. Als im Zentralkomitee die Frage der Julikundgebung erörtert wurde, glaubte Stalin, daß die Arbeiter kaum Lust verspüren würden, sich zu schlagen. Auch diese Behauptung wurde in den Julitagen widerlegt: trotz des Verbots der Kompromißler und sogar trotz der Warnung der bolschewistischen Partei strömte das Proletariat auf die Straßen, Schulter an Schulter mit der Garnison. Beide Irrtümer Stalins sind charakteristisch für ihn: er atmete nicht die Luft der Arbeiterversammlungen, hatte keinen Kontakt mit den Massen und vertraute ihnen nicht. Die Informationen, über die er verfügte, erhielt er durch den Apparat. Doch waren die Massen unvergleichlich revolutionärer als die Partei, die ihrerseits revolutionärer als die Mitglieder ihrer Komitees war. Wie bei anderen Gelegenheiten drückte Stalin auch hier die konservative Tendenz des Parteiapparates aus und nicht die dynamische Kraft der Massen.
Anfang Juli war Petrograd schon vollständig auf Seiten der Bolschewiki. Um den neuen französischen Botschafter mit der Lage in der Hauptstadt bekanntzumachen, zeigte ihm der Journalist Claude Anet auf dem gegenüberliegenden Ufer der Newa die Vorstadt Wyborg, in der sich die größten Fabriken befinden: »Dort drüben, da herrschen Lenin und Trotzky.« Die Regimenter der Garnison waren bolschewistisch oder sympathisierten mit den Bolschewiki. »Wenn Lenin und Trotzky Petrograd nehmen wollen, wer kann sie daran hindern?« Das war eine richtige Einschätzung der Situation. Jedoch war es noch nicht möglich, die Macht zu übernehmen; im Gegensatz zu dem, was Stalin im Mai geschrieben hatte, war die Provinz noch weit hinter der Hauptstadt zurück.
Auf der Petrograder Stadtkonferenz der Bolschewiki am 2. Juli, auf der Stalin das Zentralkomitee vertrat, erschienen zwei sehr erregte Maschinengewehrschützen mit der Erklärung, daß ihr Regiment entschlossen sei, sofort mit der Waffe in der Hand auf die Straße zu gehen. Die Konferenz war gegen diese Manifestation. Im Namen des Zentralkomitees bestätigte Stalin die Entscheidung der Konferenz. Pestkowsky, reuiger Oppositioneller und Mitarbeiter Stalins, beschrieb dreizehn Jahre später die Konferenz: »Hier sah ich Stalin zum erstenmal. Der Raum, in dem die Konferenz abgehalten wurde, hatte nicht alle Teilnehmer aufnehmen können; ein Teil der Anwesenden folgte den Debatten durch die offene Tür hindurch vom Korridor aus. Ich gehörte zu diesem Teil des Publikums und konnte deshalb die Reden nicht sehr gut verstehen ... Stalin sprach im Namen des Zentralkomitees. Da er nicht sehr laut sprach, hörte ich vom Korridor aus nicht viel. Eins aber fiel mir auf: jeder Satz Stalins war scharf und schneidend, was er sagte, zeichnete sich durch die Klarheit der Formulierungen aus ...«
Die Konferenzteilnehmer gingen in ihre Regimenter und Fabriken zurück, um die Massen von Kundgebungen abzuhalten. »Um 5 Uhr«, berichtete Stalin nach den Ereignissen, »auf der Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees, erklärte ich offiziell im Namen des Zentralkomitees und der Konferenz, daß wir beschlossen hatten, nicht auf die Straße zu gehen.« Nichtsdestoweniger begannen die Kundgebungen gegen 6 Uhr. »Hatte die Partei das Recht, die Hände zu ringen ... und beiseite zu bleiben? ... Als die Partei des Proletariats hatten wir die Pflicht, an der Manifestation teilzunehmen und ihr einen friedlichen und organisierten Charakter zu geben, ohne zum Ziel zu haben, mit der Waffe in der Hand die Macht zu ergreifen.« Einige Zeit darauf erklärte Stalin vor dem Parteitag zu den Juliereignissen: »Die Partei wollte die Kundgebungen nicht, die Partei wollte warten, bis die Politik der Offensive an der Front diskreditiert war. Trotzdem fand eine spontane Kundgebung statt, provoziert durch das Chaos im Lande, die Befehle Kerenskys, die Verschickung von Soldaten an die Front.« Das Zentralkomitee beschloß, der Demonstration einen friedlichen Charakter zu verleihen. »Auf die Frage der Soldaten, ob es erwünscht sei, Waffen mitzunehmen, antwortete das Zentralkomitee, daß keine Waffen mitgenommen werden sollten. Die Soldaten sagten aber, daß es unmöglich sei, ohne Waffen auf die Straße zu gehen ... und daß sie die Waffen zur Selbstverteidigung mitnehmen würden.«
An diesem Punkte stoßen wir nun aber auf eine rätselhafte Bekundung Demjan Bjednys. In sehr vorsichtigem Ton erzählte der lorbeergekrönte Dichter im Jahre 1929, wie Stalin in den Räumen der »Prawda« von Kronstadt aus telephonisch angerufen wurde und wie er als Antwort auf die ihm gestellte Frage, ob man mit oder ohne Waffen demonstrieren sollte, sagte: »Gewehre? ... Das wißt ihr doch besser als wir, Genossen! ... Wir Schreiberseelen haben immer unsere Waffen bei uns, Bleistifte ... Was eure Waffen angeht, so wißt ihr das doch selbst am besten!« Die Geschichte ist wahrscheinlich stilisiert, doch fühlt man, daß ein Körnchen Wahrheit in ihr steckt. Stalin neigte im allgemeinen dazu, die Kampfbereitschaft der Arbeiter und Soldaten zu unterschätzen, er war den Massen gegenüber immer mißtrauisch. Doch dort, wo der Kampf einmal losging, sei es auf einem Platz in Tiflis, in einem Gefängnis in Baku oder auf den Straßen Petrograds, tat er immer alles, um ihm einen möglichst scharfen Charakter zu geben. Die Entscheidung des Zentralkomitees? Die konnte man mit einer Parabel vom Bleistift umgehen. Man muß sich aber hüten, diesem Geschichtchen zu große Bedeutung beizumessen. Die Frage ging allem Anschein nach vom Kronstädter Parteikomitee aus. Und die Matrosen hätten auf alle Fälle ihre Waffen mitgenommen.
Ohne bis zum Aufstand zu gehen, überschritten die Julitage doch den Rahmen einer Manifestation. Von Provokateuren abgefeuerte Schüsse zertrümmerten Fensterscheiben und Dächer. Es kam zu bewaffneten Zusammenstößen, die weder überlegt worden waren noch irgendein Ziel verfolgten, aber viele Tote und Verwundete kosteten. Die Peter-und-Pauls-Festung wurde vorübergehend von den Kronstädter Matrosen eingenommen, das Taurische Palais war belagert worden. Die Bolschewiki beherrschten die Straße vollständig, aber sie verzichteten bewußt auf den Aufstand als auf ein Abenteuer. »Am 3. und 4. Juli konnten wir die Macht übernehmen«, sagte Stalin auf der Petrograder Konferenz, »... aber die Front, die Provinz, die Sowjets hätten sich gegen uns gewandt. Ohne Unterstützung der Provinz wäre unsere Regierung eine Regierung ohne Hände und Füße gewesen.« Da ihr ein unmittelbares Ziel fehlte, ging die Bewegung zurück. Die Arbeiter zogen wieder in die Fabriken, die Soldaten in die Kasernen. Blieb die Frage der Peter-und-Pauls-Festung, wo sich die, Kronstädter Matrosen installiert hatten. »Das Zentralkomitee delegierte mich zur Peter-und-Pauls-Festung«, erzählt Stalin, »wo es mir gelang, die anwesenden Matrosen davon zu überzeugen, daß es nicht zweckmäßig war, den Kampf aufzunehmen ... Als Vertreter des Zentralen Exekutivkomitees ... ging ich mit (dem Menschewiken) Bogdanow zu (dem Truppenkommandanten) Kosmin. Er hatte alles für den Kampf vorbereitet. Wir veranlaßten ihn, nicht zu den Waffen zu greifen ... Es war mir klar, daß der rechte Flügel Blut sehen wollte, um den Arbeitern, Soldaten und Matrosen eine ›Lektion‹ zu erteilen. Wir verhinderten die Erfüllung dieses Wunsches.« Eine so heikle Mission erfolgreich zu Ende zu führen, war Stalin nur gegeben, weil er keine den Kompromißlern verhaßte Gestalt war: deren Haß war gegen andere Leute gerichtet. Er wußte außerdem besser als jeder andere, bei solchen Unterhandlungen den Ton des reifen und gemäßigten Bolschewiken anzuschlagen, der Exzesse vermeiden will und zur Versöhnung geneigt ist. Von seinen Ratschlägen an die Matrosen, der Geschichte vom »Bleistift«, hat er sicher nicht gesprochen.
Den Tatsachen zum Trotz bezeichneten die Kompromißler die Julidemonstration als bewaffneten Aufstand und bezichtigten die Bolschewiki der Verschwörung. Als die Bewegung schon vorbei war, trafen reaktionäre Truppen von der Front ein. Die Presse veröffentlichte auf »Dokumenten« des Justizministers Perewerzew beruhende Informationen, nach denen Lenin und seine Mitarbeiter gedungene Agenten des deutschen Generalstabs seien. Nun folgten Tage der Verleumdung, der Verfolgung und Verwirrung. Die Geschäftsräume der »Prawda« wurden demoliert. Die Behörden erließen Haftbefehle gegen Lenin, Sinowjew und andere für den »Aufstand« verantwortliche Bolschewiki. Die Bourgeoisie und die versöhnlerische Presse forderten die Schuldigen in drohendem Tone auf, sich selbst der Justiz zu stellen. Das bolschewistische Zentralkomitee konferierte: sollte sich Lenin den Behörden stellen, um öffentlich gegen die Verleumdung aufzutreten, oder sollte er sich verbergen? An Schwankungen, unvermeidlich bei einem so brüsken Umschwung der Situation, fehlte es nicht. Der Streitpunkt war, ob die Angelegenheit bis zur Einleitung eines öffentlichen Gerichtsverfahrens gehen würde. In der Sowjetliteratur nimmt die Frage, wer Lenin »rettete« und wer ihn »vernichten« wollte, keinen geringen Platz ein. Demjan Bjedny hat früher einmal erzählt, wie er im Automobil zu Lenin eilte, um ihm zuzureden, nicht Jesus Christus zu imitieren, »der sich seinen Feinden selbst in die Hand gegeben hatte«. Bontsch-Brujewitsch, ehemals hoher Beamter im Volkskommissariat für Auswärtiges, widerspricht seinem Freunde völlig, wenn er in der Presse angibt, daß Demjan Bjedny den kritischen Moment in seiner Villa in Finnland verbracht habe. Die höchst bedeutsame Angabe, die Ehre, Lenin überzeugt zu haben, »käme anderen Genossen zu«, zeigt klar, daß Bontsch-Brujewitsch gezwungen war, seinem nächsten Freund Verdruß zu bereiten, um eine einflußreiche Persönlichkeit zufriedenzustellen.
»Am Siebenten besuchte ich zusammen mit Maria Iljinitschna (Lenins Schwester) Iljitsch in der Wohnung der Allilujews«, berichtet die Krupskaja in ihren Erinnerungen. »Das war gerade in dem Augenblick, wo Iljitsch zögerte. Er brachte Argumente vor, die dartun sollten, daß er vor Gericht erscheinen müsse. Maria Iljinitschna widersprach heftig. ›Gregori (Sinowjew) und ich haben beschlossen zu erscheinen, geh und sag es Kamenew‹, sagte Iljitsch zu mir. Ich wollte gehen. ›Sagen wir uns Adieu‹, hielt mich Iljitsch zurück, ›vielleicht sehen wir uns nicht wieder.‹ Wir umarmten uns. Ich ging zu Kamenew und richtete ihm Wladimir Iljitschs Botschaft aus. Am Abend überzeugten Stalin und andere Iljitsch davon, daß es sinnlos war, vor Gericht zu erscheinen, und retteten ihm so das Leben.«
Vor der Krupskaja hatte Ordschonikidse diese fieberhaften Stunden mehr ins einzelne gehend beschrieben: »Eine wütende Verfolgung unserer Führer setzte ein. Einige unserer Genossen waren der Meinung, daß Lenin sich nicht verstecken konnte, sondern erscheinen mußte... Das war die Auffassung zahlreicher bekannter Bolschewiki. Ich traf Stalin im Taurischen Palais. Zusammen suchten wir Lenin auf ...« Was hier zuerst ins Auge springt, ist, daß sich in den Stunden der »wütenden Verfolgung unserer Führer« Ordschonikidse und Stalin ruhig im Taurischen Palais treffen, dem Hauptquartier des Feindes, und es anstandslos wieder verlassen können. In Allilujews Wohnung beginnt dieselbe Diskussion: sich stellen oder sich verstecken? Lenin vermutete, daß es nicht zu einer öffentlichen Verhandlung kommen würde. Kategorischer als irgendein anderer trat Stalin dagegen auf, daß Lenin sich stellen solle: »Die Junker (Offiziersschüler) werden Sie nicht bis zum Gefängnis gehen lassen, sie werden Sie auf dem Wege dahin umbringen.« In diesem Augenblick erschien die Stassowa, die von dem neuen Gerücht erzählte, nach dem die Dokumente der Geheimpolizei erwiesen, daß Lenin ein Provokateur sei. »Diese Worte machten auf Iljitsch ungeheuren Eindruck. Ein nervöses Zucken lief über sein Gesicht, und er erklärte mit der größten Entschiedenheit, daß er ins Gefängnis gehen müsse.« Ordschonikidse und Nogin werden ins Taurische Palais geschickt, um von den führenden Parteien die Versicherung zu erhalten, »daß Lenin nicht von den Junkern gelyncht werden würde«. Aber die erschrockenen Menschewiki suchten für sich selbst Schutz. Stalin erklärte in einem Bericht auf der Petrograder Konferenz: »Ich richtete die Frage persönlich an Liber und Anissimow (Menschewiki, Mitglieder des Zentralen Exekutivkomitees), und sie antworteten mir, daß sie keine Garantien geben könnten.« Nachdem so die Fühler ins feindliche Lager ausgestreckt worden waren, wurde beschlossen, daß Lenin Petersburg verlassen und sich in ein sicheres Versteck begeben solle. »Stalin übernahm die Organisierung von Lenins Abreise.«
Wie sehr diejenigen recht gehabt hatten, die dagegen waren, daß Lenin sich den Behörden stelle, ging später aus dem Bericht des Armeekommandeurs Polowtsew hervor: »Der Offizier, der nach Terioki (in Finnland) fuhr, in der Hoffnung, Lenin noch zu erwischen, fragte mich, ob ich diesen Herrn ganz oder in Stücken wünsche... Ich antwortete ihm lächelnd, daß verhaftete Leute manchmal zu fliehen versuchten.« Für die Organisatoren der Justizkomödie hätte es sich nicht darum gehandelt, »Recht« zu sprechen, sondern Lenins habhaft zu werden und ihn zu töten, wie zwei Jahre später in Deutschland Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg getötet wurden. Die Vorstellung, daß es unvermeidlicherweise zu einer Hinrichtung ohne Gerichtsverfahren kommen würde, stak in Stalins Kopf fester als in den Köpfen der anderen: ein solcher Ausgang stimmte mit seiner eigenen Denkungsart überein. Außerdem kümmerte es ihn recht wenig, was die »öffentliche Meinung« sagen möge. Andere, darunter Lenin und Sinowjew, zögerten. Nogin und Lunatscharsky waren zuerst dafür, daß sich Lenin freiwillig stelle, änderten aber im Laufe des Tages ihre Meinung. Stalins Haltung war entschiedener als die aller anderen und stellte sich als richtig heraus.
Sehen wir nun zu, was die moderne sowjetische Geschichtsschreibung aus dieser dramatischen Episode gemacht hat. »Die Menschewiki, die Sozialrevolutionäre und Trotzky, der später ein faschistischer Bandit wurde«, schreibt eine offizielle Veröffentlichung von 1938, »verlangten, daß Lenin freiwillig vor Gericht erscheine. Die faschistischen Söldlinge Kamenew und Rykow, die heute als Volksfeinde entlarvt worden sind, waren dafür, daß Lenin sich freiwillig stelle. Stalin setzte ihnen lebhaften Widerstand entgegen« usw. In Wirklichkeit habe ich persönlich an den Konferenzen nicht teilgenommen, ich war in jenen Stunden selbst gezwungen, mich zu verbergen. Am 10. Juli sandte ich der menschewistischen und Sozialrevolutionären Regierung ein Schreiben, in dem ich meine völlige Solidarität mit Lenin, Sinowjew und Kamenew erklärte; am 22. Juli wurde ich verhaftet. In einem Brief an die Petersburger Konferenz hielt es Lenin für erforderlich, besonders zu bemerken, »daß sich Trotzky in den schwierigen Julitagen der Situation gewachsen gezeigt hat«. Stalin wurde nicht verhaftet und wurde nicht einmal der Form nach in die Angelegenheit verwickelt: er existierte politisch weder für die Behörden, noch für die öffentliche Meinung. In der Kampagne gegen Lenin, Sinowjew, Kamenew und Trotzky wurde sein Name in der Presse kaum je genannt, obwohl er Chefredakteur der »Prawda« war und seine Artikel mit seinem Namen zeichnete. Diese Artikel waren niemandem aufgefallen, und niemand interessierte sich für ihren Verfasser.
Lenin versteckte sich zuerst in der Wohnung Allilujews, dann ging er nach Sestroretsk zu dem Arbeiter Jemeljanow, zu dem er absolutes Vertrauen hatte und von dem er in einem seiner Artikel, ohne ihn bei Namen zu nennen, mit höchster Achtung spricht. »Als Wladimir Iljitsch nach Sestroretsk abfuhr«, erzählt Allilujew, »am Abend des 11. Juli, begleiteten ihn Stalin und ich bis zum Sestroretsker Bahnhof. Während seines Aufenthalts in einer Baracke in Rasliw und später in Finnland sandte Wladimir Iljitsch durch meine Vermittlung von Zeit zu Zeit Nachrichten an Stalin; man brachte sie mir in meine Wohnung, und da sofort darauf geantwortet werden mußte, zog Stalin im August zu mir ... und richtete sich in dem Zimmer ein, in dem sich Wladimir Iljitsch in den Julitagen versteckt gehalten hatte.« Damals hat Stalin anscheinend seine zukünftige Frau, Allilujews Tochter Nadeschda, kennengelernt, um jene Zeit noch ein ganz junges Mädchen. Ein anderer alter bolschewistischer Arbeiter, Rachia mit Namen, ein russifizierter Finne, berichtete später in der Presse, wie Lenin ihm einmal auftrug, »Stalin am nächsten Abend mitzubringen ... Ich sollte Stalin auf der Redaktion der ›Prawda‹ treffen... Sie hatten eine lange Unterhaltung, Wladimir Iljitsch fragte nach allen Einzelheiten«. Neben der Krupskaja war Stalin in dieser Zeit ein wichtiges Verbindungsglied zwischen dem Zentralkomitee und Lenin, der in ihn als einen umsichtigen Konspirator völliges Vertrauen hatte. Es waren übrigens die Umstände, die Stalin ganz natürlicherweise in diese Rolle drängten: Sinowjew hielt sich versteckt, Kamenew und Trotzky waren im Gefängnis, Swerdlow hatte die ganze organisatorische Arbeit zu besorgen; auch hatte Stalin mehr Bewegungsfreiheit als die anderen, weil er weniger von der Polizei beobachtet wurde.
In der Periode der Reaktion, die den Julitagen folgte, wurde Stalins Rolle weit bedeutender. Der uns schon bekannte Pestkowsky schreibt in den Memoiren, die er zu seiner Rechtfertigung abfaßte, über Stalins Tätigkeit im Sommer 1917: »Die breiten Arbeitermassen von Petrograd kannten Stalin damals wenig. Er haschte nicht nach Popularität. Rednerische Begabung fehlte ihm und er vermied es, auf Versammlungen zu erscheinen. Aber keine Parteikonferenz, keine wichtige Zusammenkunft wegen Organisationsfragen wurde abgehalten ohne eine politische Ansprache Stalins. Deshalb kannten ihn auch die Parteiarbeiter gut. Unter den bolschewistischen Kandidaten für die Petrograder verfassunggebende Versammlung stand Stalin auf die Initiative von Parteiarbeitern hin auf einem der ersten Plätze.« Stalins Name stand auf der Petrograder Liste an sechster Stelle ... 1930 hielt man es noch für nötig, Stalins mangelnde Popularität mit dem Fehlen des »Rednertalents« zu erklären. Heute würde so ein Satz absolut unmöglich sein. Stalin ist zum Idol der Petrograder Arbeiter und zum klassischen Vertreter der Redekunst erklärt worden. In Wirklichkeit hat Stalin, ohne vor den Massen zu erscheinen, mit Swerdlow im Juli und August eine Arbeit von schwerster Verantwortung geleistet: im Apparat, auf den Zusammenkünften und Konferenzen, bei der Zusammenarbeit mit dem Petrograder Komitee usf.
Über die Leitung der Partei in jener Periode schrieb Lunatscharsky 1923: »Vor den Julitagen war Swerdlow sozusagen bolschewistischer Generalstabschef, der zusammen mit Lenin, Sinowjew und Stalin die ganze leitende Arbeit machte. In den Julitagen trat er in die vorderste Front.« Das war richtig. Inmitten der grausamen Schläge, die auf die Partei herniederprasselten, bewegte sich der dunkle kleine Mann mit dem Kneifer, als geschehe nichts Besonderes: wie immer teilte er für jeden die Arbeiten ein, sprach Mut zu, wem Mut zugesprochen werden mußte, gab Ratschläge und, wenn nötig, Befehle. Er war der eigentliche »Generalsekretär« des Revolutionsjahres, obwohl er nicht diesen Titel trug. Aber er war der Sekretär einer Partei, deren unangefochtener politischer Führer, Lenin, in der Illegalität bleiben mußte. Lenin schickte von Finnland aus Artikel, Briefe und Resolutionsentwürfe über alle grundlegenden politischen Fragen. Obwohl ihn die Entfernung manchmal zu taktischen Irrtümern verleitete, erlaubte sie ihm doch, die Strategie der Partei mit um so größerer Sicherheit zu bestimmen. Die tägliche Leitung lag bei Swerdlow und Stalin, den einflußreichsten der in Freiheit gebliebenen Mitglieder des Zentralkomitees. In der Zwischenzeit war die Massenbewegung beträchtlich schwächer geworden. Die Partei befand sich halb und halb in der Illegalität. Das spezifische Gewicht des Apparates war entsprechend gestiegen. Im Innern des Apparats war Stalins Rolle automatisch größer geworden. Dieses Gesetz zieht sich durch seine ganze politische Biographie hindurch und bildet sozusagen deren eigentliche Triebfeder.
Die Juliniederlage war eine direkte Niederlage der Petrograder Arbeiter und Soldaten, deren Erhebung letzten Endes daran scheiterte, daß die Provinz im Verhältnis zurückgeblieben war. Das ist der Grund dafür, daß die Niederlagenstimmung unter den Massen der Hauptstadt tiefer ging als woanders, doch dauerte sie nur wenige Wochen an. Am 20. Juli setzte die öffentliche Agitation wieder ein, und zwar mit dem Auftreten dreier mutiger Revolutionäre in kleineren Versammlungen verschiedener Stadtteile: Slutzky, der später von den Weißgardisten in der Krim erschossen wurde, Wolodarsky, den die Sozialrevolutionäre in Petrograd umbrachten und Jewdokimow, den Stalin im Jahre 1936 erschießen ließ. Nachdem sie hier und da einige zufällige Weggenossen verloren hatte, begann die Partei gegen Ende des Monats von neuem zu wachsen.
Am 21. und 22. Juli wurde in Petrograd eine Konferenz von außerordentlicher Wichtigkeit abgehalten, die nicht zur Kenntnis der Behörden und der Presse gelangte. Nach dem tragischen Fehlschlag der abenteuerlichen militärischen Offensive kamen die Delegierten der Soldaten immer häufiger in die Hauptstadt, um gegen die Fortsetzung des Krieges und gegen die Erstickung der freiheitlichen Errungenschaften in der Armee zu protestieren. Auf dem Zentralen Exekutivkomitee empfing man sie nicht; die Kompromißler wußten nicht, was sie ihnen antworten sollten. In den Vorzimmern und Wartesälen lernten die Frontdelegierten einander kennen und tauschten in rauher Soldatensprache ihre Eindrücke über die hohen Herren vom Exekutivkomitee aus. Die Bolschewiki, die überall einzudringen verstanden, rieten den enttäuschten und erzürnten Delegierten zu einem Meinungsaustausch mit den Arbeitern, Soldaten und Matrosen der Hauptstadt. An der Konferenz, die sich so ergab, nahmen Vertreter teil von neunundzwanzig Frontregimentern, neunzig Petersburger Fabriken sowie Vertreter der Matrosen von Kronstadt und den Garnisonen der Umgebung. Die Frontdelegierten sprachen von der sinnlosen Offensive, dem Hinschlachten, der Zusammenarbeit der versöhnlerischen Kommissare mit den reaktionären Offizieren, die von neuem das Haupt erhoben. Obwohl scheinbar die Mehrheit an der Front sich weiterhin als Sozialrevolutionäre betrachtete, wurde die scharf gefaßte bolschewistische Resolution einstimmig angenommen. Von Petrograd aus kehrten die Delegierten als unersetzbare Agitatoren für die Arbeiter- und Bauernrevolution in die Schützengräben zurück. Bei der Organisierung dieser bemerkenswerten Konferenz spielten Swerdlow und Stalin anscheinend eine führende Rolle.
Die Petrograder Konferenz, die vergeblich versucht hatte, die Massen von den Demonstrationen abzuhalten, schleppte sich mit einer längeren Unterbrechung bis zur Nacht des 20. Juli hin. Der Gang ihrer Arbeiten wirft ein recht klares Licht auf die Rolle und den Platz Stalins in der Partei. Die Organisationsfragen wurden im Namen des Zentralkomitees von Swerdlow erledigt, aber auf dem Gebiete der Theorie und der großen politischen Probleme überließ er anderen den Platz, ohne Prätentionen und ohne falsche Bescheidenheit. Das Hauptthema der Konferenz war die Einschätzung der politischen Situation, so wie sie sich nach der Juliniederlage herausgebildet hatte. Wolodarsky, leitendes Mitglied des Petrograder Komitees, erklärte gleich zu Anfang: »Im gegenwärtigen Augenblick kann nur Sinowjew Berichterstatter sein ... Gern würde man Lenin hören ...« Keiner erwähnte den Namen Stalin. Aber die Konferenz, durch die Massenbewegung unterbrochen, tagte erst am 16. Juli wieder von neuem. Lenin und Sinowjew verbargen sich, und der politische Hauptbericht fiel an Stalin, der als Sinowjews Vertreter sprach. »Für mich ist es klar«, sagte er, »daß uns die Konterrevolution im gegenwärtigen Augenblick besiegt hat. Wir sind isoliert und werden von den Menschewiki und Sozialrevolutionären verraten und verleumdet ...« Der Sieg der bürgerlichen Konterrevolution bildete den Ausgangspunkt des Redners. Doch war das kein gesicherter Sieg; solange der wirtschaftliche Stillstand nicht überwunden ist, solange die Bauern kein Land bekommen, »werden Krisen unvermeidlich sein, die Massen werden öfter als einmal auf die Straße gehen, es wird zu immer entscheidenderen Kämpfen kommen. Die friedliche Periode der Revolution ist zu Ende ...« Infolgedessen hatte die Losung »Alle Macht den Sowjets« nunmehr jeden realen Inhalt verloren. Die Sowjets waren in den Händen der Versöhnler und halfen der bürgerlichen militärischen Konterrevolution, die Bolschewiki niederzumachen und die Arbeiter und Soldaten zu entwaffnen und verzichteten so selbst auf jede wirkliche Macht. Eben noch hätten sie die Provisorische Regierung durch ein einfaches Dekret ausschalten können; innerhalb der Sowjets hätten die Bolschewiki durch einfache Neuwahlen die Vorherrschaft gewinnen können. Das war jetzt unmöglich geworden. Mit Hilfe der Versöhnler hatte sich die Konterrevolution bewaffnet. Jetzt tarnte sich die Konterrevolution mit den Sowjets selbst. Es wäre lächerlich, für diese Sowjets die Macht zu erlangen. »Nicht die Institution ist entscheidend, sondern welche Klassenpolitik diese Institution verfolgt, ist entscheidend.« Von friedlicher Machteroberung kann keine Rede sein. Es bleibt nichts anderes mehr übrig, als sich auf den bewaffneten Aufstand vorzubereiten, der möglich werden wird, wenn die unteren Schichten des Dorfes und mit ihnen die Front zu den Arbeitern übergehen. Dieser kühnen strategischen Perspektive entsprachen die sehr vorsichtigen taktischen Direktiven für die unmittelbar bevorstehende Zeit. »Unsere Aufgabe ist es, unsere Kräfte zu sammeln, die existierenden Organisationen zu festigen und die Massen zu hindern, zu einer verfrühten Offensive zu schreiten ... Das ist die taktische Generallinie des Zentralkomitees.«
Obwohl in äußerst dürftige Form gefaßt, enthielt der Bericht doch eine scharfsinnige Einschätzung der Situation, wie sie sich in den letzten Tagen ergeben hatte. Die Debatten fügten dem, was der Berichterstatter gesagt hatte, nur wenig hinzu. Die Herausgeber der Konferenzprotokolle kommentierten den Bericht im Jahre 1927 wie folgt: »Die grundlegenden Vorschläge dieses Berichts waren im Einverständnis mit Lenin gemacht worden und hielten sich an Lenins Artikel ›Drei Krisen‹, der noch nicht veröffentlicht worden war.« Außerdem wußten die Delegierten wahrscheinlich von der Krupskaja, daß Lenin für den Berichterstatter besondere Thesen geschrieben hatte. »Eine Gruppe der Konferenzteilnehmer«, heißt es im Protokoll, »verlangte, daß Lenins Thesen der Konferenz mitgeteilt würden. Stalin erklärte, daß er sie nicht bei sich habe ...« Das Verlangen der Delegierten ist leicht verständlich; der Wechsel in der Orientierung war so gründlich, daß sie Lenins Stimme selbst hören wollten. Im Gegensatz dazu ist Stalins Antwort unverständlich: wenn er die Thesen einfach zu Hause vergessen hatte, hätten sie zur nächsten Sitzung beigebracht werden können. Sie wurden jedoch nie vorgelegt. So entsteht der Eindruck, daß sie der Konferenz nicht zu Gesicht kommen sollten. Noch erstaunlicher ist, daß die »Julithesen« zum Unterschied von allen anderen von Lenin in der Illegalität verfaßten Dokumenten auch später nie veröffentlicht worden sind. Da Stalin das einzige Exemplar besaß, bleibt zu vermuten, daß er es verloren hat. Er selbst jedoch erzählt von keinem Verlust. Die Herausgeber der Konferenzprotokolle äußern die Vermutung, daß die Thesen von Lenin im Geiste seiner Artikel »Drei Krisen« und »Über die Losungen« geschrieben worden sind, die vor der Konferenz verfaßt worden waren, aber erst nach dieser in Kronstadt veröffentlicht wurden, wo die Pressefreiheit aufrechterhalten geblieben war. Ein Vergleich der Texte zeigt in der Tat, daß Stalins Bericht nur eine einfache Wiedergabe der beiden Artikel war, ohne daß er ein einziges von ihm selbst stammendes Wort hinzugefügt hatte. Stalin hatte die Artikel nicht selbst gelesen und ahnte auch nichts von ihrer Existenz, er stützte sich auf die Thesen, die mit den Artikeln hinsichtlich des Ideengangs übereinstimmten. Dieser Umstand erklärt recht gut, warum der Berichterstatter »vergaß«, der Konferenz Lenins Thesen mitzubringen und warum das Dokument nicht aufbewahrt wurde. Stalins Charakter macht diese Hypothese nicht nur zulässig, sondern drängt sie auf.
Im Vorstand der Konferenz, in dem es anscheinend zu heftigen Kämpfen kam, gewann Wolodarsky die Mehrheit, der sich anzuerkennen weigerte, daß die Konterrevolution im Juli einen vollständigen Sieg davongetragen habe. Stalin verlangte nicht, daß er ein Gegenreferat halten könne, und nahm an den Diskussionen nicht teil. Unter den Delegierten herrschte Verwirrung. Wolodarskys Resolution wurde schließlich mit den Stimmen von achtundzwanzig Delegierten gegen drei und bei achtundzwanzig Stimmenthaltungen angenommen. Die Gruppe der Wyborger Delegierten begründete ihre Stimmenthaltung mit der Erklärung, daß »Lenins Thesen nicht veröffentlicht worden sind und der Berichterstatter seine Resolution nicht verteidigt hat«. Die Anspielung auf eine unzulässige Verheimlichung der Thesen war klar. Stalin schwieg. Er erlitt eine doppelte Niederlage: er rief dadurch Unzufriedenheit hervor, daß er die Thesen versteckt hielt, und verstand es nicht, eine Mehrheit für sie zusammenzubekommen.
Was Wolodarsky betrifft, so wollte er im Grunde weiterhin das bolschewistische Schema von der Revolution des Jahres 1905 aufrechterhalten: erst die demokratische Diktatur, dann der unvermeidliche Bruch mit der Bauernschaft und, im Falle eines Sieges des Proletariats im Westen, der Kampf für die sozialistische Diktatur. Stalin, unterstützt von Molotow und einigen anderen, verteidigte Lenins neue Konzeption: nur die Diktatur des Proletariats, auf die ärmsten Bauern gestützt, sichert die Erfüllung der Aufgaben der demokratischen Revolution und eröffnet gleichzeitig die Ära der sozialistischen gesellschaftlichen Veränderungen. Stalin hatte recht gegen Wolodarsky, wußte das aber nicht zu beweisen. Andererseits, indem er sich weigerte anzuerkennen, daß die bürgerliche Konterrevolution einen vollständigen Sieg davongetragen habe, befand sich Wolodarsky im Recht gegen Stalin und Lenin. Wir werden diesem Disput einige Tage später auf dem Parteitag von neuem begegnen. Die Konferenz endete mit der Annahme eines von Stalin verfaßten Aufrufs: »An alle Arbeiter!«, in dem es unter anderem heißt: »Die käuflichen Mietlinge und feigen Verleumder wagen es offen, die Führer unserer Partei des ›Verrats‹ anzuklagen. Niemals sind die Namen unserer Führer der Arbeiterklasse so teuer gewesen wie jetzt in diesem Augenblick, wo die schamlose bürgerliche Kanaille sie mit Schmutz bedeckt!« Außer Lenin waren die Hauptopfer der Verleumdung Sinowjew, Kamenew und Trotzky. Es war ihr Name, der Stalin besonders teuer war, als die »bürgerliche Kanaille« sie mit Schmutz bedeckte.
Die Petrograder Konferenz stellte sozusagen eine Generalprobe des Parteitages dar, der am 26. Juli eröffnet wurde. In diesem Augenblick waren fast alle Petrograder Stadtteilsowjets in den Händen der Bolschewiki. In den Fabrikkomitees sowohl als in den Gewerkschaftsleitungen war der bolschewistische Einfluß vorherrschend geworden. Die organisatorische Vorbereitung des Parteitags war in Swerdlows Händen konzentriert. Die politische Vorbereitung aber leitete Lenin von seinem Versteck aus. In Briefen an das Zentralkomitee und an die bolschewistischen Presseorgane, die wieder zu erscheinen begonnen hatten, beleuchtete er die verschiedenen Aspekte der politischen Lage. Er war es, der die Hauptresolutionen des Parteitags skizziert und der darüber hinaus in geheimen Zusammenkünften die anzuwendenden Argumente im vorhinein sorgfältig mit den Referenten durchgesprochen hatte.
Der Parteitag wurde unter der Bezeichnung »Vereinigungsparteitag« einberufen, da auf ihm der Eintritt der Petersburger »Meschrajonnaja« (»Interdistrikts-Organisation«) in die Partei vollzogen werden sollte, der Joffe, Uritzky, Rjasanow, Lunatscharsky, Pokrowsky, Manuilski, Jurenew, Karachan, Trotzky und andere Revolutionäre angehörten, die alle in der einen oder anderen Weise in die Geschichte der Sowjetrevolution eingegangen sind. »In den Kriegsjahren«, heißt es in einer Anmerkung zu Lenins »Sämtlichen Werken«, »standen die ›Meschrajonzy‹ (›Interdistriktler‹) dem Petrograder bolschewistischen Komitee nahe.« Dieser Organisation gehörten zur Zeit des Kongresses ungefähr viertausend Arbeiter an.
Als über den Parteitag, der halblegal in zwei verschiedenen Arbeitervierteln stattfand, Informationen in die Presse gelangten, sprach man in Regierungskreisen davon, den Kongreß aufzulösen; als es sich jedoch darum handelte, eine Entscheidung zu treffen, dünkte es Kerensky besser, seine Nase nicht in die Angelegenheiten der Wyborger Vorstadt zu stecken. Dem großen Publikum blieben die Veranstalter des Kongresses unbekannt. Unter den bolschewistischen Kongreßteilnehmern waren Swerdlow, Bucharin, Stalin, Molotow, Woroschilow, Ordschonikidse, Jurenew, Manuilski ... Im Präsidium saßen Swerdlow, Olminski, Lomow, Jurenew und Stalin. Auch dann, wenn die prominentesten Bolschewiki nicht anwesend waren, figurierte Stalins Name immer an letzter Stelle. Der Parteitag beschloß, an »Lenin, Trotzky, Sinowjew, Lunatscharsky, Kamenew, die Kollantai und an alle anderen verhafteten und verfolgten Genossen« Grüße zu senden. Die zuletzt Genannten wurden ins Ehrenpräsidium gewählt; in der Ausgabe von 1938 wird nur Lenins Wahl erwähnt ...
Swerdlow berichtete über die organisatorische Arbeit des Zentralkomitees. Seit der Aprilkonferenz war die Mitgliederzahl der Partei von 80 000 auf 240 000 gestiegen, das heißt, sie hatte sich verdreifacht. Unter Berücksichtigung der Schläge der Julizeit war das ein gesundes Wachstum. Erstaunlich bleibt, wie unbedeutend die Auflageziffer der gesamten bolschewistischen Presse war: 320 000 Exemplare für ein so riesiges Land. Aber das revolutionäre Element ist ein guter Stromleiter: die bolschewistischen Ideen bahnten sich ihren Weg in das Bewußtsein von Millionen Menschen.
Stalin wiederholte zwei seiner Berichte, den über die politische Tätigkeit des Zentralkomitees und den über die herrschende Situation. Zu den Gemeindewahlen, bei denen die Bolschewiki in der Hauptstadt zwanzig Prozent der Stimmen erhalten hatten, erklärte Stalin: »Das Zentralkomitee ... riß alle seine Kräfte zusammen, um sowohl die Kadetten zu bekämpfen, die die Hauptkraft der Konterrevolution darstellen, als auch die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die den Kadetten freiwillig oder unfreiwillig folgen.« Es war viel Wasser den Berg hinuntergeflossen seit der Märzkonferenz, auf der Stalin die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre zur »revolutionären Demokratie« gezählt und den Kadetten die Mission anvertraut hatte, die Errungenschaften der Revolution zu »konsolidieren«.
Im Widerspruch zu aller Tradition wurden die Fragen des Krieges, des Sozialpatriotismus, des Zusammenbruchs der Zweiten Internationale und der Strömungen in der sozialistischen Weltbewegung nicht im politischen Referat behandelt, sondern Bucharin anvertraut – Stalin war auf dem Gebiet der internationalen Fragen einfach verloren. Bucharin wies nach, daß die Kampagne für den Frieden mittels eines »Drucks« auf die Provisorische Regierung und die anderen Entente-Regierungen vollständig Bankerott gemacht hatte und daß nur der Sturz der Provisorischen Regierung eine demokratische Beendigung des Krieges in nahe Aussicht stellen konnte. Gleich nach Bucharin sprach Stalin über die Aufgaben der Partei. Es wurde zu gleicher Zeit über beide Berichte diskutiert, obwohl sich herausstellte, daß die Ansichten der beiden Redner nicht vollständig miteinander übereinstimmten.
»Einige Genossen behaupten«, erklärte Stalin, »daß es utopisch sei, die Frage der sozialistischen Revolution zu stellen, weil der Kapitalismus bei uns schwach entwickelt ist. Sie würden recht haben, wenn es keinen Krieg gäbe, wenn es keine Desorganisation gäbe, wenn die Grundlagen der Volkswirtschaft nicht erschüttert wären, aber heute stellt sich die Frage des Eingriffs auf wirtschaftlichem Gebiet in allen Ländern als dringlichste Frage ...« Außerdem »hat das Proletariat nirgends so breite Organisationen wie die Sowjets ... All das schließt die Möglichkeit aus, daß die Arbeitermassen nicht in das ökonomische Leben eingreifen. Hier liegt die wirkliche Begründung dafür, daß die Frage der sozialistischen Revolution bei uns in Rußland gestellt werden kann«.
Erstaunen macht die offenbare Ungereimtheit des Hauptargumentes: wenn die schwache Entwicklung des Kapitalismus das Programm der sozialistischen Revolution zu einer Utopie macht, dann können uns die durch den Krieg hervorgerufenen Zerstörungen der Ära des Sozialismus nicht näher bringen, sondern müssen uns im Gegenteil von ihr entfernen. In Wirklichkeit wurde die Tendenz für die Umwandlung der demokratischen Revolution in die sozialistische Revolution nicht durch die Zerstörung der Produktivkräfte im Kriege hervorgerufen, sondern lag in der sozialen Struktur des russischen Kapitalismus begründet. Diese Entdeckung konnte vor dem Kriege und unabhängig vom Kriege gemacht werden – und sie wurde es. Gewiß, der Krieg beschleunigte die revolutionäre Entwicklung der Massen unendlich, veränderte aber keineswegs den sozialen Inhalt der Revolution. Gesagt muß übrigens werden, daß Stalin sein Argument vereinzelten und nicht weiter entwickelten Bemerkungen Lenins entnahm, die dazu bestimmt gewesen waren, den alten Kadern die Notwendigkeit einer Umrüstung der Partei klarzumachen.
Bucharin versuchte in der Diskussion, das alte bolschewistische Schema teilweise zu verteidigen: in der ersten Revolution marschierte das russische Proletariat Hand in Hand mit der Bauernschaft im Namen der Demokratie, in der zweiten Revolution Hand in Hand mit dem europäischen Proletariat im Namen des Sozialismus. »Worin besteht Bucharins Perspektive?« erwiderte Stalin. »Seiner Meinung nach marschierten wir in der ersten Etappe in die Bauernrevolution. Aber sie kann nicht anders ... als mit der Arbeiterrevolution zusammenfallen. Es ist unmöglich, daß die Arbeiterklasse, die die Vorhut der Revolution bildet, nicht zu gleicher Zeit für ihre eigenen Forderungen kämpft. Darum halte ich Bucharins Schema für schlecht durchdacht.« Das war durchaus richtig. Die Bauernrevolution konnte nur siegen, indem sie das Proletariat an die Macht brachte. Das Proletariat konnte sich nicht an der Macht halten, ohne die sozialistische Revolution einzuleiten. Stalin wandte gegen Bucharin die Argumente an, die zum erstenmal Anfang 1905 dargelegt und bis zum April 1917 als »utopisch« abgetan worden waren. Wenige Jahre später aber hatte Stalin diese von ihm auf dem Sechsten Parteitag benützten Argumente vergessen und verhalf zusammen mit Bucharin der Formel von der »demokratischen Diktatur« zur Wiederauferstehung, einer Formel, die im Programm der Kommunistischen Internationale einen breiten Platz einnehmen und in den Revolutionsbewegungen Chinas und anderer Länder eine verhängnisvolle Rolle spielen sollte.
Die Hauptaufgabe des Parteitags war, die Losung von der friedlichen Übernahme der Macht durch die Sowjets durch die der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes zu ersetzen. Hierzu war vor allem Verständnis für den Umschwung erforderlich, der sich im Kräfteverhältnis ergeben hatte. Die allgemeine Richtung dieses Umschwungs war klar: vom Volk zur Bourgeoisie. Bedeutend schwieriger aber war es, das Ausmaß des Umschwungs zu überschauen: das neue Kräfteverhältnis konnte nur an einem neuen bewaffneten Zusammenstoß der Klassen gemessen werden. Zu einer solchen Prüfung wurde die Revolte des Generals Kornilow Ende August, bei der sich mit einem Schlage herausstellte, daß die Bourgeoisie noch immer nicht weder über die Unterstützung durch das Volk noch über die durch die Armee verfügte. Der im Juli vor sich gegangene Umschwung hatte also nur oberflächlichen und vorübergehenden Charakter, er war nichtsdestoweniger Tatsache: es war infolgedessen unsinnig von einem friedlichen Übergang der Macht an die Sowjets zu sprechen. Was Lenin bei der Festlegung des neuen Kurses vor allem beschäftigte, war, die Partei fähig zu machen, den veränderten Verhältnissen mit der größtmöglichen Entschlossenheit gegenüberzutreten. In gewissem Sinne griff er zu einer mutwilligen Übertreibung: es ist gefährlicher, die Kräfte des Feindes zu unterschätzen, als sie zu überschätzen. Es war die Übertreibung in der Einschätzung, die den Parteitag, wie seinerzeit die Petersburger Konferenz, aufscheuchte – um so mehr, als Stalin Lenins Ideen in versimpelter Weise wiedergab.
»Die Situation ist klar«, sagte Stalin, »heute spricht niemand mehr von Doppelherrschaft. Früher waren die Sowjets eine wirkliche Kraft, jetzt sind sie nur noch die Organe für den Zusammenschluß der Massen, aber sie haben keine Macht mehr.« Einige Delegierte wiesen mit Recht darauf hin, daß die Reaktion im Juli zwar vorübergehend triumphiert, die Konterrevolution aber nicht gesiegt hatte und die Doppelherrschaft noch nicht zugunsten der Bourgeoisie aufgehoben war. Hierauf wußte Stalin nur mit einem Axiom zu antworten: »Während einer Revolution gibt es keine Reaktion.« In Wirklichkeit besteht die Kreisbahn jeder Revolution aus aufsteigenden und absteigenden Linien. Die Rückständigkeit der Masse selbst und die Schläge, die der Feind zurückgibt, Schläge, die das herrschende Regime den Bedürfnissen der gegenrevolutionären Klasse anpassen, verlagern nicht die Achse der Macht, fördern aber die Reaktion. Etwas ganz anderes ist ein Sieg der Konterrevolution: er ist unvorstellbar ohne den Übergang der Macht in die Hände einer anderen Klasse. Ein so entscheidender Übergang hatte im Juli nicht stattgefunden. Sowjetische Historiker und Kommentatoren schreiben noch heute von einem Buch zum andern immer wieder Stalins Formeln ab, ohne sich auch nur einen Augenblick die Frage vorzulegen: wenn im Juli die Macht in die Hände der Bourgeoisie übergegangen ist, warum mußte diese dann im August zum Aufstand greifen? Vor den Juliereignissen nannte man Doppelherrschaft das Regime, in dem die Provisorische Regierung nicht mehr als ein Phantom war, während die wirkliche Macht bei den Sowjets lag. Nach den Juliereignissen ging ein Teil der Macht von den Sowjets an die Bourgeoisie über, aber nur ein Teil: die Doppelherrschaft verschwand nicht. Eben diese Tatsache bestimmte später den Charakter der Oktoberrevolution.
»Wenn es den Konterrevolutionären gelingt, sich einen oder zwei Monate zu halten«, führte Stalin weiter aus, »so ist das nur möglich, weil das Koalitionsprinzip aufrechterhalten wird. Da sich aber die konterrevolutionären Kräfte entwickeln, werden Explosionen eintreten, und der Moment wird kommen, wo sich die Arbeiter erheben und die armen Bauernschichten um sich sammeln, die Fahne der Arbeiterrevolution schwingen und das Zeitalter der sozialistischen Revolution im Abendland eröffnen werden.« Halten wir fest: die Mission des russischen Proletariats ist es, »das Zeitalter der sozialistischen Revolution im Abendland zu eröffnen«. Das wurde zur Losung der Partei für die folgenden Jahre. Im Grunde gibt Stalins Bericht die richtige Einschätzung der Situation und die richtigen Voraussagen – Lenins Einschätzung und Lenins Voraussagen. Wie üblich fehlt es der Rede aber an innerem Aufbau. Der Redner behauptet, ohne zu beweisen. Die Einschätzungen, zu denen er kommt, sind entweder nicht von einer höheren Warte aus gesehen oder einfach fertig übernommen worden; sie sind nicht durch das Laboratorium analytischen Denkens hindurchgegangen, und ihnen mangelt der organische Zusammenhang, der von sich selbst aus die notwendigen Argumente, Vergleiche und Illustrationen hervorbringt. Stalins Polemik besteht in der Wiederholung von Ideen, die bereits ausgesprochen worden sind – manchmal wiederholt er sie in aphoristischer Form, die als bereits bewiesen betrachtet, was erst noch zu beweisen ist. Oft sind seine Argumente mit Grobheiten gespickt, besonders am Schluß einer Rede, wenn keine Replik eines Gegners mehr zu fürchten ist.
In einer dem Sechsten Parteitag gewidmeten Veröffentlichung von 1928 lesen wir: »Lenin, Stalin, Swerdlow, Dzerschinsky und andere wurden zu Mitgliedern des Zentralkomitees gewählt.« Neben Stalin sind nur drei Verstorbene erwähnt. Aus den Kongreßprotokollen erhellt aber, daß einundzwanzig Mitglieder und zehn Stellvertreter ins Zentralkomitee gewählt wurden. In Anbetracht der halblegalen Stellung der Partei wurden die Namen der in geheimer Abstimmung Gewählten auf dem Parteitag nicht bekanntgegeben, mit Ausnahme der vier, die die meisten Stimmen erhalten hatten: Lenin 133 Stimmen von 134, Sinowjew 132, Kamenew 131, Trotzky 131. Außer ihnen wurden gewählt: Nogin, Kollontai, Stalin, Swerdlow, Rykow, Bucharin, Artem, Uritzky, Miljutin, Berzin, Bubnow, Dzerschinsky, Krestinsky, Muranow, Smilga, Sokolnikow, Schaomyan. Die Namen sind der Anzahl der Stimmen nach geordnet, die sie auf sich vereinigt haben. Von den Namen der gewählten Stellvertreter konnten acht ermittelt werden: Lomow, Joffe, Stassowa, Jakowlewa, Tschaparidse, Kisseljew, Preobraschensky, Skrypnik.
Der Parteitag endete am 3. August. Einen Tag später wurde Kamenew aus dem Gefängnis entlassen. Von da an sprach er nicht nur regelmäßig in den Sowjetinstitutionen, sondern übte auch auf die allgemeine Politik der Partei und auf Stalin persönlich merklichen Einfluß aus. Beide, wenn auch in verschiedenen Graden, hatten sich dem neuen Kurs angepaßt. Es fiel ihnen aber nicht gerade leicht, sich von ihren alten Denkgewohnheiten freizumachen. Wo er kann, rundet Kamenew die Ecken der Leninschen Politik ab. Stalin hat nichts dagegen einzuwenden, nur will er sich nicht selbst irgendeine Blöße geben. Zu einem offenen Zwist kam es gelegentlich der sozialistischen Konferenz von Stockholm, zu der die Initiative von den deutschen Sozialdemokraten ausgegangen war. Die russischen Kompromißler und Patrioten, immer bereit, sich an jeden Strohhalm zu klammern, hielten diese Konferenz für eine wichtige Waffe im »Kampf für den Frieden«. Im Gegensatz dazu trat der der Verbindung mit dem deutschen Generalstab beschuldigte Lenin scharf gegen jede Beteiligung an einem Unternehmen auf, hinter dem, wie jeder wußte, die deutsche Regierung steckte. Auf der Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees vom 6. August nahm Kamenew offen für die Teilnahme an der Konferenz Stellung. Stalin dachte nicht daran, die Auffassung der Partei im »Proletarij« (»Der Proletarier«), wie die »Prawda« jetzt hieß, zu verteidigen. Im Gegenteil, ein heftiger Artikel Lenins gegen Kamenew stieß auf die Opposition Stalins und erschien erst zehn Tage später im Druck, und zwar erst nach dringenden Vorstellungen des Verfassers und nachdem dieser an die Unterstützung anderer Mitglieder des Zentralkomitees appelliert hatte. Aber auch dann noch stellte sich Stalin nicht offen auf Kamenews Seite.
Unmittelbar nach seiner Freilassung wurde in der Presse ein vom demokratischen Justizministerium ausgehendes Gerücht lanciert, wonach Kamenew mit der zaristischen Geheimpolizei in Verbindung gestanden habe. Kamenew verlangte eine Untersuchung. Das Zentralkomitee beauftragte Stalin, »mit Gotz (einem der Sozialrevolutionären Führer) wegen einer Kommission zur Untersuchung des Falles Kamenew zu sprechen«. Solche Aufgaben waren ihm, wie wir gesehen haben, schon einige Male übertragen worden: mit dem Menschewiken Bogdanow wegen der Kronstädter Matrosen zu »sprechen«, mit dem Menschewiken Anissimow wegen der Garantien für Lenin zu »sprechen«. Immer hinter den Kulissen, war Stalin besser als andere für diese Art heikler Missionen geeignet. Darüber hinaus war das Zentralkomitee stets dessen sicher, daß sich Stalin bei Verhandlungen mit einem Gegner nicht übers Ohr hauen ließ.
»Das Schlangengezisch der Konterrevolution«, schrieb Stalin am 13. August über die Verleumdungen, denen Kamenew ausgesetzt war, »wird wieder lauter. Aus seinem Schlupfwinkel heraus streckt das geifernde Ungeheuer der Reaktion seinen giftigen Stachel hervor. Es wird zustechen und sich wieder in seinen finsteren Winkel verkriechen« und so weiter im Stile der Tifliser »Chamäleons«. Doch ist der Artikel nicht nur seines Stiles wegen interessant. »Die infame Hetze, die Schwelgerei in Lüge und Verleumdung, die schamlose Irreführung, die niedrige Fälschung und Erdichtung«, so fährt der Autor fort, »nehmen einen in der Geschichte bisher unbekannten Umfang an ... Zuerst versuchten sie, bewährte Kämpfer der Revolution für deutsche Spione auszugeben, als das fehlgeschlagen war, wollte man aus ihnen zaristische Spitzel machen. So versuchen sie, Männer, die ihr ganzes bewußtes Leben der Sache des revolutionären Kampfes gegen den Zarismus gewidmet haben, jetzt ... als zaristische Spione hinzustellen. Der politische Sinn von alledem versteht sich von selbst: die Herren der Konterrevolution müssen um jeden Preis Kamenew, der ein anerkannter Führer des revolutionären Proletariats ist, unschädlich machen und aus dem Wege räumen.« Unglücklicherweise fand sich dieser Artikel nicht in den Materialien des Staatsanwalts Wyschinsky auf Kamenews Prozeß im Jahre 1936.
Am 30. August brachte Stalin ohne irgendeine redaktionelle Bemerkung einen von Sinowjew stammenden nicht gezeichneten Artikel, »Was man nicht tun sollte!« überschrieben, der offensichtlich gegen die Vorbereitung des Aufstandes gerichtet war. »Man muß der Wahrheit ins Gesicht schauen: in Petrograd sind jetzt viele Umstände dem Ausbruch einer Insurrektion in der Art der Pariser Kommune von 1871 günstig.« Ohne Sinowjew zu nennen, schrieb Lenin am 3. September: »Die Anspielung auf die Kommune ist oberflächlich und sogar stupide ... Die Kommune konnte dem Volke nicht mit einem Schlage das geben, was ihm die Bolschewiki geben können, wenn sie die Macht übernehmen, nämlich das Land den Bauern und unmittelbare Friedens vorschlage.« Der Hieb gegen Sinowjew prallte auf den Redakteur der Zeitung zurück. Aber Stalin schwieg. Bereit, anonym einen von rechts kommenden Angriff auf Lenin zu unterstützen, hütet er sich wohl, selbst einzugreifen. Beim ersten Anzeichen von Gefahr springt er ab.
Über Stalins journalistische Arbeit in dieser Periode ist so gut wie nichts zu sagen. Er war Chefredakteur des Zentralorgans, nicht, weil er ein Schriftsteller, sondern weil er kein Redner und überhaupt unfähig war, öffentlich aufzutreten. Er schrieb nicht einen einzigen Artikel, der die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hätte; er stellte nicht ein einziges neues Problem zur Diskussion; er setzte keine einzige Losung in Umlauf. Er kommentierte die Ereignisse in unpersönlicher Sprache im Rahmen der von der Partei festgelegten Konzeptionen. Ein Parteibeamter in der Redaktion, kein revolutionärer Publizist.
Das Wiederaufleben der Massenbewegung und die Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit durch diejenigen Mitglieder des Zentralkomitees, die eine Zeitlang zur Untätigkeit verdammt gewesen waren, drängten Stalin natürlich wieder aus der leitenden Position hinaus, die er zur Zeit des Julikongresses innegehabt hatte. Von nun an wird seine Tätigkeit wieder obskur – den Massen unbekannt, vom Feinde unbemerkt. Im Jahre 1924 veröffentlichte die Historische Kommission der Partei eine umfangreiche Chronik der Revolution in mehreren Bänden. Auf den 422 Seiten des IV. Bandes, der August und September behandelt, sind alle Ereignisse verzeichnet, alle Episoden, Konflikte, Resolutionen, Reden, Artikel, die irgendwie verdienen, verzeichnet zu werden. Swerdlow, damals wenig bekannt, wird in dem Bande dreimal genannt, Kamenew sechsundvierzigmal, Trotzky, der August und September im Gefängnis verbrachte, einunddreißigmal, Lenin, der in der Illegalität war, sechzehnmal, Sinowjew, der Lenins Schicksal teilte, sechsmal; Stalin wird nicht ein einziges Mal erwähnt. Stalins Name steht nicht im Register, das über 500 Namen enthält. Mit anderen Worten, in diesen beiden Monaten hat die Presse nichts von dem verzeichnet, was er sagte oder tat, und keiner der bekannteren Teilnehmer an den Ereignissen hat seinen Namen auch nur ein einziges Mal ausgesprochen.
Glücklicherweise ermöglichen es die – allerdings bei weitem nicht vollständig – erhalten gebliebenen Protokolle des Zentralkomitees, Stalins Rolle im Leben der Partei oder besser gesagt in deren Generalstab während der sieben Monate vom August 1917 bis zum Februar 1918 mehr oder weniger genau zu verfolgen. Auf Konferenzen und Kongresse aller Art wurden, da die politischen Führer abwesend waren, Miljutin, Smilga, Glebow delegiert, Persönlichkeiten von wenig Einfluß, aber besser für öffentliches Auftreten geeignet als Stalin. Gelegentlich von Parteibeschlüssen taucht Stalins Name nur selten auf. Uritzky, Sokolnikow und Stalin sind beauftragt worden, eine Kommission für die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung zu organisieren. Die gleichen hatten eine Resolution über die Stockholmer Konferenz zu verfassen. Stalin wurde beauftragt, mit einer Druckerei wegen des Wiedererscheinens des Zentralorgans zu verhandeln. Noch eine Kommission zur Abfassung einer Resolution usw. Nach dem Juliparteitag war ein Vorschlag Stalins angenommen worden, die Arbeit des Zentralkomitees nach den Prinzipien einer »strikten Aufteilung der Funktionen« zu organisieren. Das ist allerdings leichter zu sagen als durchzuführen: der Lauf der Ereignisse sollte noch auf einige Zeit hinaus die Funktionen durcheinander würfeln und gefaßte Beschlüsse umstürzen. Am 2. September ernannte das Zentralkomitee die Redaktionskomitees für das Wochenblatt und die Monatszeitschrift, beide unter Teilnahme von Stalin. Am 6. September, nach der Freilassung Trotzkys, wurden Stalin und Rjasanow in der Leitung der theoretischen Zeitschrift durch Trotzky und Kamenew ersetzt. Doch bleibt es auch in bezug auf diesen Entschluß lediglich bei einer Notiz in den Protokollen. In der Tat erschienen die beiden Zeitschriften nur je einmal, und die wirklichen Redaktionskomitees stimmten keineswegs mit den ernannten überein.
Am 5. Oktober stellte das Zentralkomitee eine Kommission auf, die den Entwurf eines Parteiprogramms für den bevorstehenden Parteitag ausarbeiten sollte. Die Kommission setzt sich zusammen aus Lenin, Bucharin, Trotzky, Kamenew, Sokolnikow, Kollontai. Stalin gehört ihr nicht an. Nicht, weil sich irgendjemand seiner Kandidatur widersetzt hätte, sondern einfach weil sein Name niemandem in den Sinn kommt, wenn es sich darum handelt, das wichtigste theoretische Dokument der Partei auszuarbeiten. Indes, die Programmkommission tritt nicht ein einziges Mal zusammen – ganz andere Aufgaben standen auf der Tagesordnung. Die Partei führte den Aufstand und kam zur Macht, ohne ein vollendetes Programm zu besitzen. Sogar in bezug auf die inneren Parteiangelegenheiten disponierten die Ereignisse über die Menschen nicht immer entsprechend den Entscheidungen und Plänen der Parteihierarchie. Das Zentralkomitee schuf Redaktionen, Kommissionen, Dreiergruppen, Fünfergruppen, Siebenergruppen – bevor sie zusammentreten konnten, traten neue Ereignisse ein, und alle Welt vergaß die gestern gefaßten Beschlüsse. Hinzu kommt, daß die Protokolle aus konspirativen Gründen sorgfältig verborgen gehalten wurden und sie niemals jemand konsultierte.
Recht erstaunlich ist die relativ häufige Abwesenheit Stalins. Auf sechs von vierundzwanzig Sitzungen des Zentralkomitees im August, September und in der ersten Oktoberwoche war er nicht anwesend; von sechs weiteren Sitzungen fehlt die Anwesenheitsliste. Diese Unregelmäßigkeit ist um so weniger erklärlich, als Stalin keinen Teil an der Arbeit des Sowjets und des Zentralen Exekutivkomitees hatte und keine Versammlungen besuchte. Er selbst maß natürlich seiner Teilnahme an den Sitzungen des Zentralkomitees nicht die Bedeutung bei, die er ihr heute zuerteilt. In einer gewissen Anzahl von Fällen erklärt sich seine Abwesenheit zweifelsohne durch irgendeinen Affront, den man ihm angetan hatte, und die Verärgerung, die daraus folgte: wenn er seinen Willen nicht durchsetzen kann, zieht er es vor, sich nicht zu zeigen und über Racheträumen zu brüten.
Interessant ist die Reihenfolge, in der die anwesenden Mitglieder des Zentralkomitees in die Protokolle eingetragen worden sind. Am 13. September: Trotzky, Kamenew, Stalin, Swerdlow und andere. Am 15. September: Trotzky, Kamenew, Rykow, Nogin, Stalin, Swerdlow und andere. Am 20. September: Trotzky, Uritzky, Bubnow, Bucharin und andere (Stalin und Kamenew sind nicht anwesend). Am 21. September: Trotzky, Kamenew, Stalin, Sokolnikow und andere. Am 23. September: Trotzky, Kamenew, Sinowjew und andere (Stalin ist abwesend). Die Reihenfolge der Namen war natürlich nicht reglementiert und wurde manchmal umgeworfen. Trotzdem war sie keine zufällige, besonders wenn man in Rechnung stellt, daß Stalins Name in der voraufgegangenen Periode, in der Trotzky, Sinowjew und Kamenew abwesend gewesen waren, in den Protokollen an erster Stelle figurierte. Das sind natürlich Details, aber wesentlichere Dinge sind nicht aufzufinden; außerdem spiegeln diese Details das alltägliche Leben des Zentralkomitees sowohl als den Platz, den Stalin darin einnahm, unparteiisch wider.
Je höher der Schwung der Bewegung geht, um so kleiner der Platz, den Stalin in ihr einnimmt und um so schwerer fällt es ihm, sich aus der Reihe der durchschnittlichen Mitglieder des Zentralkomitees herauszuheben. Im Oktober, dem entscheidenden Monat eines entscheidenden Jahres, ist von ihm weniger denn je zu merken. Dem Rumpf des Zentralkomitees, dieser einzigen Stütze Stalins, mangelt es in jenen Monaten gleichfalls an Selbstvertrauen. Allzu oft werden seine Beschlüsse durch eine von unten ausgehende Initiative umgestoßen. Der ganze Parteiapparat verliert in der unruhigen revolutionären Zeit den festen Boden unter den Füßen. Je breiter und tiefer der Einfluß der bolschewistischen Parolen, um so schwieriger wird es für die Komiteeleute, die Bewegung zu meistern. Der Raum wird um so enger für den Parteiapparat, je größer der Einfluß der Partei auf die Sowjets wird. Das ist eins der Paradoxe der Revolution.
Zahlreiche Historiker, darunter die gewissenhaftesten, haben die Bedingungen, die sich erst bedeutend später herausbildeten, als der überflutende Strom längst in seine Ufer zurückgetreten war, auf das Jahr 1917 übertragen und die Dinge so dargestellt, als hätte das Zentralkomitee direkt die Politik des Petrograder Sowjets geleitet, der gegen Anfang September bolschewistisch geworden war. Das war aber in Wirklichkeit nicht der Fall; aus den Protokollen geht ohne den Schatten eines Zweifels hervor, daß, mit Ausnahme einiger Vollsitzungen, an denen Lenin, Sinowjew und Trotzky teilnahmen, das Zentralkomitee keine politische Rolle spielte. In keiner entscheidenden Frage ergriff es die Initiative. Zahllose in jener Periode gefaßte Beschlüsse des Zentralkomitees blieben in der Luft hängen, da sie mit den Beschlüssen des Sowjets zusammenstießen. Die wichtigsten Entschließungen des Sowjets wurden durchgeführt, bevor das Zentralkomitee Zeit fand, sie zu begutachten. Erst nach der Machteroberung, nach der Beendigung des Bürgerkrieges und der Errichtung eines festen Regimes konzentrierte das Zentralkomitee nach und nach die Leitung der Tätigkeit des Sowjets in seinen Händen. Erst da kam Stalins Zeit.
Am 8. August eröffnete das Zentralkomitee eine Kampagne gegen die Regierungskonferenz, die von Kerensky nach Moskau einberufen worden war und Manipulationen im Interesse der Bourgeoisie vornehmen wollte. Die Konferenz begann am 12. August. Sie stand im Zeichen eines allgemeinen Proteststreiks der Moskauer Arbeiter. Die Bolschewiki, denen der Zutritt zur Konferenz verweigert worden war, hatten ein wirksames Mittel gefunden, ihre Stärke zu zeigen. Die Bourgeoisie war erschrocken und wütend. Nachdem er am 21. August Riga den Deutschen überlassen hatte, unternahm der Oberbefehlshaber Kornilow am 25. des gleichen Monats seinen Marsch auf Petrograd, in der Absicht, seine persönliche Diktatur zu errichten. Kerensky, der sich in seinen Kornilow betreffenden Kalkulationen getäuscht hatte, erklärte den Oberbefehlshaber zum »Vaterlandsverräter«. Selbst in diesem entscheidenden Augenblick, am 27. August, erschien Stalin nicht im Zentralen Exekutivkomitee. Es war Sokolnikow, der dort im Namen der Bolschewiki auftrat. Er kündigte an, daß die Bolschewiki bereit wären, sich über die zu treffenden militärischen Maßnahmen mit den Organen der Sowjetmehrheit zu verständigen! Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nahmen die Vorschläge dankbar an – aber auch zähneknirschend, denn die Arbeiter und Soldaten standen auf Seiten der Bolschewiki. Die schnelle und ohne Blutvergießen vor sich gegangene Beilegung der Kornilowschen Rebellion gibt den Sowjets vollständig die Macht zurück, die sie im Juli teilweise verloren hatten. Die Bolschewiki nehmen die Losung »Alle Macht den Sowjets!« wieder auf. Lenin schlägt den Versöhnlern in der Presse einen Kompromiß vor: die Sowjets übernehmen die Macht und sichern die völlige Agitationsfreiheit – die Bolschewiki bleiben völlig auf dem Boden der Sowjet-Legalität. Hochmütig wiesen die Versöhnler den von links kommenden Kompromißvorschlag zurück und suchten weiterhin nach Verbündeten auf der Rechten.
Diese hochmütige Weigerung führte nur zu einer Stärkung der Bolschewiki. Genau wie 1905 schmolz das Übergewicht, das die erste Welle der Revolution den Menschewiki gebracht hatte, in der Atmosphäre des hitziger werdenden Klassenkampfes immer mehr zusammen. Diesmal fiel aber zum Unterschied von der ersten Revolution das Wachstum des Bolschewismus nicht mit einem Niedergang, sondern mit einem Aufstieg der Massenbewegung zusammen. Im Dorf nahm der im Grunde gleiche Prozeß eine andere Form an: von der unter der Bauernschaft vorherrschenden Partei, den Sozialrevolutionären, löste sich ein linker Flügel los, der mit den Bolschewiki Schritt zu halten versuchte. Die Garnisonen der Großstädte gingen fast alle mit den Arbeitern. »Ja, die Bolschewiki haben schwer und unermüdlich gearbeitet«, gesteht der linke Menschewik Suchanow, »sie waren bei den Massen, in der Fabrik, täglich, dauernd ... Die Massen lebten und atmeten mit den Bolschewiki. Sie waren ganz in den Händen der Partei Lenins und Trotzkys.« Sie waren in den Händen der Partei, aber nicht in den Händen des Parteiapparats.
Am 31. August faßt der Petrograder Sowjet zum erstenmal eine bolschewistische Resolution. Die Versöhnler wollten sich nicht geschlagen geben und entschieden sich für eine neue Kraftprobe. Am 9. September wurde der Konflikt im Sowjet ausgetragen. Die Abstimmung ergab 414 Stimmen für das alte Präsidium und die Koalitionspolitik, 519 Stimmen dagegen und 67 Stimmenthaltungen. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre ernteten die Früchte ihrer Politik der Versöhnung mit der Bourgeoisie. Der Sowjet begrüßte die neue Koalitionsregierung mit einer von dem neuen Vorsitzenden, Trotzky, vorgetragenen Resolution: »Die neue Regierung ... wird in die Geschichte der Revolution als eine Regierung des Bürgerkrieges eingehen ... Der allrussische Sowjetkongreß wird eine wirklich revolutionäre Macht schaffen.« Das war eine offene Kriegserklärung an die Versöhnler, die den »Kompromiß« zurückgewiesen hatten.
Am 14. September wurde in Petrograd die sogenannte Demokratische Versammlung eröffnet, die das Zentrale Exekutivkomitee scheinbar als Gegengewicht gegen die Regierungskonferenz einberufen hatte, die aber in Wirklichkeit immer nur wieder dieselbe, nun schon in völlige Fäulnis übergegangene Koalition sanktionieren sollte. Einige Tage zuvor hatte Nadjeschda Krupskaja insgeheim Lenin in Finnland besucht. In dem mit Soldaten angefüllten Eisenbahnwagen wurde nicht von der Koalition gesprochen, sondern vom Aufstand. »Als ich Iljitsch von diesen Gesprächen der Soldaten berichtete, bekam sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck, der auch später, als er von anderen Dingen sprach, nicht verschwand. Es war klar, daß er nicht an die Dinge dachte, von denen er sprach – er dachte an den Aufstand und daran, wie er am besten vorzubereiten war.«
Am Tage der Eröffnung, der Demokratischen Versammlung – diesem inhaltsleersten aller Pseudoparlamente der Demokratie – sandte Lenin seine berühmten Briefe an das Zentralkomitee: »Die Bolschewiki müssen die Macht übernehmen« und »Marxismus und Insurrektion«. Diesmal forderte er zu unvermitteltem Handeln auf: Erhebung der Soldatenregimenter und der Fabriken, Verhaftung der Regierung und der Demokratischen Versammlung, Übernahme der Macht. Dieser Plan ist offensichtlich noch nicht realisierbar, leitet aber Denken und Handeln des Zentralkomitees in neue Kanäle. Kamenew bestand auf einer kategorischen Zurückweisung dieses »verheerenden« Vorschlags Lenins. In der Befürchtung, daß die Briefe innerhalb der Partei zirkulieren könnten, schlug Kamenew vor, sämtliche Exemplare zu vernichten, bis auf eins, das in den Archiven aufbewahrt werden sollte, ein Vorschlag, der sechs Stimmen auf sich vereinigen konnte. Stalin seinerseits schlug vor, »die Briefe den wichtigsten Organisationen zu senden und sie anzuregen, diese Briefe zu diskutieren«. Ein viel später abgefaßter Kommentar behauptet, daß Stalins Vorschlag »das Ziel verfolgte, einen Einfluß der Ortsparteikomitees auf das Zentralkomitee herzustellen und das Zentralkomitee zu veranlassen, Lenins Direktiven zu folgen«. Wenn dem so gewesen wäre, so hätte Stalin sich erhoben, um Lenins Vorschläge zu verteidigen, und hätte Kamenews Resolution eine eigene Resolution entgegengesetzt. Von solchen Gedanken war er aber weit entfernt. Die Ortskomitees in der Provinz standen in ihrer Mehrheit weiter rechts als das Zentralkomitee. Ihnen die Briefe Lenins ohne Befürwortung durch das Zentralkomitee übersenden, das hieß, sich gegen die Briefe aussprechen. Stalin wollte einfach Zeit und die Möglichkeit gewinnen, sich im Falle eines Konfliktes auf den Widerstand der Ortskomitees berufen zu können. Es wurde beschlossen, die Frage der Briefe Lenins bis zur nächsten Sitzung zurückzustellen. Lenin wartete mit äußerster Ungeduld auf die Antwort. Auf der folgenden Sitzung, die erst fünf Tage später stattfand, erschien Stalin jedoch überhaupt nicht, und die Frage der Briefe wurde nicht einmal auf die Tagesordnung gesetzt. Je heißer die Atmosphäre wird, um so kälter manövriert Stalin.
Die Demokratische Versammlung hatte im Einverständnis mit der Bourgeoisie beschlossen, eine dem Aussehen nach repräsentative Institution auf die Beine zu stellen, der Kerensky konsultative Rechte versprochen hatte. Die dem Rat der Republik oder Vorparlament gegenüber einzunehmende Haltung wurde für die Bolschewiki sofort zu einer dornigen taktischen Frage: sollte man daran teilnehmen oder geradeswegs auf den Aufstand losmarschieren? Als Berichterstatter des Zentralkomitees auf der bolschewistischen Fraktion der Demokratischen Versammlung trat ich für den Boykott ein. Das Zentralkomitee, das über diese strittige Frage in ungefähr gleiche Teile gespalten war (neun Stimmen gegen, acht für den Boykott), überließ es der Fraktion, die Debatte zum Abschluß zu bringen. Um die beiden verschiedenen Gesichtspunkte darzulegen, »wurden zwei Referate vorgeschlagen, eins von Trotzky, eins von Rykow«. »In Wirklichkeit«, unterstrich Stalin im Jahre 1925, »gab es vier Referenten: zwei für den Boykott (Trotzky und Stalin) und zwei für die Teilnahme (Kamenew und Nogin).« Das ist ziemlich richtig; als die Fraktion beschloß, die Debatte zu beenden, ließ sie noch einen Repräsentanten jeder Richtung zu Worte kommen: Stalin für die Boykottisten und Kamenew – nicht Nogin – für die »Teilnehmer«. Rykow und Kamenew erhielten 77, Trotzky und Stalin 50 Stimmen. Die Niederlage der Boykott-Taktik war das Werk der Provinz vielerorts hatte man sich erst kürzlich von den Menschewiki getrennt.
Oberflächlich betrachtet möchte es scheinen, als seien die Meinungsverschiedenheiten nur sekundärer Natur gewesen. In der Tat handelt es sich aber darum, ob sich die Partei anschicken sollte, die Rolle der Opposition auf dem Terrain der bürgerlichen Republik zu spielen oder ob sie sich die Machteroberung zur Aufgabe stellte. Stalin stellte infolge der Bedeutung, die diese Vorgänge für die offizielle Geschichtsschreibung haben, die Sache später so dar, als sei er der Referent gewesen. Ein beflissener Redakteur fügte von sich aus ein, daß Trotzky »eine Zwischenstellung eingenommen habe«. In späteren Ausgaben erscheint Trotzkys Name überhaupt nicht mehr. Die neue »Geschichte« erklärt: »Stalin trat entschieden gegen die Teilnahme am Vorparlament auf.« Jedoch existiert außer der Zeugenschaft der Protokolle auch noch die von Lenin: »Man muß das Vorparlament boykottieren«, schrieb er am 23. September. »Man muß ... zu den Massen gehen. Man muß ihnen eine richtige und klare Losung geben: verjagt die bonapartistische Kerensky-Clique und ihr betrügerisches Vorparlament!« Folgt die Anmerkung: »Trotzky ist für den Boykott. Bravo, Genosse Trotzky!« Natürlich hat der Kreml offiziell angeordnet, aus der neuen Ausgabe von Lenins »Sämtlichen Werken« alle solche ausgefallenen Bemerkungen Lenins zu streichen.
Am 7. Oktober verließ die bolschewistische Fraktion demonstrativ das Vorparlament. »Wir appellieren an das Volk. Alle Macht den Sowjets!« Das kam einem Aufruf zur Erhebung gleich. Am gleichen Tage wurde auf der Sitzung des Zentralkomitees beschlossen, ein »Informationsbüro für den Kampf gegen die Konterrevolution« zu schaffen. Dieser absichtlich nebelhaft gehaltene Name deckte eine ganz konkrete Aufgabe: die Ausarbeitung und Vorbereitung des Aufstandes. Die Organisierung dieses Büros wurde Trotzky, Swerdlow und Bubnow übertragen. Angesichts der lakonischen Sprache, in der die Protokolle gehalten sind, und da andere Dokumente nicht vorhanden sind, ist der Verfasser gezwungen, sich hier auf sein eigenes Gedächtnis zu stützen. Stalin lehnte die Beteiligung am Büro ab und schlug an seiner Stelle Bubnow vor, der über wenig Autorität verfügte. Seine Haltung gegenüber der Idee vom Büro war reserviert, wenn nicht gar skeptisch. Er war für den Aufstand, aber er glaubte nicht, daß die Arbeiter und Soldaten zum Handeln bereit wären. Er lebte abseits, nicht nur abseits von den Massen, sondern auch von ihren Vertretern in den Sowjets, und begnügte sich mit den Eindrücken, die von dem Spiegel des Parteiapparats zurückgeworfen wurden. Die Juli-Erfahrung war an den Massen nicht spurlos vorübergegangen. An Stelle des bloßen blinden Drucks war Behutsamkeit getreten. Andererseits war das Vertrauen in die Bolschewiki mit der Besorgnis gemischt: werden sie halten können, was sie versprechen? Die bolschewistischen Agitatoren beklagten sich manches Mal über die Gleichgültigkeit der Massen. In Wirklichkeit waren die Massen des Wartens müde, der Unentschiedenheit, der Worte. Im Apparat aber wurde diese Ermüdung oft als »Mangel an Kampfwillen« ausgelegt. Daher der Anflug von Skepsis bei vielen bolschewistischen Komiteeleuten. Von all dem abgesehen, verspüren selbst die mutigsten Männer ein gewisses Unbehagen in der Magengrube, wenn sie sich kurz vor einem Aufstand oder sonst irgendeinem Kampf befinden. Das wird nicht immer zugegeben, ist aber so. Stalins innere Einstellung war doppelsinnig. Er hatte den April nicht vergessen, als seine »Praktiker«-Weisheit einen so schlimmen Stoß erlitten hatte; andererseits hatte er ungleich mehr Vertrauen in den Apparat als in die Massen. Bei allen wichtigen Vorfällen sicherte er sich gegen jede Eventualität, indem er mit Lenin stimmte. Aber er legte keinerlei Initiative im Sinne der gefaßten Beschlüsse an den Tag, lehnte die direkte Teilnahme an entscheidenden Aktionen ab, hielt sich immer eine Brücke für den Rückzug offen, übte auf andere einen dämpfenden Einfluß aus – und verpaßte schließlich den Oktoberaufstand.
Richtig ist, daß das »Informationsbüro zum Kampf gegen die Konterrevolution« nichts hervorgebracht hat. Das war aber nicht die Schuld der Massen. Am Neunten brach ein neuer, sehr heftiger Konflikt zwischen dem Smolny und der Regierung aus, die beschlossen hatte, die revolutionären Truppen aus der Hauptstadt zu entfernen und sie an die Front zu schicken. Die Garnison schloß sich enger an ihren Verteidiger, den Sowjet an. Die Vorbereitung des Aufstandes bekam mit einem Schlage eine konkrete Grundlage. Der gestern die Initiative zur Gründung des »Büros« ergriffen hatte, wandte nun seine ganze Aufmerksamkeit der Schaffung eines militärischen Generalstabs beim Sowjet selbst zu. Der erste Schritt hierzu wurde noch am selben Tage, am 9. Oktober, unternommen. »Um den Versuchen des Hauptquartiers, die revolutionären Truppen aus der Hauptstadt herauszuziehen, Widerstand zu leisten«, beschloß das Exekutivkomitee, ein »Revolutionäres Militärkomitee« zu gründen. So nahm der Aufstand durch die Logik der Dinge ohne irgendeine Diskussion im Zentralkomitee und fast unerwarteterweise von der Arena des Sowjets seinen Ausgang und begann seinen eigenen Generalstab zu schaffen, der weitaus mehr Wirkungskraft besaß als das »Büro« vom 7. Oktober.
Die nächste Sitzung des Zentralkomitees, an der Lenin mit einer Perücke bekleidet teilnahm, wurde am 10. Oktober abgehalten und erlangte historische Bedeutung. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Resolution Lenins, die den bewaffneten Aufstand als unmittelbare praktische Aufgabe auf die Tagesordnung setzte. Das Schwierigste, selbst für die überzeugtesten Anhänger des Aufstandes, war die Frage des Zeitpunktes. Unter dem Druck der Bolschewiki hatte das in den Händen der Versöhnler liegende Zentrale Exekutivkomitee in den Tagen der Demokratischen Versammlung den Sowjetkongreß für den 20. Oktober einberufen. Es war jetzt völlig sicher, daß der Kongreß eine bolschewistische Mehrheit ergeben würde. Zumindest in Petrograd mußte der Aufstand um jeden Preis vor dem 20. Oktober stattfinden, da sonst der Sowjetkongreß nicht nur nicht in der Lage war, die Macht zu übernehmen, sondern womöglich auseinandergetrieben werden würde. Auf der Sitzung des Zentralkomitees wurde beschlossen – was nicht zu Papier gebracht wurde –, den Aufstand in Petrograd gegen den 15. zu beginnen. Ungefähr fünf Tage blieben für die Vorbereitung. Jeder fühlte, daß das nicht genügte. Jetzt war die Partei Gefangene eines Datums, das sie selbst bei einer anderen Gelegenheit den Kompromißlern aufgedrängt hatte. Die von Trotzky überbrachte Information, daß das Exekutivkomitee beschlossen habe, seinen eigenen Militärstab zu schaffen, machte keinen großen Eindruck, handelte es sich doch mehr um ein Projekt als um eine Tatsache. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf die Polemik mit Sinowjew und Kamenew, die entschieden gegen den Aufstand waren. Stalin hat anscheinend auf dieser Sitzung überhaupt nicht gesprochen oder sich auf kurze Bemerkungen beschränkt, auf alle Fälle ist in den Protokollen nichts von dem verzeichnet, was er gesagt haben mag. Die Resolution wurde mit zehn gegen zwei Stimmen angenommen. Aber die Zweifel über das Datum riefen bei allen Teilnehmern Besorgnis hervor.
Am Schluß der Sitzung, die bis nach Mitternacht dauerte, wurde auf die eher zufällige Initiative Dzerschinskys hin beschlossen, »für die politische Leitung des Aufstandes ein Büro zu organisieren, bestehend aus Lenin, Sinowjew, Kamenew, Trotzky, Stalin, Sokolnikow und Bubnow«. Dieser wichtige Beschluß hatte aber keine praktischen Folgen. Lenin und Sinowjew blieben weiterhin versteckt, Sinowjew und Kamenew waren unversöhnliche Gegner des Beschlusses vom 10. Oktober. Das »Büro für die politische Leitung des Aufstandes« trat niemals zusammen. Nur sein Name ist in einem mit Tinte und Feder dem mit Bleistift geschriebenen, stark gekürzten Protokoll angefügten Postskriptum bewahrt geblieben. Unter der abkürzenden Bezeichnung der »Sieben« ist das phantomhafte Büro in die offizielle Historiographie eingegangen.
Die Arbeit für die Schaffung des Revolutionären Militärkomitees ging weiter voran. Der schwerfällige Mechanismus der Sowjetdemokratie erlaubte aber kein schnelles Voranschreiten. Und bis zum Kongreß blieb nur noch wenig Zeit. Nicht ohne Grund fürchtete Lenin Verzögerungen. Auf sein Verlangen hin wurde am 16. Oktober unter Teilnahme der wichtigsten Petrograder Parteiarbeiter eine neue Sitzung des Zentralkomitees abgehalten. Sinowjew und Kamenew waren noch immer in der Opposition. Formal gesehen war ihre Position sogar stärker geworden: sechs Tage waren vergangen, und der Aufstand hatte noch nicht begonnen. Sinowjew verlangte, daß die Entscheidung bis zum Sowjetkongreß aufgeschoben würde, damit man sich mit den Provinzdelegierten »verständigen« könne: im Grunde seines Herzens hoffte er auf ihre Unterstützung. Die Debatten nahmen einen leidenschaftlichen Charakter an. Stalin nahm zum ersten Male daran teil. »Den Tag des Aufstands«, sagte er, »bestimmen die Umstände. Das ist der einzige Sinn der Resolution. Was Kamenew und Sinowjew vorschlagen, führt objektiv dazu, der Konterrevolution Gelegenheit zu geben, sich zu organisieren; wenn wir weiter nachgeben, werden wir die ganze Revolution verlieren. Warum sollen wir nicht selbst das Datum und die Bedingungen wählen, um der Konterrevolution nicht die Gelegenheit zu geben, sich zu organisieren?« Der Redner verfocht das abstrakte Recht der Partei, den Augenblick des Losschlagens selbst auszuwählen, während es sich darum handelte, ein bestimmtes Datum festzulegen. Wenn sich der bolschewistische Sowjetkongreß außerstande zeigte, unmittelbar die Macht zu übernehmen, so hätte er nur die Losung »Alle Macht den Sowjets!« diskreditiert, indem er eine leere Phrase daraus gemacht haben würde. Sinowjew betonte: »Wir müssen uns selbst ganz entschieden sagen, daß wir in den nächsten fünf Tagen keinen Aufstand unternehmen!« Kamenew sprach im gleichen Sinne. Stalin ging in seiner Antwort nicht direkt darauf ein, sondern schloß mit den unerwarteten Worten: »Der Petrograder Sowjet hat den Weg des Aufstands schon beschritten, indem er sich geweigert hat, die Verschickung der Truppen zu sanktionieren.« Er wiederholte hier einfach ohne jeden Zusammenhang mit seiner im übrigen abstrakten Rede die Formulierung, die die Leiter des Revolutionären Militärkomitees in den vorhergegangenen Tagen in der Propaganda angewandt hatten. Was aber sollte das bedeuten, »den Weg des Aufstands schon beschritten«? Handelte es sich um Tage oder Wochen? Stalin verzichtete vorsichtigerweise darauf, das zu präzisieren. Er konnte die Situation nicht klar überschauen.
Im Verlauf der Debatten brachte Daletzky, der Vorsitzende des Petrograder Komitees und spätere Leiter der sowjetischen Telegraphenagentur, der bei einer der Säuberungen verschwunden ist, folgendes Argument gegen die sofortige Aufnahme der Offensive vor: »Wir haben nicht einmal eine Zentrale. Halb bewußt geben wir der Niederlage entgegen.« Daletzky wußte anscheinend von der Bildung der »Zentrale« im Sowjet noch nichts, oder er maß ihr keine Bedeutung bei. Auf alle Fälle gab seine Bemerkung den Ausschlag für eine neue Improvisation. Nachdem er sich mit anderen Mitgliedern des Zentralkomitees in eine Ecke zurückgezogen hatte, schrieb Lenin, ein Blatt Papier auf den Knien, folgende Resolution: »Das Zentralkomitee organisiert eine revolutionäre militärische Zentrale, zusammengesetzt aus Swerdlow, Stalin, Bubnow, Uritzky und Dzerschinsky. Diese Zentrale wird in das Revolutionäre Komitee des Sowjets eingegliedert.« Es war sicherlich Swerdlow, der sich des Revolutionären Militärkomitees entsann. Aber niemand kannte noch recht den Namen des Generalstabs des Sowjets. Trotzky befand sich in jenen Stunden auf der Sitzung des Sowjets, in der das Revolutionäre Militärkomitee endgültig auf die Beine gestellt wurde.
Die Resolution vom 10. Oktober wurde mit einer Mehrheit von zweiundzwanzig gegen zwei Stimmen bei drei Stimmenthaltungen angenommen. Indes hatte niemand auf die wesentliche Frage geantwortet: wird der Beschluß, mit dem Aufstand in Petrograd vor dem 20. Oktober zu beginnen, immer noch aufrechterhalten? Es war gewiß schwer, darauf eine Antwort zu geben. Politisch war der Entschluß, den Aufstand vor dem Kongreß auszulösen, der einzig richtige. Aber es blieb zu wenig Zeit, ihn durchzuführen. Diesen Widerspruch zu versöhnen, gelang der Sitzung vom 16. Oktober nicht. Hier kamen nun die Versöhnler zu Hilfe: am nächsten Tage beschlossen sie aus sich heraus, die Eröffnung des Kongresses, den sie im vorhinein fürchteten, auf den 25. Oktober zu verschieben. Die Bolschewiki nahmen diese unerwartete Verschiebung mit einem öffentlichen Protest und mit heimlicher Dankbarkeit auf. Fünf zusätzliche Tage lösten alle die Schwierigkeiten, in denen sich das Revolutionäre Militärkomitee befand.
Die Protokolle des Zentralkomitees und die Nummern der »Prawda« der letzten Wochen vor dem 25. Oktober zeichnen auf dem Hintergrunde des Aufstandes die politische Physiognomie Stalins ziemlich klar. Ebenso wie er vor dem Kriege dem Anschein nach auf Lenins Seite gestanden hatte, gleichzeitig aber bei den Versöhnlern Unterstützung gegen den Emigranten suchte, der »das Unmögliche verlangte«, genau so reihte er sich jetzt in die offizielle Mehrheit des Zentralkomitees ein, indem er gleichzeitig die Rechtsopposition unterstützte. Wie immer, war er vorsichtig; jedoch zwangen ihn das Ausmaß der Ereignisse und die Schärfe der Konflikte oft, weiter zu gehen, als ihm lieb war.
Am 11. Oktober veröffentlichen Sinowjew und Kamenew in der Zeitung Maxim Gorkis einen Brief gegen den Aufstand. Die Situation innerhalb der Führerschaft der Partei nahm sofort einen sehr zugespitzten Charakter an. Lenin tobte und raste in seinem Versteck. Um die Hände für die Agitation gegen den Aufstand frei zu haben, demissionierte Kamenew vom Zentralkomitee. Die Frage wurde auf der Sitzung vom 20. Oktober diskutiert. Swerdlow verlas einen Brief von Lenin, der Sinowjew und Kamenew als Streikbrecher geißelte und ihren Ausschluß aus der Partei verlangte. Die Krise komplizierte sich unerwarteterweise dadurch, daß die »Prawda« am selben Morgen eine redaktionelle Erklärung veröffentlichte, die Sinowjew und Kamenew verteidigte: »Der scharfe Ton des Artikels des Genossen Lenin ändert nichts daran, daß wir im Grunde alle derselben Ansicht sind.« Das Zentralorgan hatte es für nötig befunden, nicht die öffentliche Stellungnahme zweier Mitglieder des Zentralkomitees gegen die Beschlüsse der Partei, sondern die »Schärfe« des Leninschen Protestes dagegen zu verurteilen; mehr noch, es solidarisierte sich »im Grunde« mit Sinowjew und Kamenew. Wie wenn es in jenem Augenblick eine grundlegendere Frage als die des Aufstands gegeben hätte! Die Mitglieder des Zentralkomitees rieben sich die Augen vor Erstaunen.
Außer Stalin war nur noch Sokolnikow – zukünftiger Sowjetdiplomat und später Opfer einer Säuberung – Mitglied der Redaktion. Aber Sokolnikow erklärte, daß er nichts mit der Abfassung des Angriffs der Redaktion auf Lenin zu tun gehabt hätte und daß er sie als falsch betrachte. Stalin hatte also allein – gegen das Zentralkomitee und gegen seinen eigenen Redaktionskollegen – noch vier Tage vor dem Aufstand Kamenew und Sinowjew unterstützt. Das Zentralkomitee hielt mit seiner Empörung nur zurück, um die Krise nicht noch weiter auszudehnen.
Stalin fuhr fort, zwischen den Befürwortern und den Gegnern des Aufstandes zu manövrieren, und sprach sich gegen die Annahme der Demission Kamenews aus, wobei er vorgab, daß »unsere ganze Situation widersprüchlich ist«. Mit fünf gegen drei Stimmen, der Stalins und zwei anderen, wurde die Demission Kamenews angenommen. Mit sechs Stimmen, wiederum gegen die Stalins, wurde der Beschluß gefaßt, Kamenew und Sinowjew zu untersagen, gegen das Zentralkomitee einen Kampf zu führen. Das Protokoll statuiert: »Stalin erklärt, daß er die Redaktion verläßt.« Das hieß für ihn, den einzigen Posten zu verlassen, den er unter revolutionären Bedingungen ausfüllen konnte. Doch das Zentralkomitee weigert sich, Stalins Demission anzunehmen, so daß sich der neuerliche Riß nicht verbreiterte.
Im Lichte der um ihn herum geschaffenen Legende scheint das Verhalten Stalins unerklärlich; in Wirklichkeit entspricht es völlig seiner Mentalität. Mangel an Vertrauen in die Massen und argwöhnische Vorsicht zwingen ihn, im Augenblick historischer Entscheidungen in den Schatten zu treten, abzuwarten und, wenn möglich, sich bei beiden Seiten gegen jede Eventualität zu sichern. Sinowjew und Kamenew verteidigte er keineswegs nur aus sentimentalen Erwägungen heraus. Stalin hatte im April seine offizielle Einstellung, nicht aber seine geistige Verfassung gewechselt. Ging er bei den Abstimmungen mit Lenin, so stand er doch gefühlsmäßig Kamenew näher. Darüber hinaus stieß ihn die Unzufriedenheit mit seiner Rolle natürlicherweise zu den übrigen Unzufriedenen, obwohl er politisch nicht völlig mit ihnen einverstanden war.
Während der ganzen letzten Woche vor dem Aufstand manövrierte Stalin zwischen Lenin, Trotzky und Swerdlow auf der einen und Kamenew und Sinowjew auf der anderen Seite. Auf der Sitzung des Zentralkomitees vom 21. Oktober stellte er das gestern zerstörte Gleichgewicht wieder her, indem er vorschlug, Lenin mit der Abfassung der Thesen für den heranrückenden Sowjetkongreß und Trotzky mit dem politischen Referat zu betrauen. Beide Vorschläge wurden einstimmig angenommen. Wenn es – nebenbei bemerkt – in jenem Augenblick zwischen Trotzky und dem Zentralkomitee solche Meinungsverschiedenheiten gegeben hätte, wie sie einige Jahre später erfunden worden sind, wie hätte dann das Zentralkomitee auf Stalins Initiative hin Trotzky im kritischsten Augenblick die wichtigste politische Rede anvertrauen können? Nachdem er sich auf diese Weise gegen jede von links her kommende Überraschung gesichert hatte, tauchte Stalin von neuem im Schatten unter und wartete ab.
Über die Teilnahme Stalins an der Oktoberrevolution kann der Biograph mit dem besten Willen nicht viel sagen. Sein Name wird nie und nirgendwo erwähnt – weder in den Dokumenten noch von den zahlreichen Memoirenverfassern. Um diese gähnende Lücke einigermaßen zu füllen, umkleidet die offizielle Geschichtsschreibung Stalins Rolle in der Revolution mit der mysteriösen »Zentrale«, die die Partei zur Vorbereitung des Aufstandes ernannt hatte. Niemand aber sagt uns etwas über die Tätigkeit dieser Zentrale, über Ort und Zeit ihrer Zusammenkünfte, über die Mittel, die sie anwandte, um den Aufstand zu leiten. Was nicht verwunderlich ist: die »Zentrale« hat niemals existiert. Erwähnenswert ist jedoch die Geschichte dieser Legende.
Im Laufe der Konferenz des Zentralkomitees vom 16. Oktober, an der eine gewisse Anzahl bekannter Petrograder Parteiarbeiter teilgenommen hatte, war, wie wir schon wissen, beschlossen worden, eine »revolutionäre militärische Zentrale« aus fünf Mitgliedern des Zentralkomitees zu bilden. »Diese Zentrale«, sagte die von Lenin in der Eile in einer Ecke des Saales niedergeschriebene Resolution, »wird in das Revolutionäre Komitee des Sowjets eingegliedert.« So war dem direkten Sinn dieses Beschlusses nach die »Zentrale« nicht dazu bestimmt, selbständig den Aufstand zu leiten, sondern den Generalstab des Sowjets zu vervollständigen. Jedoch, wie so viele andere Improvisationen dieser fieberhaften Tage, sollte sich auch dieses Projekt nicht realisieren. Zur selben Stunde, als das Zentralkomitee in Abwesenheit Trotzkys auf einem Stück Papier die neue »Zentrale« bildete, schuf der Sowjet unter dem Vorsitz Trotzkys endgültig das Revolutionäre Militärkomitee, das von seinem ersten Erscheinen an alle Vorbereitungsarbeiten für den Aufstand in seinen Händen konzentrierte. Swerdlow, dessen Name auf der Liste der Mitglieder der »Zentrale« an erster Stelle steht – und nicht Stalins Name, wie die neuen sowjetischen Publikationen fälschlicherweise angeben –, arbeitete sowohl vor wie nach dem Beschluß vom 16. Oktober in enger Verbindung mit dem Vorsitzenden des Revolutionären Militärkomitees. Drei andere Mitglieder der »Zentrale«, Uritzky, Dzerschinsky und Bubnow, wurden, und zwar jeder von ihnen auf individuelle Weise, zur Mitarbeit am Militärkomitee erst am 24. Oktober hinzugezogen, als ob der Beschluß vom 16. Oktober niemals gefaßt worden wäre. Stalin weigerte sich entsprechend der Linie seines Verhaltens in jener Periode hartnäckig, sowohl in das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets wie in das Revolutionäre Militärkomitee einzutreten, und zeigte sich nie auf einer ihrer Sitzungen. Alle diese Tatsachen lassen sich auf der Grundlage der offiziell erschienenen Protokolle mit Leichtigkeit nachweisen.
Auf der Sitzung des Zentralkomitees vom 20. Oktober hätte die vier Tage zuvor gebildete »Zentrale« doch einen Bericht über ihre Tätigkeit abgeben oder zumindest vermerken müssen, daß sie ihre Tätigkeit aufgenommen habe – bis zum Sowjetkongreß blieben nur noch fünf Tage, und der Aufstand sollte vor der Eröffnung des Kongresses beginnen. Gewiß, Stalin hatte andere Dinge zu tun: nachdem er Sinowjew und Kamenew verteidigt hatte, reichte er auf dieser Sitzung seine Demission von der »Prawda«-Redaktion ein. Keines der andern an der Sitzung teilnehmenden Mitglieder – weder Swerdlow, noch Uritzky, noch Dzerschinsky – sagte aber ein Wort über die »Zentrale«. Das Protokoll der Sitzung vom 16. Oktober ist natürlich sorgfältig geheimgehalten worden, um keine Spuren der »illegalen« Teilnahme Lenins an der Sitzung sichtbar werden zu lassen, und in den vier folgenden dramatischen Tagen wurde die »Zentrale« um so eher vergessen, als die intensive Tätigkeit des Revolutionären Militärkomitees das Bedürfnis nach irgendeiner zusätzlichen ähnlichen Organisation gar nicht aufkommen ließ.
Auf der folgenden Sitzung, am 21. Oktober, an der Stalin, Swerdlow und Dzerschinsky teilnahmen, wurde abermals kein Bericht über die »Zentrale« abgegeben, die nicht einmal erwähnt wurde. Das Zentralkomitee führte seine Arbeit weiter, als ob niemals ein Beschluß über die »Zentrale« gefaßt worden wäre. Auf dieser Sitzung wurde unter anderem beschlossen, zehn führende Bolschewiki, darunter Stalin, in das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets zu schicken, um dort die Arbeit zu verstärken. Auch das war nur eine Resolution mehr, die auf dem Papier blieb.
Die Vorbereitungen für den Aufstand gingen beschleunigt voran, aber auf einem ganz anderen Wege. Der eigentliche Herr der hauptstädtischen Garnison, das Revolutionäre Militärkomitee, suchte nach einem Vorwand für den offenen Bruch mit der Regierung. Er wurde ihm am 22. Oktober vom Truppenkommandanten des Petrograder Distrikts geliefert, als dieser sich weigerte, seinen Stab der Kontrolle durch die Kommissare des Komitees zu unterwerfen. Man mußte das Eisen schmieden, solange es heiß war. Das Büro des Revolutionären Militärkomitees faßte unter Teilnahme Swerdlows und Trotzkys den Beschluß, den Bruch mit dem Garnisonsstab als vollendete Tatsache zu betrachten und zur Offensive überzugehen. Stalin war nicht auf dieser Konferenz. Und es fiel niemandem ein, ihn zu rufen. Als der Augenblick gekommen war, alle Brücken abzubrechen, wurde von niemandem auch nur die Existenz der sogenannten »Zentrale« erwähnt.
Am Morgen des 24. Oktober wurde in dem in eine Festung verwandelten Smolny die Sitzung des Zentralkomitees abgehalten, die den Aufstand auslöste. Gleich zu Beginn wurde eine Resolution, die von (dem wieder ins Zentralkomitee eingetretenen) Kamenew stammte, angenommen: »Heute darf kein Mitglied des Zentralkomitees den Smolny ohne besondere Erlaubnis verlassen.« Auf der Tagesordnung stand ein Bericht des Revolutionären Militärkomitees. Im Augenblick, wo der Aufstand beginnt, fällt kein Wort über die sogenannte »Zentrale«. Das Protokoll erklärt: »Trotzky schlägt vor, dem Komitee zwei Mitglieder des Zentralkomitees für die Verbindung mit dem Post- und Telegraphenpersonal und den Eisenbahnern zur Verfügung zu stellen und ein drittes Mitglied für die Überwachung der Tätigkeit der Provisorischen Regierung. Dzerschinsky wurde als Verbindungsmann zur Post und zum Telegraphenamt, Bubnow als solcher zu den Eisenbahnern bestimmt; Swerdlow sollte die Provisorische Regierung im Auge behalten. »Trotzky schlägt vor«, heißt es weiter, »einen Reservestab in der Peter-und-Pauls-Festung zu bilden und ein Mitglied des Zentralkomitees für die ständige Verbindung mit der Festung zu bestimmen.« Es wurde beschlossen, »Swerdlow zu beauftragen, mit der Festung ständige Verbindung zu unterhalten«. So wurden hier also zum erstenmal drei Mitglieder der »Zentrale« dem Revolutionären Militärkomitee unmittelbar zur Verfügung gestellt. Das wäre natürlich nicht notwendig gewesen, wenn die »Zentrale« existiert und sich mit den Vorbereitungen für den Aufstand abgegeben hätte. Die Protokolle verzeichnen, daß Uritzky, viertes Mitglied der »Zentrale«, einige praktische Vorschläge machte. Was machte das fünfte Mitglied, Stalin?
Die erstaunlichste Tatsache ist, daß Stalin an dieser entscheidenden Sitzung überhaupt nicht teilgenommen hat. Die Mitglieder des Zentralkomitees durften den Smolny nicht verlassen, Stalin aber war nicht einmal dort. Die 1929 veröffentlichten Protokolle beweisen das ohne den geringsten Zweifel. Stalin hat die Gründe für seine Abwesenheit niemals weder mündlich noch schriftlich auseinandergesetzt. Niemand fragte ihn danach, wahrscheinlich um nicht eine neue überflüssige Krise hervorzurufen. Alle wichtigen Entscheidungen in bezug auf die Durchführung des Aufstandes wurden in seiner Abwesenheit gefällt und ohne daß er irgendeinen Anteil daran nahm. Während der Verteilung der Rollen nannte ihn niemand, und niemand schlug vor, ihm irgendeine Aufgabe zuzuweisen. Er hielt sich einfach aus dem Spiel heraus. Leitete er vielleicht seine »Zentrale« von irgendeinem heimlichen Platze aus? Indes, alle anderen Mitglieder der »Zentrale« befanden sich ständig in Smolny.
In den Stunden, als der Aufstand schon offen begonnen hatte, richtete der in seiner Isolierung vor Ungeduld vergehende Lenin einen Appell an die Distriktleiter: »Genossen! Ich schreibe diese Zeilen am Abend des Vierundzwanzigsten ... Ich versichere Euch mit aller Kraft, daß jetzt alles an einem Faden hängt, daß wir jetzt vor Fragen stehen, die weder auf Versammlungen noch auf Kongressen (und wenn es auch der Sowjetkongreß sei) entschieden werden, sondern ausschließlich durch den Kampf der bewaffneten Massen ...« Aus diesem Brief geht klar hervor, daß Lenin vor dem Abend des 24. Oktober nicht wußte, daß das Revolutionäre Militärkomitee zur Offensive übergegangen war. Die Verbindung zu Lenin wurde vor allem über Stalin aufrechterhalten, der der Mann war, für den sich die Polizei am wenigsten interessierte. Die Schlußfolgerung drängt sich von selbst auf, daß Stalin, der am Morgen auf der Sitzung des Zentralkomitees nicht anwesend gewesen war und der es vermieden hatte, sich im Smolny zu zeigen, bis zum Abend nicht wußte, daß der Aufstand schon in vollem Gange war. Nicht, daß er feige gewesen wäre. Es gibt keinen Grund, ihn persönlicher Feigheit zu bezichtigen. Wohl aber war er politisch unzuverlässig. Der vorsichtige Kulissenschieber wollte im entscheidenden Moment beiseite bleiben. Er wollte zuwarten und den Ausgang des Aufstandes kennen, bevor er sich auf eine Position festlegte. Im Falle einer Niederlage hätte er dann Lenin und Trotzky und ihren Gefährten sagen können: »Das ist eure Schuld!« Man muß sich die glühende Temperatur jener Tage klar vor Augen führen, um solch kalte Zurückhaltung, oder, wenn man will, Perfidie, richtig zu werten.
Nein, Stalin leitete den Aufstand nicht – weder persönlich noch vermittels irgendeiner »Zentrale«. In den Protokollen und Memoiren, in den zahllosen Dokumenten, Sammelwerken, Geschichtsbüchern, die noch zu Lebzeiten Lenins und selbst später erschienen sind, ist die famose »Zentrale« nicht ein einziges Mal erwähnt, und Stalin, Leiter dieser »Zentrale«, wird nirgendwo und von niemandem, und sei es auch nur als Teilnehmer am Aufstand, genannt. Das Parteigedächtnis registrierte ihn nicht. Erst im Jahre 1924 fand die Geschichtskommission der Partei, auf der Suche nach dokumentarischem Material aller Art, das sorgfältig versteckte Protokoll der Sitzung vom 16. Oktober mit dem Text des Beschlusses über die Schaffung einer »Zentrale«. Der Kampf gegen die linke Opposition und gegen mich selbst, der damals wütete, machte eine neue Version der Geschichte der Partei und der Revolution erforderlich. Ich entsinne mich, daß mir Serebrjakow, der überall Freunde und Verbindungen hatte, eines Tages schilderte, welch großer Jubel in Stalins Sekretariat anläßlich der Entdeckung der »Zentrale« ausgebrochen war. »Was kann das schon für eine Bedeutung haben?«, fragte ich erstaunt. »Auf dieser Spule werden sie einen langen Faden spinnen«, antwortete Serebrjakow verschmitzt.
Doch ging die Sache selbst dann nicht über eine Veröffentlichung des Protokolls und vage Anspielungen auf die »Zentrale« hinaus. Die Ereignisse von 1917 waren noch zu frisch in aller Gedächtnis, die an der Revolution Beteiligten waren noch nicht liquidiert. Dzerschinsky und Bubnow, die auf der Liste der »Zentrale« standen, waren noch am Leben. Dzerschinsky konnte sich wohl in seinem Fraktionsfanatismus einverstanden erklären, Stalin Verdienste zuzuerkennen, die dieser nicht besaß, sich aber selbst etwas zuzuschreiben, was ihm nicht zukam, dazu war er nicht imstande – das ging über seine Kraft. Dzerschinsky starb rechtzeitig. Eine der Ursachen für den Fall und das Ende Bubnows war sicher seine Weigerung, falsche Zeugenschaft zu leisten. Niemand konnte sich in irgendeiner Weise der Existenz der »Zentrale« entsinnen. Das dem Protokoll entstiegene Gespenst führte weiter eine protokollarische Existenz – ohne Augen noch Ohren, ohne Bein noch Fleisch.
Das hat indessen nicht gehindert, daß man sich seiner als des Kernstücks für eine neue Version von der Oktoberrevolution bediente. »Es ist befremdlich«, argumentierte Stalin im Jahre 1925, »daß der ›Initiator‹, die ›Hauptfigur‹, der ›alleinige Leiter‹ des Aufstandes, der Genosse Trotzky, nicht an der Zentrale beteiligt war, die dazu bestimmt war, den Aufstand zu leiten. Wie vereint sich das mit der üblichen Meinung von der besonderen Rolle des Genossen Trotzky?« Ein offensichtlich unlogisches Argument: die »Zentrale« sollte dem genauen Sinne der Resolution nach in das von Trotzky präsidierte Revolutionäre Militärkomitee als ein Teil desselben eingegliedert werden. Aber das machte nichts aus. Stalin zeigte unverhüllt seine Absicht, um die Protokolle herum eine neue Version von der Revolution zu spinnen. Was er zu erklären versäumte, war lediglich, woher die »übliche Meinung von der besonderen Rolle des Genossen Trotzky« rührte. Das wäre aber der Betrachtung wert.
In den Anmerkungen zur ersten Ausgabe der »Sämtlichen Werke« Lenins wird unter dem Namen Trotzky folgendes gesagt: »Nachdem der Petrograder Sowjet in die Hände der Bolschewiki übergegangen war, wurde er zu dessen Vorsitzendem gewählt und organisierte und leitete in dieser Eigenschaft den Aufstand vom 25. Oktober.« Die »Legende« fand Platz in den »Sämtlichen Werken« zu Lebzeiten ihres Verfassers! Sie zu bezweifeln, kam bis 1925 niemand in den Sinn. Mehr noch, Stalin selbst zahlte seinerzeit der »üblichen Meinung« seinen nicht unbedeutenden Tribut. In einem Artikel vom Jahre 1918, zum ersten Jahrestag der Revolution, schrieb er: »Alle praktische Organisationstätigkeit für den Aufstand wurde unter der direkten Leitung des Vorsitzenden des Sowjets von Petrograd, des Genossen Trotzky, geführt. Man kann mit Sicherheit behaupten, daß die Partei den schnellen Übergang der Garnison auf die Seite des Sowjets und die kühne Durchführung der Arbeit des Revolutionären Militärkomitees hauptsächlich und vor allem dem Genossen Trotzky verdankt. Die Genossen Antonow und Podwoisky waren die Hauptgehilfen des Genossen Trotzky.« Diese Sätze klingen heute wie eine Lobrede. In Wirklichkeit hegte ihr Verfasser aber den Hintergedanken, der Partei in Erinnerung zu bringen, daß es in den Tagen des Aufstandes außer Trotzky auch das Zentralkomitee gegeben hatte, dessen Mitglied Stalin war. Gezwungen, seinem Artikel zumindest den Anschein von Objektivität zu verleihen, konnte Stalin 1918 aber nichts anderes sagen als das, was er gesagt hat. Auf jeden Fall schrieb er am ersten Jahrestag der Sowjetmacht »die praktische Organisationstätigkeit für den Aufstand« Trotzky zu. Worin bestand dann also aber die Rolle der geheimnisvollen »Zentrale«? Stalin erwähnte sie nicht einmal; sechs Jahre sollten erst noch bis zur Entdeckung des Protokolls vom 16. Oktober vergehen.
Schon 1920 spielte Stalin, ohne Trotzky zu nennen, Lenin, der nach ihm der Urheber eines fehlerhaften Aufstandsplans gewesen sein sollte, gegen das Zentralkomitee aus. 1922 wiederholte er diese Behauptung, ersetzte aber Lenin durch »einen Teil der Genossen« und gab vorsichtig zu verstehen, daß, wenn der fehlerhafte Plan nicht befolgt wurde, ihm, Stalin, einiges Verdienst dabei zukomme. Abermals zwei Jahre vergingen, und es stellte sich heraus, daß der fehlerhafte Plan Lenins eine böswillige Erfindung Trotzkys gewesen war; Trotzky selbst hatte nun aber ebenfalls einen fehlerhaften Plan vorgeschlagen, der aber glücklicherweise vom Zentralkomitee zurückgewiesen worden war. Bis schließlich die 1938 erschienene »Geschichte« der Partei Trotzky zum erklärten Gegner des Oktoberaufstandes, der von Trotzky geleitet worden war, stempelte. Damit einher ging die Mobilmachung aller Künste: Dichtung und Malerei, Theater und Kino wurden nunmehr aufgerufen, jener mythischen »Zentrale« Leben einzuhauchen, von der auch die eifrigsten Historiker mit der Lupe in der Hand keine Spur hatten entdecken können. Stalin wird jetzt in der ganzen Welt auf der Leinwand als der Führer der Oktoberrevolution gezeigt, von den Publikationen der Komintern gar nicht zu reden.
Eine gleichgeartete Geschichtsrevision wurde, wenn auch vielleicht nicht in ebenso offenkundiger Weise, in bezug auf alle alten Bolschewiki vorgenommen, dies aber nicht mit einem Schlage, sondern je nach dem Wechsel der politischen Kombinationen. 1917 verteidigte Stalin Sinowjew und Kamenew, um sie gegen Lenin und mich auszuspielen und so die zukünftige »Troika« vorzubereiten. 1924, als die »Troika« schon den Apparat kontrollierte, erklärte Stalin in der Presse, daß die Meinungsverschiedenheiten mit Sinowjew und Kamenew am Vorabend der Oktoberrevolution nur einen flüchtigen und sekundären Charakter gehabt hätten. »Die Differenzen dauerten deshalb und nur deshalb bloß einige Tage, weil wir es bei Kamenew und Sinowjew mit Leninisten, Bolschewiki, zu tun hatten.« Nach dem Auseinanderfallen der »Troika« wurde das Verhalten Sinowjews und Kamenews von 1917 während mehrerer Jahre zur Hauptbeschuldigung gegen sie, ließ sie zu »Agenten der Bourgeoisie« werden und ging schließlich in den Anklageakt ein, der sie alle beide vor die Mauserpistole führte.
Hier kann man nicht anders, als nur in bassem Staunen innehalten ob so kalter und geduldiger und zugleich grausamer Hartnäckigkeit, die unverändert auf ein und dasselbe persönliche Ziel gerichtet ist. So wie einst in Batum der junge Koba unablässig tätig gewesen war, das Ansehen der über ihm stehenden Mitglieder des Tifliser Komitees zu untergraben, so wie er im Gefängnis und in der Verbannung die Gimpel gegen seine Feinde aufgehetzt hatte, so schob er jetzt in Petrograd unermüdlich Personen und Umstände hin und her, einzig zu dem Zweck, jeden auszuschalten, herunterzureißen, anzuschwärzen, der ihn in irgendeiner Weise überschattete oder ihn daran hinderte, seine Ambitionen zu verwirklichen.
Der Oktoberaufstand, als Quelle des neuen Regimes, nahm natürlich eine zentrale Stellung in der Ideologie der neuen herrschenden Schicht ein. Wie war das alles geschehen? Wer hatte führend im Mittelpunkt und wer hatte an der Peripherie gestanden? Stalin brauchte rund zwanzig Jahre, um dem Lande ein historisches Panorama aufzuzwingen, in dem er den Platz der wirklichen Organisatoren des Oktoberaufstandes einnahm, während diesen darin die Rolle von Verrätern an der Revolution zugeschrieben wird. Es wäre falsch anzunehmen, daß er von Anfang an einen vollendeten Plan zur Errichtung seiner persönlichen Vorherrschaft gehabt hätte. Es bedurfte außergewöhnlicher geschichtlicher Umstände, um seinen Ambitionen einen Schwung zu verleihen, den er selbst nicht vorausgesehen hatte. In einem Punkte aber blieb er unabänderlich derselbe: er profitierte, alle anderen Erwägungen ausschaltend, von jeder Situation, um seine eigene Stellung auf Kosten anderer zu stärken – Schritt für Schritt, Stein um Stein, geduldig, ohne jede Überstürzung, aber auch ohne Gnade. Eben in diesem ununterbrochenen Weben von Intrigen, in diesem behutsamen Dosieren von Wahrem und Falschem, in diesem regelmäßigen Rhythmus seiner Fälschungsarbeit, spiegelt sich Stalin am reinsten, sowohl als Person wie auch als Führer der neuen privilegierten Schicht, die sich als Ganzes eine neue Biographie zusammenbrauen mußte.
Nach dem mißlichen Debüt im März, das er im April alles andere als gutgemacht hatte, brachte Stalin das Jahr der Revolution in den Kulissen des Apparats zu. Er wußte nicht, wie er sich eine Verbindung zu den Massen schaffen sollte, und fühlte sich nicht ein einziges Mal direkt verantwortlich für das Schicksal der Revolution. Zu gewissen Zeiten war er Stabschef, niemals Chefkommandeur. Schweigen vorziehend, wartete er auf die Initiative der anderen, notierte ihre Fehler und schwachen Punkte und blieb hinter den Ereignissen zurück. Um zum Erfolg zu gelangen, mußte er von einer gewissen Stabilisierung der Verhältnisse profitieren und über sehr viel Zeit verfügen können. Beides gestand ihm die Revolution nicht zu.
Da er nie gezwungen war, die Probleme der Revolution mit der geistigen Anspannung zu durchdenken, wie sie nur das Gefühl unmittelbarer Verantwortlichkeit erzeugt, erfaßte Stalin niemals vollständig die innere Logik der Oktoberrevolution. Das ist der Grund, weshalb seine Erinnerungen so quacksalberhaft wirken und unzusammenhängend und miteinander nicht übereinstimmend sind, weshalb seine späteren Urteile über die Strategie des Aufstandes so widersprüchlich sind und seine Irrtümer in einer ganzen Reihe späterer Revolutionen (Deutschland, China, Spanien) so monströs. Wahrhaftig, in einer Revolution ist der ehemalige »Berufsrevolutionär« nicht in seinem Element.
Nichtsdestoweniger war das Jahr 1917 ein äußerst wichtiges Entwicklungsstadium für den zukünftigen Diktator. Erklärte er doch später selbst, daß er in Tiflis »Lehrling« gewesen, in Baku »Geselle« geworden und in Petrograd zum »Meister« aufgerückt sei. Nach vier Jahren politischen und geistigen Winterschlafs in Sibirien, wo er auf das Niveau eines »linken« Menschewiken herabsank, war das Revolutionsjahr, das er unter der unmittelbaren Leitung von Lenin und inmitten höchst qualifizierter Genossen verbrachte, von unschätzbarer Bedeutung für seine politische Entwicklung. Zum erstenmal hatte er Gelegenheit, sich mit Dingen vertraut zu machen, die bisher völlig außerhalb seines Gesichtskreises gelegen hatten. Er war ein ebenso aufmerksamer und sorgfältiger wie unwilliger Zuhörer und Beobachter. Im Mittelpunkt des politischen Lebens stand das Problem der Macht. Die Provisorische Regierung, an der Menschewiki und Volkstümler teilhatten, gestern noch Gefährten in der Illegalität, im Gefängnis und in der Verbannung, ermöglichte ihm, einen Blick in jenes geheimnisvolle Laboratorium zu tun, wo, wie jeder weiß, »nicht gerade Götter das Geschirr polieren« Russisches Sprichwort; D. Ü.. Der unübersteigbare Abstand, der in der Epoche des Zarismus den illegalen Revolutionär von der Regierung trennte, fiel in nichts zusammen. Die Macht wurde ein naheliegender, familiärer Begriff. Koba machte sich weitgehend von seinem Provinzialismus frei, wo nicht in seinen Sitten und Gewohnheiten, so doch, in der Spannweite seines politischen Denkens. Er spürte – mit bitterem Groll – seine persönlichen Mängel, ermaß aber zugleich die Stärke einer eng zusammengeschweißten Gruppe begabter und erfahrener Revolutionäre, bereit, den Kampf bis zu Ende durchzufechten. Er war anerkanntes Mitglied des Generalstabs der Partei geworden, die die Massen an die Macht getragen hatten. Er hatte aufgehört, Koba zu sein. Er war endgültig Stalin geworden.


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