Leo Trotzki: Stalin. Erstes Kapitel - Familie und Schule
Portraits


Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
Erstes Kapitel.
Familie und Schule
Der alte
Revolutionär Leonid Krassin, der ein ausgezeichneter Ingenieur, glänzender
Sowjetdiplomat und vor allem ein sehr kluger Mensch war, hat, wenn ich nicht
irre, als erster Stalin einen »Asiaten« genannt. Er dachte dabei nicht an
problematische Rassenmerkmale, sondern an jene Mischung von Ausdauer und
Scharfblick, Verschlagenheit und Grausamkeit, von der man glaubte, sie sei für
die Staatsmänner Asiens charakteristisch. Bucharin vereinfachte später diese
Bezeichnung, indem er Stalin als »Dschingis-Khan« bezeichnete, offenbar um eine
bis zum Blutdurst gehende Brutalität schärfer zum Ausdruck zu bringen. Übrigens
hat sich Stalin selbst im Verlauf einer Unterhaltung mit einem japanischen
Journalisten einen »Asiaten« genannt. Hier aber hatte dies Wort schon nicht
mehr seine alte Bedeutung: Stalin wollte mit dieser persönlichen Bemerkung auf
die dem imperialistischen Westen gegenüber gemeinsamen Interessen Japans und
der UdSSR anspielen. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, ist der
Ausdruck »Asiat« in dem uns hier beschäftigenden Falle nur bedingt richtig.
Geographisch sind der Kaukasus und vor allem Transkaukasien zweifellos eine
Verlängerung Asiens. Zum Unterschied von den Aserbeidschan-Mongolen gehören
aber die Georgier zur sogenannten europäischen, zur mittelländischen Rasse.
Stalin nahm es also nicht so genau, als er sich einen »Asiaten« nannte. Jedoch
Geographie, Ethnographie und Anthropologie erschöpfen die Frage nicht: sie
werden von der Geschichte überschattet.
Von dem
Menschenstrom, der sich Jahrhunderte hindurch von Asien nach Europa ergoß,
haben die Berge und Täler des Kaukasus einige Wellen aufgefangen und
zurückbehalten. Stämme und Gruppen scheinen hier in ihrer Entwicklung
stehengeblieben zu sein; sie haben den Kaukasus zu einem geräumigen Museum für
Völkerkunde gemacht. Jahrhundertelang blieb das Schicksal dieser Völkerschaften
eng an das der Türkei und Persiens geknüpft; so verharrten sie im Bereich der
Zivilisation Altasiens, die sich ihre Unbeweglichkeit allen Erschütterungen
durch unaufhörliche Kriege und Aufstände zum Trotz zu bewahren verstand.
In irgendeinem andern, weniger gebirgigen Lande wäre
der kleine georgische Zweig der Menschenrasse – der heute über zweieinhalb
Millionen stark ist – zweifellos völlig im Schmelztiegel der Geschichte
aufgegangen. Im Schutze der kaukasischen Bergkette haben die Georgier ihre
Volksphysiognomie in verhältnismäßig reiner Form bewahrt, ebenso ihre Sprache,
die die Philologie noch zu klassifizieren zögert. Die Schreibkunst tauchte in
Georgien schon im 4. Jahrhundert auf, zum selben Zeitpunkt, wo das Christentum
eindrang, sechshundert Jahre bevor es sich im Kiewer Rußland ausbreitete. Man
hält die Zeit vom 10. bis zum 13. Jahrhundert für die Blütezeit der militärischen
Macht Georgiens, seiner Literatur und Kunst. Ihr folgen Jahrhunderte der
Stagnation und des Zerfalls. Dschingis-Khans und Tamerlans häufige blutige
Einfälle hinterließen ihre Spuren in Georgiens Volksepen und, wie wenigstens
der unglückliche Bucharin meinte, auch im Charakter Stalins.
Zu Beginn
des 18. Jahrhunderts erkannte der vor der Türkei und Persien – seinen
Erbfeinden – Schutz suchende Zar von Georgien die Oberhoheit Moskaus an. Das
unmittelbare Ziel, eine gewisse Sicherheit, wurde damit erreicht. Die russische
Regierung ließ in Georgien die strategischen Landstraßen bauen, deren sie
bedurfte; sie modernisierte teilweise die Städte und schuf sogar ein dünnes
Netz von Schulen – dies vor allem, um ihre fremdstämmigen Untertanen zu russifizieren.
Natürlich gelang es der Petersburger Bürokratie nicht, in 200 Jahren die alte
asiatische Barbarei durch eine europäische Kultur zu ersetzen, an der es
Rußland selbst noch in hohem Maße mangelte.
Bei all seinen natürlichen Reichtümern und trotz seines gesegneten Klimas blieb Georgien doch immer ein armes und rückständiges Land. Sein halbfeudales Regime ruhte auf einer schwachen Produktion. Es zeichnete sich infolgedessen durch patriarchalische asiatische Sitten aus, die asiatische Grausamkeit keineswegs ausschließen. Industrie gab es fast nicht. Landwirtschaft und Häuserbau wurden in ungefähr derselben Weise betrieben wie 2000 Jahre zuvor. Die Trauben zerstampfte man mit den Füßen, und der Wein wurde in großen irdenen Krügen aufbewahrt. Wie die Asiens, blieben auch die Städte des Kaukasus, in denen kaum ein Sechstel der Bevölkerung wohnte, administrative, militärische und Handelszentren und entwickelten Handwerk nur in ganz geringem Umfang. Über die breiten Bauernmassen erhob sich der Adel. Zumeist weder reich noch kultiviert, unterschied er sich von den wohlhabenden Bauern manchmal nur durch seine Titel und seine Ansprüche. Nicht zu Unrecht ist Georgien mit seiner vergangenen kleinen »Macht«, seinem gegenwärtigen wirtschaftlichen Marasmus, seiner schirmenden Sonne, seinen Weinbergen, seiner Sorglosigkeit, seiner Unzahl von heruntergekommenen Edelleuten das Spanien des Kaukasus genannt worden.
Die junge
Adelsgeneration klopfte an die Pforten der Universitäten. Sie brach mit ihrer
fadenscheinigen Kastentradition, die in Zentralrußland nicht allzu ernst
genommen wurde, und schlug sich zu den fortschrittlichen Gruppen der russischen
Studenten. Dem Adel folgten die reichen Bauern und die Kleinbürger, alle von
dem Wunsche besessen, aus ihren Söhnen Beamte, Offiziere, Rechtsanwälte oder
Geistliche zu machen. Bis Georgien schließlich eine sehr hohe Anzahl
Intellektueller aufwies, die in den verschiedensten Winkeln Rußlands in allen
fortschrittlichen Bewegungen und in den drei Revolutionen eine hervorragende
Rolle spielen sollten.
Der deutsche
Schriftsteller Bodenstedt, der 1844 vorübergehend Direktor einer
Lehrerbildungs-anstalt in Tiflis war, hält die Georgier nicht nur für nachlässig
und wenig anstellig, sondern auch für weniger intelligent als die übrigen
Kaukasier; als Studenten stünden sie hinsichtlich der Wissenschaften, der
Fremdsprachen und des sprachlichen Ausdrucks hinter den Armeniern und Tataren
zurück. Elysée Reclus zitiert diese allzu oberflächliche Auffassung, nimmt aber
mit Recht an, daß sich der Unterschied aus sozialen und nicht aus nationalen
Ursachen erkläre; die georgischen Studenten kamen vom rückständigen Lande, die
Armenier waren Söhne des städtischen Bürgertums. Dieser Unterschied verschwand
rasch. Im Jahre 1892, zu der Zeit also, als Josef Dschugaschwili die zweite
Klasse der Pfarrschule besuchte, stellten die Georgier, die ungefähr ein Achtel
der Bevölkerung des Kaukasus ausmachten, fast den fünften Teil der Gesamtzahl
aller Studenten (Russen: über 50%; Armenier: über 14%; Tataren: weniger als
3%). Auch muß berücksichtigt werden, daß die georgische Sprache, eines der
ältesten Werkzeuge der Natur, die Aneignung fremder Sprachen besonders
schwierig macht und auf ihre Aussprache ungünstig einwirkt. Unzulässig ist
jedoch die Annahme, daß es den Georgiern an Beredtsamkeit fehle. Unter dem
Zarismus waren sie wie die andern Völker des Reiches zum Schweigen verurteilt.
Doch gestattete ihnen die »Europäisierung« Rußlands,
hervorragende Redner für die Schranken des Gerichts und später für die
Parlamentstribüne zu stellen, wenn sie vielleicht auch nicht ganz erstklassig
waren. Irakles Tseretelli ist wohl der wortgewaltigste Volksredner der
Februarrevolution gewesen. Man braucht also keineswegs auf nationale
Eigenheiten zurückgreifen, um Stalins Mangel an rednerischer Begabung zu
erklären. Stalin gibt auch seinem körperlichen Typus nach ganz gewiß keine
glückliche Vorstellung von seinem Volke, das für eins der schönsten des
Kaukasus gilt.
Das
georgische Volk wird übereinstimmend für zutraulich, leicht beeindruckbar und
überschwenglich gehalten, auch für wenig energisch und nicht sehr
unternehmungslustig. Reclus betont seine Heiterkeit, Geselligkeit und
Aufrichtigkeit. Stalins Charakter entspricht diesen Eigenschaften nicht, die
schon bei einem ersten Zusammentreffen mit Georgiern augenfällig sind.
Georgische Emigranten in Paris haben Boris Souvarine, dem französischen
Verfasser einer Stalin-Biographie, versichert, Josef Dschugaschwilis Mutter sei
nicht Georgierin, sondern Ossetin, in seinen Adern flösse also mongolisches
Blut. Ein gewisser Iremaschwili – dem wir später noch begegnen werden – meint
im Gegenteil, Stalins Mutter sei eine Georgierin, sein Vater aber Ossete und,
»wie alle Osseten des kaukasischen Hochgebirges, ein roher, ungeschlachter
Mensch«. Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, diese Äußerungen auf ihre
Wahrheit hin zu prüfen, und es scheint mir übrigens auch kaum notwendig für das
Verständnis der geistigen Physiognomie Stalins. Man trifft in den
Mittelmeerländern, auf dem Balkan, in Italien und Spanien neben »Südländern«,
bei denen sich Lässigkeit mit Triebhaftigkeit paart, kalte Naturen an, bei
denen sich zum Phlegma Hartnäckigkeit und Hinterhältigkeit gesellen. Der
erstere Typus dominiert und wird vom zweiten, als der Ausnahme, abgerundet. Es
ist, als wären die Komponenten des Nationalcharakters, der jeder Volksgruppe in
gewissen Proportionen zugeschrieben wird, unter der Sonne des Südens weniger
harmonisch aufgeteilt worden als unter der des Nordens. Hüten wir uns jedoch,
uns auf dem Gebiet der völkischen Metaphysik allzuweit vorzuwagen.
Die
Kreisstadt Gori, 76 Kilometer von Tiflis entfernt, an der transkaukasischen
Eisenbahnlinie gelegen, breitet sich in malerischer Umgebung an den Ufern des
Kur aus. Eine der ältesten Städte Georgiens, hat Gori eine dramatische
Geschichte. Der Überlieferung nach wurde es im 12.
Jahrhundert von Armeniern gegründet, die vor den Türken geflüchtet waren. Sie
wurde mehrmals geplündert, denn die Armenier, die frühzeitig die Klasse der
städtischen Händler bildeten, zeichneten sich durch große Wohlhabenheit aus und
stellten ein willkommenes Beuteobjekt dar. Wie alle Städte Asiens wuchs Gori
langsam, nur nach und nach nahm es vom Lande kommende Georgier und Tataren in
seinen Mauern auf. Um die Zeit, da sich der Schuhmacher Wissario
Dschugaschwili, der seinen Geburtsort, das Dorf Didi-Lilo, verlassen hatte, in
Gori niederließ, zählte die Stadt ungefähr 6000 Einwohner verschiedensten
Herkommens; sie besaß mehrere Kirchen, viele Läden und zahlreiche Schankstuben,
in denen die Bauern der Umgebung verkehrten, ein Lehrerseminar mit einer
tatarischen Abteilung, eine Mittelschule und eine höhere Töchterschule.
Erst 14
Jahre vor der Geburt Josefs, des zukünftigen Generalsekretärs, wurde im
Gouvernement Tiflis die Leibeigenschaft aufgehoben. Ihre Nachwirkungen drückten
den gesellschaftlichen Beziehungen und den Sitten noch den Stempel auf. Ob die
Eltern Josefs lesen und schreiben konnten, ist zweifelhaft. Allerdings
erschienen in Transkaukasien fünf georgische Tages-zeitungen, aber ihre
Gesamtauflage erreichte noch keine 4000 Exemplare. Das Leben der Bauernschaft
verlief abseits der Geschichte.
Mit seinen
krummen Gassen, seinen weit auseinander liegenden Gehöften, seinen Obstgärten,
glich Gori einem großen Dorf. Die Häuser der Armen unterschieden sich kaum von
Bauernkaten. Die Dschugaschwilis wohnten in einer alten Hütte aus Lehmziegeln,
deren Ecken mit Mauersteinen abgestützt worden waren und deren
sandsteingedecktes Dach längst Regen und Wind durchließ. Ein ehemaliger
Schulkamerad Josefs, D. Gogochia, beschreibt die Behausung mit folgenden
Worten: »Das Wohnzimmer war nicht größer als neun Arschin im Quadrat Zehn
Quadratmeter (Anm. d. Übers.). und lag neben der Küche. Man trat vom Hof aus
gleich ins Zimmer; der Fußboden war mit Backsteinen ausgelegt. Durch ein
Fensterchen drang spärliches Licht. Ein kleiner Tisch, ein Schemel und ein
breiter Divan, so eine Art Klappbettstelle, mit einer Tschilopia bedeckt, einer
Strohmatte, das war das ganze Mobiliar.« Die laut ratternde alte Nähmaschine
der Mutter kam später hinzu.
Originaldokumente
über die Dschugaschwilis und die Kindheit Josefs sind bisher nicht
veröffentlicht worden. Sie dürften auch nicht sehr zahlreich
gewesen sein. Das Kulturniveau war so niedrig, daß man von der Ausstellung schriftlicher
Urkunden absah, so daß das zivile Leben der Bevölkerung fast keine offiziellen
Spuren hinterließ. Als damit begonnen wurde, Erinnerungen an die Familie
Dschugaschwili niederzuschreiben, hatte Stalin bereits die Fünfzig
überschritten. Die Erinnerungen sind teils von unversöhnlichen Feinden verfaßt
worden, die nicht immer peinlich genau waren und sich meist auf Angaben Dritter
stützten, teils sind sie durch gedungene »Freunde« auf Veranlassung von
Kommissionen für Parteigeschichte – sozusagen auf Bestellung – ausgearbeitet
worden, so daß sie zum allergrößten Teil nichts weiter darstellen als Aufsätze
über ein vorgeschriebenes Thema. Es wäre zu einfach, wollte man die Wahrheit
auf der Diagonale zwischen diesen beiden Deformationen suchen. Man kann jedoch
der Wahrheit näher kommen, wenn man die Texte miteinander vergleicht, das
Schweigen der einen, die Übertreibungen der anderen gegeneinander abwägt und
ein kritisches Urteil über den Zusammenhang alles Berichteten im Lichte der
späteren Ereignisse formuliert. Ohne zu versuchen, ein vollendetes Bild zu
geben, das doch nur gekünstelt sein könnte, werde ich mich bemühen, dem Leser
das Tatsachenmaterial zu unterbreiten, auf das sich meine Schlußfolgerungen und
Hypothesen stützen.
Die meisten
Einzelheiten finden sich in den 1932 in deutscher Sprache unter dem Titel »Stalin
und die Tragödie Georgiens« in Berlin veröffentlichten Lebenserinnerungen
des vorhin schon erwähnten J. Iremaschwili. Die politische Physiognomie des
Autors, eines ehemaligen Menschewiken, der eine Art Nationalsozialist wurde,
flößt kein großes Vertrauen ein. Dennoch darf seine Abhandlung nicht übergangen
werden. Aus mancher ihrer Seiten spricht unbezweifelbare Wahrheit. Selbst
solche vom Verfasser geschilderten Episoden, die auf den ersten Blick
unglaubwürdig erscheinen, haben ihre direkte oder indirekte Bestätigung in den
einige Jahre später veröffentlichten offiziellen Erinnerungen gefunden. Es sei
mir gestattet zu bemerken, daß die Hypothesen, zu denen ich auf Grund des
Schweigens und der Ausflüchte der sowjetischen Autoren gelangte, von dem Werk
Iremaschwilis bestätigt worden sind, das mir erst im allerletzten Augenblick
zur Kenntnis kam. Es wäre irrig zu glauben, daß Iremaschwili, Exilierter und
politischer Feind Stalins, diesen herabzusetzen oder in schwärzesten Farben zu
malen suche. Im Gegenteil, er spricht mit einer Nuance von Bewunderung und offensichtlicher Übertreibung von Stalins Fähigkeiten, er
stellt ihn dar, als sei er imstande, für seine Ideale Opfer zu bringen, mehr
als einmal betont er seine Anhänglichkeit an die Mutter und verweilt mit fast
rührenden Worten bei seiner ersten Heirat. Bei näherem Zusehen bemerkt man, daß
die Erinnerungen des ehemaligen Tifliser Hochschullehrers ein Dokument
darstellen, in dem mehrere Schichten von Dingen übereinander lagern. Zuunterst
Erinnerungen an eine ferne Kindheit, aber rückblickend gesehen, unter dem
Eindruck von Stalins späterem Geschick und beeinflußt von der Einbildungskraft
und den politischen Ansichten des Verfassers. Ferner müssen zweifelhafte, wenn
auch nebensächliche Details in Rechnung gestellt werden, die sich nur durch den
Wunsch erklären lassen, den gewisse Memoirenschreiber eben haben, ihrem
Erzeugnis einen vollendet »künstlerischen« Charakter zu geben. Nach diesen
Einschränkungen glauben wir, uns in der Folge auf Iremaschwilis Erinnerungen
berufen zu können.
Alle
früheren Biographen machen Stalin zum Sohn eines Bauern aus Didi-Lilo. Stalin
selbst hat sich, zum erstenmal 1926, ein Arbeiterkind genannt. Den Widerspruch
aufzulösen ist nicht schwer: wie die meisten russischen Arbeiter war Vater
Dschugaschwili in seinem Paß als Bauer bezeichnet worden. Das behebt die
Schwierigkeiten allerdings noch nicht. Er wird nämlich stets als »Arbeiter in
der Schuhfabrik Alichanow in Tiflis« bezeichnet. Die Familie wohnte jedoch in
Gori und nicht in der Hauptstadt des Kaukasus. Lebte der Vater von der Familie
getrennt? Das wäre nur möglich gewesen, wenn die Familie auf dem Lande
geblieben wäre; es ist aber völlig unwahrscheinlich, daß der Vater und die
Familie in verschiedenen Städten gelebt haben. Gogochia, Mitschüler Josefs auf
dem theologischen Seminar, der mit ihm auf demselben Hof gelebt, und
Iremaschwili, der ihn häufig besucht hat, sagen übrigens beide, daß Wissario
Dschugaschwili in Gori selbst arbeitete, in der Sobornaja-Straße, in der
Lehmhütte, deren Dach den Regen durchließ. So bleibt zu vermuten, daß der Vater
nur vorübergehend in Tiflis gearbeitet hat, vielleicht zu einer Zeit, als seine
Familie noch auf dem Dorfe war. In Gori kann Wissario Dschugaschwili schon
deshalb nicht Fabrikarbeiter gewesen sein, weil es dort gar keine Fabrik gab;
er war selbständiger kleiner Handwerker. Wenn über diesen Punkt absichtlich
Dunkel gebreitet wird, so zu dem Zweck, den Eindruck von Stalins »proletarischer«
Abstammung nicht zu schwächen.
Jekatherina Dschugaschwili wurde, wie die Mehrzahl der
Georgierinnen, sehr frühzeitig Mutter. Die ersten drei Kinder starben ihr
nacheinander in der Wiege. Als am 21. Dezember 1879 ihr viertes Kind geboren
wurde, war die Mutter kaum zwanzig Jahre alt. Mit sieben Jahren hatte Josef die
Blattern, die ihn fürs Leben als aus einem echt plebejischen und rückständigen
Milieu herstammend gekennzeichnet haben. Souvarine fügt zum blatternarbigen
Gesicht noch eine Verkrüppelung des linken Armes und zwei zusammengewachsene
Zehen, was nach seiner Meinung eine dem Alkohol geschuldete erbliche Belastung
väterlicherseits beweist. Die Trunksucht der Schuhmacher, wenigstens in
Zentralrußland, war sprichwörtlich. Doch ist es schwierig, den Grad von
Wahrheit zu bestimmen, der diesen Mutmaßungen zukommt, die Souvarine von
»verschiedenen Leuten«, wahrscheinlich menschewistischen Emigranten, zugetragen
worden sind. Das von der zaristischen Polizei ausgestellte Signalement Josef
Dschugaschwilis erwähnt keinerlei Verkrüppelung des linken Armes; die
zusammengewachsenen Zehen werden im Jahre 1902 von Oberst Schabelsky
verzeichnet. Möglich, daß die polizeilichen Dokumente vor ihrer
Veröffentlichung »gesäubert« worden sind, wenn auch in ungenügender Weise.
Andererseits muß unbedingt vermerkt werden, daß Stalin später von Zeit zu Zeit,
sogar bei Sitzungen des Politbüros, auf der linken Hand einen warmen Handschuh
trug. Wegen Rheumatismus – nahm man allgemein an. Schließlich sind jedoch diese
– wirklichen oder eingebildeten – körperlichen Merkmale nicht von großem
Interesse. Weitaus nützlicher dünkt uns zu versuchen, ein wahrheitsgetreues
Bild von den Eltern und den häuslichen Verhältnissen zu zeichnen.
Am
auffallendsten ist, daß die offiziellen Lebensbeschreibungen den Vater Wissario
fast gänzlich mit Schweigen übergehen und sich mit Sympathie bei dem harten
Alltag Jekatherinas aufhalten. So schreibt Gogochia: »Josefs Mutter verdiente
ihren kärglichen Lohn mit Wäschewaschen und Brotbacken in den reichen Häusern
von Gori. Sie mußte einen Rubel und fünfzig Kopeken Miete im Monat bezahlen,
und das ging manchmal über ihre Kräfte.« Auf diese Weise erfahren wir, daß es
die Mutter war und nicht der Vater, die die Miete aufbringen mußte. Und weiter:
»Die harte, mit Arbeit ausgefüllte Existenz der Mutter und die Armut prägten
Josefs Charakter«, als ob es keinen Vater in der Familie gegeben habe. Etwas
weiter fügt der Verfasser nebenbei folgenden Satz ein: »Josefs Vater Wissario
brachte den ganzen Tag bei der Arbeit zu, er reparierte und
nähte Schuhwerk.« Doch hat diese Arbeit nichts mit dem Leben und den
Existenzbedingungen der Familie zu tun. Man hat den Eindruck, als werde der
Vater nur erwähnt, um nicht eine zu offensichtliche Lücke entstehen zu lassen.
Ein anderer
Mitschüler vom Seminar, Glurdsidse, übergeht den Vater völlig und schreibt nur,
daß sich Josefs Mutter ihren Lebensunterhalt mit »Schneidern, Nähen und
Waschen« verdiente. Dies durchaus nicht zufällige Schweigen verdient um so mehr
Beachtung, als die lokalen Sitten weit davon entfernt waren, der Frau eine
führende Rolle in der Familie zuzuerkennen. Ganz im Gegenteil, die
altgeorgische Tradition, noch sehr lebendig unter den störrischen konservativen
Gebirglern, machte die Frau zur Haussklavin, sie duldete sie gerade eben noch
neben ihrem Herrn und Meister, verweigerte ihr jedes Mitbestimmungsrecht in
Familienangelegenheiten und erlaubte ihr nicht einmal, den eigenen Sohn zu
bestrafen. Sogar in der Kirche war der Platz der Mütter, Ehefrauen und Schwestern
hinter dem der Väter, Gatten und Brüder. Wenn die Verfasser der
Lebenserinnerungen die Figur der Mutter an die Stelle setzten, die dem Vater
zukommt, so deshalb, weil sie vermeiden wollen, von Wissario Dschugaschwili zu
sprechen. Die alte russische Enzyklopädie konstatiert erst die außerordentliche
Genügsamkeit der Georgier und fährt dann fort, daß es »zweifellos kein anderes
Volk auf der Welt gibt, das soviel Wein trinkt«. Als sich Wissario in Gori
niederließ, verlor er wahrscheinlich seine Weinberge; in der Stadt aber, wo die
Wirtshäuser nicht weit waren, machte der Wodka dem Wein erfolgreich Konkurrenz.
Die
Erinnerungen Iremaschwilis bekommen in diesem Zusammenhang von neuem einen
wahren Akzent. Wie die übrigen Autoren, aber fünf Jahre vor ihnen, spricht er
mit bewegter Sympathie von Jekatherina, ihrer Liebe zu dem einzigen Sohn, ihrer
Freundlichkeit zu dessen Spiel- und Schulkameraden. Als echte Georgierin war
Keke, wie sie genannt wurde, tief religiös. Gott, ihrem Manne, ihrem Sohne zu
dienen, darin bestand ihr arbeitsreiches Leben. Das ewige Nähen im dunklen
Zimmer schwächte ihre Sehkraft, und sie mußte frühzeitig eine Brille tragen.
Übrigens gilt die Frau im Kaukasus als alt, sobald sie die Dreißig um ein
weniges überschritten hat. Ihr mühseliges Leben erwarb Keke die Sympathie der
Nachbarn. Beso (Wissario), das Familienoberhaupt, war nach Iremaschwili ein
harter Mann und überdies ein gewissenloser Säufer. Den
größten Teil seines schmalen Verdienstes trug er in die Kneipe. Das ist der
Grund, weshalb die Mutter die doppelte Last der Miete und des Lebensunterhalts
für die Familie zu tragen hatte. In ohnmächtiger Wut mußte Keke zusehen, wie
das Kind durch Besos Mißhandlungen »von der Liebe zu Gott und den Menschen
abgebracht wurde und von seinem eigenen Vater angewidert war«. Unverdiente,
schreckliche Schläge machten das Kind ebenso hart und unerbittlich wie den
Vater. Voll Bitterkeit begann Josef über die ewigen Mysterien des Lebens
nachzugrübeln. Der vorzeitige Tod des Vaters verursachte ihm keinen Kummer – er
fühlte sich nun freier. Iremaschwili schließt daraus, daß das Kind frühzeitig
seinen verborgenen Groll und seine Rachsucht vom Vater auf alle diejenigen
übertrug, die irgendwelche Macht über ihn hatten oder haben sollten. »Von
frühester Jugend an hat er seiner Rachsucht alle anderen Bestrebungen
untergeordnet.« Diese Schlußfolgerung verliert ihre Bedeutung auch dann nicht,
wenn man berücksichtigt, daß sie ein Element rückschauender Einschätzung
enthält.
1930, als
Jekatherina 71 Jahre alt war und eine bescheidene Dienstbotenwohnung im
ehemaligen Palais des kaiserlichen Statthalters in Tiflis bewohnte, antwortete
sie den Journalisten, die sie mit Hilfe eines Dolmetschers befragten: »Sosso
(Josef) war immer ein artiger Junge ... Nie brauchte ich ihn zu bestrafen ...
Er war fleißig, las und diskutierte immerzu, wollte alle Dinge verstehen ... Er
war mein Einziger, natürlich habe ich ihn lieb gehabt ... Sein Vater wollte aus
ihm einen guten Schuster machen ... Aber sein Vater starb, als er 11 Jahre alt war
... Ich wollte nicht, daß er Schuster werde, ich wollte nur eins: er sollte
Priester werden.« Nun hat allerdings Souvarine bei den emigrierten Georgiern in
Paris ganz andere Auskünfte eingezogen: »Sie haben einen schon harten und
gefühllosen Sosso gekannt, ohne Achtung für die Mutter, und es sind recht
peinliche Dinge, auf die sich ihre Erinnerungen stützen.« Daß diese Auskünfte
von politischen Gegnern Stalins stammen, vermerkt der Biograph selbst. Unter
ihnen läuft so manche für Stalin wenig schmeichelhafte Legende um. Im Gegensatz
dazu hebt Iremaschwili die Anhänglichkeit Sossos an seine Mutter hervor. Etwas
anderes als Anhänglichkeit konnte das Kind auch nicht für die empfinden, die
die Familie versorgte und ihn gegen den Vater in Schutz nahm.
Der deutsche Schriftsteller Emil Ludwig,
Hofporträtmaler unserer Zeit, hat die Gelegenheit nicht ungenützt gelassen,
einmal im Kreml seine verfängliche Fragemethode anzuwenden, die mäßigen
psychologischen Scharfsinn mit politischer Behutsamkeit vereint. »Lieben Sie
die Natur, Signor Mussolini? Was denken Sie über Schopenhauer, Doktor Masaryk?
Glauben Sie an eine bessere Zukunft, Mister Roosevelt?« Dieser verbalen Folter
ausgesetzt und in Gegenwart des berühmten Ausländers befangen, zeichnete Stalin
mit einem Buntstift eifrig Blümchen und kleine Schiffe. Das behauptet
jedenfalls Ludwig. Dieser Autor hat auf dem verkrüppelten Arm Wilhelms von
Hohenzollern eine ganze psychoanalytische Biographie aufgebaut, die dann
allerdings vom alten Freud mit ironischem Staunen betrachtet wurde. Bei Stalin
hat Ludwig den verkümmerten Arm nicht beobachtet und natürlich noch viel
weniger die zusammengewachsenen Zehen. Doch wollte er die revolutionäre
Karriere des Herrn vom Kreml aus den Prügeln herleiten, die dieser als Kind vom
Vater bekommen hatte. Bei der Lektüre der Erinnerungen Iremaschwilis kommt man
auch darauf, wo die Quelle für die Emil Ludwigschen Vermutungen zu suchen ist.
»Was hat einen Rebellen aus Ihnen gemacht? Ging vielleicht der Anstoß davon
aus, daß Sie von Ihren Eltern schlecht behandelt wurden? – Nein, antwortet
Stalin, meine Eltern waren einfache Leute, aber sie haben mich durchaus nicht
schlecht behandelt ...« Diesen Worten dokumentarischen Wert beizumessen, wäre
falsch. Nicht nur, weil bei Stalin, wie wir noch oft sehen werden, Bejahung und
Verneinung mit Leichtigkeit ihren Platz tauschen, sondern auch deshalb, weil
sich jeder andere an Stalins Stelle wahrscheinlich ebenso geäußert hätte. Man
kann jedenfalls Stalin daraus keinen Vorwurf machen, daß er sich nicht
öffentlich über seinen längst verstorbenen Vater beschweren wollte. Vielmehr
kann man sich nur über den Mangel an Feingefühl bei dem sonst so ehrerbietigen
Schriftsteller wundern.
Es waren
aber nicht allein die widrigen häuslichen Verhältnisse, die dazu beitrugen,
eine so harte, eigenwillige und rachsüchtige Kinderpersönlichkeit zu formen.
Die viel stärkere Beeinflussung durch die soziale Umwelt wirkte sich in
gleichem Sinne aus. Einer der Biographen Stalins erzählt, wie manchmal Seine
Durchlaucht der Fürst Amilachwiri sein feuriges Roß vor der armseligen
Behausung des Schusters anhielt, um sich nach der Rückkehr von der Jagd seinen
Stiefel, der unterwegs einen Riß bekommen hatte, flicken zu
lassen, und wie des Schusters Sohn, ein Junge mit üppigem Haarwuchs, niedriger
Stirn, den Fürsten mit haßerfülltem Blick durchbohrte und die kindlichen Fäuste
ballte. Ein Bild, das uns eher ins Reich der Phantasie zu gehören scheint. Aber
der Kontrast zwischen der allgemeinen Armut und dem relativen Luxus der letzten
georgischen Feudalherren mußte im Bewußtsein des Knaben einen tiefen und
dauernden Eindruck hinterlassen.
Innerhalb
der eigentlichen Stadtbevölkerung herrschten ähnliche Verhältnisse. Die lokalen
Behörden, die unerreichbar hoch über den unteren Klassen standen, regierten die
Stadt im Namen des Zaren und des Fürsten Galitzin, eines allgemein und mit
Recht verhaßten finsteren Satrapen. Die Grundbesitzer und die armenischen
Kaufleute unterhielten die besten Beziehungen zu den Spitzen der Behörden. Die
plebejische Masse in der Stadt war trotz ihres niedrigen Lebensniveaus und zum
Teil gerade deswegen durch Kastenbarrieren getrennt. Erhob sich jemand noch so
wenig über seinen Nebenmann, so verteidigte er eifersüchtig seinen Rang. Der
Argwohn des Bauern aus Didi-Lilo der Stadt gegenüber wandelte sich in Gori in
die Feindschaft des armen Handwerkers gegen die reicheren Familien, zu denen
Keke nähen und waschen gehen mußte. Nicht weniger rauh machten sich die
sozialen Abstufungen in der Schule bemerkbar, wo die Kinder der Priester, der
Beamten und des Kleinadels Josef wohl öfter als einmal spüren ließen, daß er
nicht ihresgleichen war. Gogochia nach war der Schusterssohn gegenüber der
demütigenden sozialen Ungleichheit schon frühzeitig äußerst empfindlich. »Mit
reicheren Leuten wollte er nichts zu tun haben. Obwohl ich mehrmals täglich zu
ihm ging, kam er selten zu mir, weil mein Onkel, an den damaligen Verhältnissen
gemessen, das Leben eines wohlhabenden Mannes führte.« Solcherart waren die
ersten Anlässe eines noch eher instinktiven sozialen Protestes, der später,
unter dem Einfluß des politischen Gärungsprozesses im Lande, aus dem
Seminaristen einen Revolutionär machen sollte.
Die unteren
Schichten des Kleinbürgertums kennen nur zwei Arten von Karrieren für ihre
begabten oder einzigen Söhne: Beamter oder Geistlicher. Hitlers Mutter
erträumte für ihren Sohn die Pfarrerlaufbahn. Jekatherina Dschugaschwili, zehn
Jahre früher und in einer noch bescheideneren Umwelt, hegte dieselbe Hoffnung.
Dieser Traum – den Sohn im Priesterrock zu sehen – zeigt nebenbei schon, wie
wenig »proletarischer Geist« in der Familie des Schusters
Beso herrschte. Eine bessere Zukunft stellte man sich nicht als Folge des
Klassenkampfes, sondern als Ergebnis des Bruchs mit der eigenen Klasse vor.
Trotz ihres
niedrigen sozialen Ranges und ihrer Kulturlosigkeit gehörte die orthodoxe
Priesterschaft zu den bevorrechteten Schichten, war sie doch nicht nur vom
Militärdienst befreit, sondern auch von der Kopfsteuer und ... von der Knute.
Erst die Abschaffung der Leibeigenschaft ermöglichte den Bauern den Zutritt zum
geistlichen Stand; immerhin war dieses Privileg polizeilich eingeschränkt:
bevor ein Bauernsohn eine Anstellung in der kirchlichen Hierarchie erhalten
konnte, mußte er um die besondere Erlaubnis des Gouverneurs ansuchen.
Für die
Ausbildung der zukünftigen Priester standen etwa 20 Seminare zur Verfügung, auf
die die Schüler in Pfarrschulen vorbereitet wurden. Ihrem Rang im staatlichen
Erziehungssystem nach kamen die Seminare den Mittelschulen nahe, mit dem
Unterschied, daß im Seminar die weltlichen Fächer bloß als im Grunde müßiges
Beiwerk der Theologie galten. Im alten Rußland waren die »Bursy« (Pfarrschulen)
berüchtigt durch die erschreckende Roheit im Umgang, die mittelalterlichen
Unterrichtsformen, das Faustrecht, das dort herrschte – vom Schmutz, von der
Kälte, vom Hunger ganz zu schweigen. Alle von der Heiligen Schrift verdammten
Laster blühten auf diesen Mistbeeten der Frömmigkeit. Der Schriftsteller
Pomjalowski schuf sich mit einer Schilderung von rücksichtsloser
Wahrhaftigkeit, den »Otscherki Bursy« (»Skizzen aus der Pfarrschule«), einen
dauernden Platz in der russischen Literatur. Man kann nicht umhin, hier zu
zitieren, was sein Biograph von Pomjalowski selbst sagte: »Dieser Abschnitt
seiner Schulzeit entwickelte in ihm Mißtrauen, Verstellung, Feindseligkeit und
Haß gegen seine Umgebung.« Gewiß, die Reformen der Regierungszeit Alexanders II
brachten ein wenig frische Luft in die muffige Atmosphäre. Nichtsdestoweniger
blieben die Seminare, zumal die des entlegenen Transkaukasien, bis zum Ende des
vorigen Jahrhunderts die schlimmsten Schandflecke auf der »Kultur«karte von
Rußland.
Die
zaristische Regierung hatte schon seit langem den Widerstand der georgischen
Kirche gebrochen – was nicht ohne Blutvergießen abgegangen war – und sie der
Petersburger Synode unterstellt. Aber im niederen georgischen Klerus glomm die
Feindschaft gegen die Russifizierung weiter. Die Unterjochung ihrer Kirche
erschütterte die traditionelle Religiosität der Georgier und
bereitete den Boden für den Einfluß der Sozialdemokratie vor, nicht nur in der
Stadt, sondern auch auf dem Lande. In den Pfarrschulen wurde die Luft dabei nur
noch stickiger, war doch ihre Aufgabe nicht nur, ihre Schutzbefohlenen zu
russifizieren, sondern sie noch dazu auf ihre spätere Rolle als kirchliche
Seelenpolizei vorzubereiten. Zwischen Lehrern und Schülern herrschte erbitterte
Feindschaft. Die Unterrichtssprache war Russisch, das Georgische, dem nur zwei
Stunden wöchentlich gewidmet waren, wurde nicht selten mit Geringschätzung und
als Sprache einer minderwertigen Rasse behandelt.
Im Jahre
1890, sicherlich bald nach dem Tode des Vaters, trat der elf Jahre alte Sosso,
die Mappe aus Kaliko unterm Arm, in die Pfarrschule ein. Wie seine
Schulgefährten erzählen, lernte er seinen Katechismus und seine Gebete mit
großem Eifer. Gogochia bemerkt, daß Sosso dank seinem »außergewöhnlichen
Gedächtnis« seine Aufgaben während der Unterrichtsstunden auswendig lernte,
ohne sie zu Hause wiederholen zu brauchen. In Wirklichkeit ist Stalins
Gedächtnis – zumindest für theoretische Dinge – durchaus mittelmäßig. Auf alle
Fälle gehörte größte Aufmerksamkeit dazu, während des Unterrichts auswendig zu
lernen. Einst dem geistlichen Stande anzugehören, war zu jener Zeit zweifellos
Sossos höchstes Bestreben, das Ziel spornte seine Fähigkeiten und sein
Gedächtnis an. Ein anderer Mitschüler, Kapanadse, erklärt, er sei in 13
Studienjahren und der Lehrtätigkeit nie wieder »einem so begabten und fähigen
Schüler« begegnet wie Josef Dschugaschwili. Aber auch nach Iremaschwili – der
sein Buch in Berlin und nicht in Tiflis geschrieben hat – war Sosso in der
Pfarrschule der beste Schüler. Andere Äußerungen sind weitaus nuancierter. »In
den ersten Jahren, in den vorbereitenden Klassen«, schreibt Glurdsidse, »lernte
Josef vorzüglich; als er dann mit der Zeit immer glänzendere Gaben an den Tag
legte, wurde er einer der ersten Schüler.« Die vorsichtige Umschreibung »einer
der ersten« in diesem Artikel, der alle Merkmale der von oben bestellten
Lobrede trägt, zeigt nur allzu deutlich, daß Josef nicht der Beste, nicht der
Klassenerste, nicht ein außergewöhnlicher Schüler war. Die Aufzeichnungen eines
weiteren Schulkameraden, Elisabedaschwili, stimmen damit überein. »Josef«, sagt
er, »war einer der Ärmsten und einer der Begabtesten.« Mit anderen Worten,
nicht der Begabteste. Wir müssen annehmen, daß entweder seine Leistung in den
verschiedenen Klassen nicht die gleiche war, oder daß einige der
Memoirenschreiber, die selber wohl nicht zu den
Spitzentrupps der Gelehrsamkeit gehört haben dürften, Mühe hatten, die besten
Schüler zu unterscheiden.
Ohne seinen
Platz in der Klasse genau anzugeben, erklärt Gogochia, daß Josef an Begabung
und Kenntnissen »seine Mitschüler weit übertraf«. Sosso las alle Bücher aus der
Schulbibliothek, mit Einschluß der russischen und georgischen Klassiker, die
selbstverständlich von den Schulbehörden sorgfältig ausgewählt worden waren. Beim
Abschlußexamen erhielt Josef ein glänzendes Zeugnis, »für jene Zeit ein ganz
ungewöhnlicher Erfolg, weil sein Vater nicht zum Klerus gehörte, sondern nur
Schuhmacher gewesen war«. Wie bezeichnend ist das doch!
Im
allgemeinen sind die in Tiflis geschriebenen Erinnerungen an die »Jugendzeit
des Chefs« ziemlich fade. »Sosso ermunterte uns zum Chorgesang; mit seiner
klangvollen, gefälligen Stimme lehrte er uns die alten Volkslieder lieben.«
Beim Ballspiel »wußte er geschickt die besten Spieler auszuwählen, so daß
unsere Gruppe immer Gewinner war«. »Zeichnen lernte Josef wunderbar.« Nur hat
er von all diesen Qualitäten keine weiterentwickelt: Josef ist weder Sänger,
noch Sportsmann, noch Zeichner geworden. Noch weniger überzeugend klingen
solche Erzählungen: »Josef Dschugaschwili stach durch große Bescheidenheit
hervor; er war ein guter, gefühlvoller Kamerad.« »Niemals ließ er uns seine
Überlegenheit fühlen«, und so weiter. Wenn das alles wahr ist, muß sich Josef
im Laufe der Zeit in das Gegenteil seiner selbst verwandelt haben.
Josef
Iremaschwilis Erinnerungen sind weitaus lebendiger und wahrheitsgetreuer. Er
zeichnet von seinem Namensvetter das Bild eines langen, sehnigen,
sommersprossigen Burschen, der äußerst hartnäckig, verschlossen und eigensinnig
immer das Ziel zu erreichen wußte, das er sich gesteckt hatte, ob es sich nun
darum handelte, beim Spiel der Anführer zu sein, mit Steinen zu werfen oder auf
Felsen zu klettern. Sosso, obwohl naturliebend, hatte für die lebendige Kreatur
keine Sympathie, Mitleid mit Mensch und Tier war ihm fremd. »Ich habe ihn
niemals weinen sehen.« »Für die Freuden und Leiden seiner Kameraden hatte er
nur ein sarkastisches Lächeln.« All diese Erinnerungen mögen, wie der
Kieselstein im Bach, im Flusse der Zeit glattgeschliffen worden sein; erfunden
sind sie nicht.
Wo sich
Iremaschwili aber sicherlich täuscht, ist, wenn er Josef eine rebellierende
Haltung schon während der Schulzeit in Gori zuschreibt.
Josef hätte beinahe jeden Tag eine Strafe als Anstifter bekommen, besonders
wegen der Pfeifkonzerte gegen den »verhaßten Schulinspektor Butyrski«. Die
offiziellen Memoirenverfasser, hier doch ganz von Vorurteilen frei, machen alle
aus dem Josef jener Jahre einen Musterschüler, auch in bezug auf sein Betragen.
»Gewöhnlich war er ernst, unermüdlich«, schreibt Gogochia, »er liebte Unfug und
Possen nicht. Wenn die Schule aus war, lief er nach Hause, und immer sah man
ihn über ein Buch gebeugt.« Demselben Gogochia nach erhielt Josef von der
Schule ein monatliches Stipendium, was völlig unmöglich gewesen wäre, wenn er
es an Respekt seinen Vorgesetzten gegenüber hätte fehlen lassen, besonders
gegenüber dem »verhaßten Inspektor Butyrski«. Auch alle übrigen Verfasser
datieren die Anfänge der rebellischen Gemütsstimmung Josefs von den Tagen des
Tifliser Seminars her. Aber selbst von dort berichten sie nichts über seine
Beteiligung an stürmischen Protestkundgebungen. Der Irrtum Iremaschwilis und
einiger anderer in bezug auf Ort und Datum bestimmter Vorkommnisse erklärt sich
ganz natürlich dadurch, daß alle Schulkameraden im Seminar von Tiflis die
direkte Fortsetzung der Pfarrschule von Gori sahen. Weniger leicht erklärt
sich, warum Iremaschwili als einziger davon spricht, Josef habe
Lärmkundgebungen angezettelt. Ist das einfach nur eine Lücke im Gedächtnis?
Oder sollte Josef bei manchen »Konzerten« eine Rolle im verborgenen gespielt
haben, von der nur wenige seiner Kameraden informiert waren? Zum Charakter des
zukünftigen Verschwörers würde das nicht schlecht passen.
Zu welchem
Zeitpunkt Josef mit dem Glauben seiner Väter brach, ist nicht klar ersichtlich.
Iremaschwili nach sang Sosso gern mit zwei anderen Schuljungen während der
Sommerferien im Kirchenchor, auch dann noch, als er später – in den oberen
Schulklassen – nicht mehr gläubig war. Glurdsidse will sich erinnern, daß ihm
der dreizehnjährige Josef eines Tages erklärte: »Weißt du, sie betrügen uns. Es
gibt keinen Gott ...« Und als Antwort auf des Gesprächspartners bestürzten
Ausruf empfiehlt Josef ihm die Lektüre eines Buches, aus dem klar hervorginge,
»daß das Gerede von Gott leeres Stroh ist«. Was für ein Buch? »Darwin. Das mußt
du unbedingt lesen!« Der Name Darwin unterstreicht die ganze Unglaubhaftigkeit
dieser Episode. Ein dreizehnjähriger Junge, in einem noch ganz
hinterwäldlerischen Landstädtchen, konnte kaum Darwin gelesen und atheistische Schlußfolgerungen aus ihm gezogen haben. Seinen eigenen Worten
nach fand Stalin den Weg zu revolutionären Ideen im Alter von 15 Jahren, also
erst in Tiflis. Sicherlich kann er schon vorher mit der Religion gebrochen
haben. Doch ist es ebensogut möglich, daß Glurdsidse, der ebenfalls nach der
Pfarrschule auf das Seminar kam, die Daten durcheinander wirft und um einige
Jahre vorgreift. Es gehörte wahrhaftig nicht viel dazu, sich von einem Gott
loszusagen, in dessen Namen man die Schüler drangsalierte. Immerhin erhielt die
innere Anstrengung, die ein Bruch mit dem Glauben erforderte, dadurch ihren
Lohn, daß nunmehr dem ganzen Lehrkörper und den Autoritäten überhaupt der
moralische Grund unter den Füßen weggezogen war. Lehrer und Schulleiter konnten
jetzt ihre Brutalität nur noch auf das Recht des Stärkeren gründen. Daher die
so aufschlußreiche Redewendung Sossos: »Sie betrügen uns!« Es hat wenig zu
sagen, wann und wo die Unterhaltung stattgefunden hat, ob in Gori oder zwei
Jahre später in Tiflis.
Was den
Zeitpunkt von Josefs Immatrikulation im Seminar anbetrifft, so lassen die
offiziellen Veröffentlichungen die Wahl zwischen drei verschiedenen Daten:
1892, 1893, 1894. Wie lange blieb er auf dem Seminar? Sechs Jahre, antwortet
der »Kommunistische Almanach«. Fünf Jahre, stellt die von Stalins Sekretariat
verfaßte biographische Skizze fest. Vier Jahre, versichert sein ehemaliger
Schulkamerad Gogochia. Die Gedenktafel am Gebäude des früheren Seminars
verkündet, soviel man auf ihrer Fotografie erkennen kann, daß der »Große
Stalin« vom 1. September 1894 bis zum 21. Juli 1899, also fünf Jahre lang,
hinter den Mauern des Seminargebäudes studierte. Ist anzunehmen, daß die
offizielle Geschichtsschreibung die Daten deshalb nicht präzisiert, weil sie
den Seminaristen Dschugaschwili in einem schon etwas vorgerückten Alter
erscheinen lassen? Wir ziehen es vor, uns an die Gedenktafel zu halten, deren
Daten aller Wahrscheinlichkeit nach dem Schülerverzeichnis des Seminars
entnommen worden sind.
Das
Abgangszeugnis von Gori mit dem »Betragen lobenswert« in der Mappe, kam der
fünfzehnjährige Josef im Herbst des Jahres 1894 zum erstenmal in eine große
Stadt, die natürlich sein Staunen erregen mußte: Tiflis, ehedem Sitz der Zaren
von Georgien. Die halb asiatische, halb europäische Stadt beeindruckte den
Jüngling aufs tiefste und für sein ganzes Leben. In den fünfzehn Jahrhunderten
ihrer Geschichte war die Stadt Tiflis so manchesmal in die
Hände ihrer Feinde gefallen; sie war fünfzehnmal geplündert und mehrmals bis
auf ihre Grundmauern zerstört worden. Die Einfälle der Araber, Türken und
Perser hatten in der Architektur und den Volkssitten ihren Niederschlag
gefunden; Spuren davon sind bis heute erhalten geblieben. Die europäischen
Stadtteile entstanden nach der russischen Eroberung, als die einstmalige
Hauptstadt Provinzvorort und Verwaltungszentrum von Transkaukasien geworden
war. Zur Zeit von Josefs Eintritt ins Seminar zählte Tiflis mehr als 150 000
Einwohner. Ein Viertel davon waren Russen, meist Angehörige religiöser Sekten,
von denen viele in den Kaukasus verschickt wurden, und außerdem Militär- und
Zivilbeamte. Handel und Industrie lagen von alters her in den Händen der
Armenier, dem zahlreichsten (38 v. H.) und wohlhabendsten Bevölkerungsteil. Die
Georgier, noch eng mit ihrem Dorf verbunden und wie die Russen ungefähr ein
Viertel der Bevölkerung ausmachend, stellten die Handwerker, Kleinhändler,
unteren Zivilbeamten und Unteroffiziere. »Hinter modernen Straßen von
europäischem Charakter«, heißt es in einer 1901 veröffentlichten Beschreibung
der Stadt, »erstreckt sich das Labyrinth der Gäßchen, eng, winklig, schmutzig,
ganz asiatisch, mit kleinen Plätzchen, mit Basaren, mit wie im Orient offenen
Läden, Kaffeehäusern, Friseurstuben und voll von schreienden Trägern,
Wasserschleppern, Botenjungen, Berittenen, Packeseln, Maultieren und
Kamelkarawanen.« Keine Kanalisation, Wassermangel in der glühendsten
Sommerhitze, beißender, sich überall einfressender Staub, Petroleumlampen in
der Stadtmitte, überhaupt keine Beleuchtung in den Vorstadtstraßen – das war
das Bild, das der Mittelpunkt des transkaukasischen Kultur- und
Verwaltungslebens um die Jahrhundertwende bot.
»Man brachte
uns in ein vierstöckiges Haus«, berichtet Gogochia, der mit Josef zusammen
ankam, »und führte uns in einen riesigen Schlafsaal, in dem 20 oder 30 Mann
Platz hatten. Wir waren im Seminar von Tiflis.« Dank seinen guten Noten von der
Pfarrschule her wurde Josef mit voller Pension ins Seminar aufgenommen;
Kleider, Schuhe und Lehrbücher waren inbegriffen. Unterstreichen wir nochmals,
daß das ausgeschlossen gewesen wäre, wenn er als Rebell gegolten hätte. Wer
weiß, vielleicht hofften die hohen Behörden, daß er eines Tages eine Leuchte
der Georgischen Kirche werden würde? Wie in der Vorschule, wurde auch hier der
Unterricht in russischer Sprache erteilt. Die meisten Lehrer waren Russen ihrer
Nationalität und »Russifizierer« ihrer Berufung nach.
Georgier wurden zur Lehrtätigkeit nur zugelassen, soweit sie besonderen Eifer
an den Tag legten. Der Rektor war ein russischer Mönch namens Hermogenes; der
Inspektor Abaschidse, ein georgischer Mönch, war gefürchtet und verhaßt im
ganzen Seminar. Iremaschwili, der nicht nur die erste, sondern auch die
ausführlichste Beschreibung des Seminars geliefert hat, sagt:
»Das Leben
in der Schule war eintönig und düster. Tag und Nacht von Kasernenwänden
umgeben, fühlten wir uns wie unschuldig zu jahrelanger Haft Verurteilte. Wir
waren alle verdrossen und vergrämt. Die Mauergänge, die uns von der Außenwelt
abschlossen, erstickten alle jugendliche Fröhlichkeit. Wenn unser junges
Temperament dennoch manchmal durchbrach, dämpften es die Mönche und Aufpasser
sofort. Das Lesen georgischer Literatur und Zeitungen hatte die zaristische
Schulinspektion verboten ... Sie fürchteten, daß unsere jungen Gemüter von der
Idee der Freiheit und Unabhängigkeit unseres Landes und den neuen
sozialistischen Lehren angesteckt werden könnten. Selbst die wenigen
literarischen Werke, die die weltlichen Autoritäten zuließen, wurden uns von
den geistlichen Autoritäten verboten, weil wir zukünftige Priester waren. Die
Bücher von Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew blieben für uns unerreichbar.«
Der
Tagesablauf war wie in einer Kaserne oder einem Gefängnis geregelt. Morgens
sieben Uhr: Beten, Teetrinken. Dann ins Klassenzimmer, wieder Beten.
Unterricht, mit kleinen Pausen, bis 2 Uhr nachmittags. Beten, Mittagessen.
Essen: wenig und schlecht. Ausgang nur zwischen 3 und 5 Uhr. Dann Torschluß,
Appell. Um 8 Uhr Teetrinken, Schularbeiten. Um 10 Beten und dann ins Bett. »Wie
in einem Verließ fühlten wir uns«, sagt Gogochia. »An Sonn- und Feiertagen
mußten wir während des Gottesdienstes drei bis vier Stunden stehen, immer auf
demselben Fleck, auf den Steinfliesen der Kirche; die Füße taten uns weh; die
Mönche ließen uns nicht aus den Augen. Auch dem Frömmsten wurde der Geschmack
am Beten durch den nichtendenwollenden Gottesdienst verdorben. Wir verbargen
unsere Gedanken hinter den devoten Mienen, die wir vor den wachsamen Mönchen
zur Schau trugen.«
Wie üblich
gingen Frömmigkeit und Schnüffelei Hand in Hand. Inspektor Abaschidse,
mißtrauisch und feindselig, paßte scharf auf, womit die Schüler sich
beschäftigten und wie sie ihre Freizeit verbrachten. Öfter als einmal fanden
die Seminaristen, wenn sie vom Essen in den Schlafsaal
zurückkamen, die frischen Spuren einer Spinddurchsuchung; häufig nahmen die
Mönche Leibesvisitationen an ihnen vor. Strafen wurden in der schmählichsten
Form erteilt: Dunkelzelle, die selten unbesetzt war; schlechte Noten, die alle
Hoffnungen zunichte machten; schließlich Hinauswurf aus dem Allerheiligsten.
Die körperlich Schwachen wanderten vom Seminar auf den Friedhof. Der Weg zum
Heil ist mit Dornen bestreut!
Die
seminaristischen Erziehungsmethoden fußten auf dem jesuitischen System der
Zähmung junger Seelen, das aber in primitiver, roher Form angewandt wurde und
darum wenig wirkungsvoll war. Den Ausschlag aber gab die damals im Lande
herrschende, der Demut nicht sehr förderliche Situation. In so gut wie allen
der 60 Seminare Rußlands gab es, meist unter dem Einfluß von
Universitätsstudenten, eine Reihe von Schülern, die das Priestergewand schon
ablegten, bevor sie es überhaupt wirklich angetan hatten, die auf die
theologische Scholastik nur noch mit Verachtung herabsahen, die Ideenromane
lasen, fortschrittliche russische Zeitungen, populäre Schriften über Darwin und
Marx. Im Tifliser Seminar hatte der revolutionäre Geist, von außen durch die
nationalen und freiheitlichen Tendenzen genährt, schon eine gewisse Tradition.
Vor längerer Zeit war er einmal in einem scharfen Konflikt mit der Lehrerschaft
zum Ausbruch gekommen, wobei sich die Empörung offen Luft gemacht hatte und der
Rektor sogar umgebracht worden war. Zehn Jahre vor Stalins Immatrikulation
hatte der Seminarist Sylvester Dschibladse einen Lehrer tätlich angegriffen,
der sich über die georgische Sprache abfällig geäußert hatte. Dschibladse ist
später Mitbegründer der kaukasischen sozialdemokratischen Bewegung und einer
der Lehrmeister Josef Dschugaschwilis geworden.
1885 tauchten
in Tiflis die ersten sozialistischen Zirkel auf, in denen ehemalige
Seminaristen gleich einen führenden Platz einnahmen. An der Seite Sylvester
Dschibladses begegnen wir hier Noah Jordania, dem späteren Führer der
georgischen Menschewiki, Nikolaus Tschcheidse, dem späteren Duma-Abgeordneten
und Vorsitzenden des Petrograder Sowjets in den Monaten der Februarrevolution
von 1917, und vielen anderen, die dazu bestimmt sein sollten, eine
hervorragende Rolle in den politischen Bewegungen des Kaukasus und des ganzen
Landes zu spielen. Der Marxismus befand sich in Rußland noch in seinem
»Intelligenzler«-Stadium. Das Tifliser Priesterseminar konnte nur deshalb zum Hauptherd marxistischer Ansteckung im Kaukasus
werden, weil es keine Universität gab. In rückständigen,
nicht-industrialisierten Regionen wie Georgien wurde der Marxismus in besonders
abstrakter, um nicht zu sagen scholastischer Form aufgenommen. Schließlich
hatten ja die Seminaristen einige Übung im Gebrauch logischer Deduktionen. Doch
war der tiefere Grund für das Interesse, das der Marxismus fand, natürlich die
soziale und nationale Unzufriedenheit des Volkes, die die jungen Bohemiens dazu
trieb, eine Lösung auf dem Wege der Revolution zu suchen.
Josef hatte
also in Tiflis gar nicht die Möglichkeit, neue Wege zu bahnen, wie uns die
sowjetischen Plutarche glauben machen möchten. Die Wände des Seminars zitterten
noch vom Schall der Dschibladseschen Ohrfeige. Ehemalige Seminaristen führten
den linken Flügel der öffentlichen Meinung in der Stadt; sie hatten den Kontakt
mit dem Seminar, dieser ihrer Stiefmutter, nie aufgegeben. Eine zufällige
Begegnung, eine flüchtige Bemerkung genügten oft, um die unzufriedenen,
spannungsgeladenen, stolzen Jünglinge, denen nur die Formel fehlte, die ihnen
erlaubte, sich selbst zu finden, auf den Weg der Revolution zu führen. Der
erste Schritt auf diesem Wege mußte der Bruch mit der Religion sein. Wenn
anzunehmen ist, daß Josef von Gori einen mehr oder weniger stark erschütterten
Glauben mitbrachte, so tat das Seminar alles, auch die letzte Spur davon zu
beseitigen. Er verlor bald den Geschmack an der Theologie.
»Er war
derart strebsam, daß er uns allen in seinen Leistungen weit voraus war«,
schreibt Iremaschwili. Das kann höchstens für eine ganz kurze Zeitspanne
richtig gewesen sein. Glurdsidse bemerkt, daß sich Josef »für Geschichte und
Logik« interessierte und sich mit dem übrigen Lehrstoff nur soweit
beschäftigte, als es für die Examen erforderlich war. Er wandte sich von der
Heiligen Schrift ab und der weltlichen Literatur zu, den Naturwissenschaften,
den sozialen Fragen. Schüler aus den Oberklassen unterstützten ihn darin.
»Nachdem sie seine Begabung und Wißbegier bemerkt hatten, begannen sie, mit ihm
zu diskutieren und besorgten ihm Zeitschriften und Bücher«, berichtet Gogochia.
»Bücher waren seine besten Freunde, er trennte sich auch beim Essen nicht von
ihnen«, bestätigt Glurdsidse. Der Hunger nach Lektüre war ganz allgemein für
diese Jahre des Aufbruchs charakteristisch. Nachdem die Mönche ihre letzte
Runde in den Schlafsälen gemacht und die Lampen gelöscht hatten, holten die jungen Verschwörer Kerzen und Bücher aus den Verstecken hervor,
und bei flackerndem Licht begannen sie zu lesen. Josef, vom nächtelangen Lesen
kränklich geworden, sah immer schlechter aus. »Oft«, erzählt Iremaschwili,
»wenn er zu husten anfing, nahm ich ihm die Bücher weg und löschte seine Kerze
aus.« Glurdsidse zählt die Dichter auf, die heimlich verschlungen wurden:
Tolstoi, Dostojewski, Shakespeare, Schiller; Lipperts »Geschichte der Kultur«; Pisarew,
der fortschrittliche russische Publizist. »Manchmal lasen wir sogar während des
Gottesdienstes heimlich in der Kirche.«
Den
stärksten Eindruck machte auf Josef um jene Zeit die georgische
Nationalliteratur. Iremaschwili beschreibt die ersten revolutionären
Temperamentsausbrüche, wobei sich noch ein ganz jugendfrischer Idealismus mit
plötzlich erwachenden persönlichen Ambitionen paarte. »Sosso und ich«, sagt er,
»sprachen oft über das tragische Schicksal Georgiens. Von den Werken des
Dichters Schota Rustaweli waren wir ganz hingerissen ...« Sosso erwählte sich
Koba zum Vorbild, den Helden der Romanze »Nunu« des Georgiers Rustaweli, des
Verfassers von »Kasbek«. Durch Verrat erleiden die unterdrückten Gebirgler eine
Niederlage in ihrem Kampf gegen die Zarengewalt; die letzten Reste ihrer alten
Freiheit werden ihnen genommen, aber der Führer der Revolte opfert alles, sogar
sein Leben, für die Sache des Vaterlandes und für sein Weib Nunu. Von da an war
Koba »ein Gott für Sosso ... Er wollte selbst ein zweiter Koba werden, ein
Kämpfer und Held, und ebenso berühmt wie der erste«. Josef legte sich selbst
den Namen des Führers der rebellischen Hochländer zu und wollte nicht mehr
anders genannt werden. »Stolz und Freude malten sich auf seinem Gesicht, wenn
wir ihn mit Koba anredeten. Lange Jahre hindurch behielt Sosso diesen Namen
bei, der auch sein erster Deckname wurde, als er als Propagandist für die
Partei tätig zu sein und zu schreiben begann. In Georgien nennt ihn jetzt noch
jedermann ›Koba‹ oder ›Koba-Stalin‹.« Über diese Begeisterung des jungen Josef
für nationale georgische Bestrebungen lassen die offiziellen Biographen nichts
verlauten. Der Stalin, den sie vor uns erstehen lassen, war gleich ein
vollendeter Marxist. Bei dem naiven »Marxismus« jener ersten Periode vertrugen
sich die nebelhaften sozialistischen Ideen aber durchaus mit »Kobas« nationaler
Romantik.
In einem
Jahre entwickelte sich Josef, nach Gogochia, zu solcher Reife, daß er im
nächsten Jahre schon Leiter einer Gruppe von
Studienkameraden wurde. Und wenn wir Beria vertrauen können, dem offiziellsten
aller offiziellen Historiker, dann »leitete Stalin von 1896 bis 1897 zwei
marxistische Gruppen auf dem Kirchenseminar von Tiflis«. Stalin selbst ist nie
von irgendjemand geleitet worden. Viel lebendiger ist Iremaschwilis Bericht:
Zehn Seminaristen, darunter Sosso Dschugaschwili, schlossen sich heimlich zu
einem sozialistischen Kreis zusammen. »Ein zum Leiter gewählter älterer
Schüler, Devdariani, nahm seine Sache sehr ernst.« Er stellte ein Studienprogramm
auf, oder ließ es sich vielmehr von seinen Verbindungsleuten außerhalb des
Seminars ausarbeiten, wonach sich alle Gruppenmitglieder in sechs Jahren zu
vollgültigen, sozialdemokratischen Führern heranzubilden hatten. Das Programm
begann mit der Kosmogonie und endete mit der kommunistischen Gesellschaft. Auf
den geheimen Zusammenkünften wurden Schriften gelesen und heiß diskutiert. Nach
Gogochia beschränkte sich die Gruppe nicht auf mündliche Propaganda. Josef sei
der »Gründer und Herausgeber« einer handgeschriebenen Zeitschrift in
georgischer Sprache gewesen, die zweimal monatlich erschien und von Hand zu
Hand ging. Der wachsame Abaschidse fand eines Tages bei Josef »ein Notizbuch
mit einem Artikel für unsere Zeitung«. Publikationen dieser Art, von ihrer
Tendenz ganz abgesehen, waren strengstens verboten, nicht nur in kirchlichen,
sondern überhaupt in allen Erziehungsinstituten. Nachdem das Resultat der
Abaschidseschen Entdeckung nur eine »Verwarnung« und eine schlechte Note in
Betragen war, können wir wohl annehmen, daß es sich um eine ziemlich
unschuldige Zeitschrift gehandelt hat. Vermerken wir noch, daß der an Details
sonst so reiche Iremaschwili von einer Zeitschrift überhaupt nichts erwähnt.
Auf dem
Seminar muß Josef seine Armut noch bitterer gespürt haben als vorher auf der
Schule. »Niemals hatte er Geld«, sagt Gogochia hierüber, »während wir anderen
von daheim Taschengeld und Pakete bekamen. Josef konnte sich in den Freistunden
in der Stadt keins von den Dingen kaufen, die für die Söhne aus begüterten
Familien ohne weiteres erschwinglich waren.« Um so ausschweifender waren seine
Träume und Zukunftspläne, um so zügelloser ließ er den Schulkameraden gegenüber
den tiefsten Instinkten seiner Natur freien Lauf.
»Als Kind
und junger Mann«, meint Iremaschwili, »war er gut Freund mit allen, die sich
seinem Willen unterwarfen.« Aber auch mit niemandem sonst. Er zeigte seinen
despotischen Charakter im Kreise der Kameraden um so
offener, je mehr er sich in Gegenwart des Lehrpersonals zusammennehmen mußte.
Die geheime Gruppe, abgeschnitten von der übrigen Welt, wurde für Josef zum
geeigneten Feld, auf dem er die eigene Stärke zeigen und an der
Widerstandskraft der anderen ausprobieren konnte. »Es schien ihm wider die
Natur, daß ein anderer Leiter und Organisator der Gruppe sein sollte, wo er
doch das meiste Diskussionsmaterial auf den Versammlungen vorlas.« Wer immer es
wagte, ihn widerlegen oder ihm auch nur etwas erklären zu wollen, zog sich
seine »gnadenlose Feindschaft« zu. Er verstand sich darauf, Rache zu nehmen,
den Gegner zu verfolgen, seine schwachen Stellen auszunützen. Unter solchen
Umständen konnte das solidarische Gefühl, das die Gruppe ursprünglich verband,
nicht lange dauern. »Mit seinem anmaßenden Wesen und seinem giftigen Zynismus«
infizierte der für seine unbedingte Vorherrschaft kämpfende Koba »den
Freundesbund mit persönlichen Streitigkeiten«. Wie oft wird noch im Laufe von
Kobas Leben Beschwerde geführt werden über seinen »giftigen Zynismus«, über
seine Grobheit, seine Rachsucht!
In einer von
Essad Bey verfaßten, reichlich phantastischen Stalin-Biographie wird erzählt,
daß der junge Josef vor seinem Eintritt ins Seminar in Tiflis in Gesellschaft
der »Kintos« – Bohemiens, Deklassierte, Spaßmacher, Weise und Zyniker – ein
Vagabundenleben geführt und daß er bei ihnen die Derbheit und Abgebrühtheit und
die Virtuosität im Fluchen erworben habe. Es steht fest, daß das reine
Erfindungen sind. Josef kam von der Pfarrschule direkt aufs Seminar, und für
eine »Vagabundenzeit« bleibt kein Platz. Der Spitzname »Kinto« nimmt aber
tatsächlich im kaukasischen Schimpfwörterlexikon keinen geringen Platz ein. Er
bezeichnet den gewandten Ränkeschmied, den Zyniker, den Menschen, der »zu allem
imstande« ist. Auf Stalin angewandt hörte ich ihn zum erstenmal aus dem Munde
des alten georgischen Bolschewiken Philipp Macharadse. Ist es so undenkbar, daß
sich Josef diesen Spitznamen schon in jungen Jahren erworben hat? Jedenfalls
scheint hierin der Grund für die Legende von seiner Vagabundenzeit zu liegen.
Derselbe
Biograph spricht von der »schweren Faust«, mit der sich Josef Dschugaschwili
sein Übergewicht gesichert haben soll, wenn ihm friedlichere Mittel als
unzulänglich erschienen. Auch das ist schwer zu glauben. Das Risiko der
»direkten Aktion« auf sich zu nehmen, lag niemals in Stalins Charakter und dürfte auch in jenen Jahren schon nicht sein Fall gewesen
sein. Wenn es zu tätlichen Auseinandersetzungen kam, zog er es vor, andere
loszuschicken, die er immer zu finden verstand, und selbst im Schatten oder
noch lieber ganz hinter den Kulissen zu bleiben. »Was ihm Anhänger
verschaffte«, sagt Iremaschwili, »war die Angst vor seinen Wutanfällen und
seinem bissigen Spott. Seine Gefolgsleute unterstellten sich seiner Führung,
weil sie sich unter seiner Fuchtel sicher fühlten. Nur geistig arme, aber
kampflustige Menschentypen konnten seine Freunde werden ...« Das Ergebnis
konnte nicht ausbleiben: einige Mitglieder zogen sich aus der Gruppe zurück,
andere nahmen kaum noch an den Diskussionen teil. »Zwei Gruppen, eine ›für‹ und
eine ›gegen‹ Koba, bildeten sich im Laufe weniger Jahre; der Kampf für die
Sache artete in widerwärtigen persönlichen Streit aus ...« Die erste, aber
keineswegs letzte große »Katzbalgerei« in Josefs Lebenslauf. Manch andere
sollte folgen.
Hier drängt
sich die Erinnerung daran auf, chronologisch allerdings erst in ein späteres
Kapitel gehörend, wie Stalin, bereits Generalsekretär der Kommunistischen
Partei, nachdem er auf einer der Sitzungen des Zentralkomitees ein
deprimierendes Bild der persönlichen Intrigen und Streitigkeiten in den
verschiedensten Ortskomitees der Partei entworfen hatte, ganz unerwarteterweise
verkündete: »Aber diese Katzbalgereien haben auch ihre positive Seite, weil sie
die Bildung einer monolithischen Führung fördern.« Überrascht sahen sich seine
Zuhörer gegenseitig an; der Redner aber fuhr unbekümmert fort. Selbst in seinen
Jugendjahren ging es Stalin bei dem »Monolithismus«, den er zu verwirklichen
strebte, nicht um den, der von einer Idee geschaffen und erhalten wird. »Für
Stalin handelte es sich« nach Iremaschwili »nicht darum, die Wahrheit zu finden
und festzulegen; er war imstande, zu bestreiten oder zu verteidigen, was er ein
andermal behauptet oder verurteilt hatte. Nur Sieg und Überlegenheit zählten
für ihn.«
Die
Ansichten Josefs in jener Zeit kennen wir nicht, da sie keine schriftlichen
Spuren hinterlassen haben. Sosso Iremaschwili nach war sein Namensvetter für
das gewaltsamste Vorgehen und für die »Diktatur der Minderheit«. Hier springt
die Beeinflussung der Arbeit des Gedächtnisses durch tendenziöse
Einbildungskraft ins Auge; am Ende des vorigen Jahrhunderts existierte die
»Diktatur«-Frage überhaupt noch nicht. »Die extremistischen Auffassungen
Kobas«, fährt Iremaschwili fort, »haben sich nicht in der
Folge von ›objektiven Studien‹ herausgebildet, sondern waren das natürliche
Produkt persönlichen Machtwillens und rücksichtslosen Ehrgeizes, von denen er
physisch und geistig beherrscht war.« Es geht darum, in der unbezweifelbaren
Voreingenommenheit des ehemaligen Menschewiken den Kern von Wahrheit zu
entdecken; in Stalins physischem Leben stand das praktisch-persönliche Ziel
immer über der theoretischen Wahrheit, und der Wille spielte eine weitaus
größere Rolle als der Intellekt.
Iremaschwili
macht eine weitere psychologische Bemerkung, die, obwohl auch sie ein Element
nachträglicher Einschätzung enthält, doch äußerst treffend ist: Josef »sah bei
allen und in allem nur die negative, schlechte Seite und glaubte überhaupt
nicht an ideale Motive und menschliche Qualitäten«. Dieser grundlegende Zug,
der bei ihm schon in der Jugendzeit deutlich zutage trat, zu einer Zeit also,
in der gewöhnlich über die Welt noch ein idealer Schimmer gebreitet liegt, wird
zum Leitmotiv für Josefs Biographie. Gerade deswegen mußte Stalin, trotz
anderer hervorstechender Charakterzüge, in Zeiten geschichtlichen Aufschwungs,
in denen die Massen Selbstlosigkeit und Heroismus in ihren höchsten Formen
entwickeln, im Hintergrund bleiben. Umgekehrt konnten sein Zynismus, sein
Mißtrauen, seine Fähigkeit, die niedrigsten Instinkte der Menschen auszunützen,
in Zeiten der Reaktion, die Egoismus und Perfidie herausbilden, weiten
Spielraum finden.
Josef
Dschugaschwili wurde nicht nur kein Priester, wie die Mutter geträumt hatte, er
brachte es nicht einmal zu dem Prüfungszeugnis, das ihm die Türen der
Provinzuniversitäten geöffnet hätte. Über das Warum sind mehrere Versionen im
Umlauf, die nicht leicht miteinander zu vereinen sind. In seinen 1929
geschriebenen Lebenserinnerungen – mit denen er ganz offensichtlich versucht,
den schlechten Eindruck zu verwischen, den seine 1923 veröffentlichten Memoiren
hinterlassen hatten – erzählt Abel Jenukidse, daß Josef auf dem Seminar
verbotene Bücher zu lesen begann, daß diese Lektüre nicht der Wachsamkeit des
Inspektors entging und daß der gefährliche Theologiestudent »aus dem Seminar
flog«. Der offizielle Historiker Beria schreibt, daß Stalin »wegen
Unzuverlässigkeit relegiert« wurde. Das ist natürlich nicht unwahrscheinlich,
solche Relegationen kamen häufig genug vor. Es ist dann nur um so
erstaunlicher, daß bis zum heutigen Tage keinerlei Dokumente aus dem Archiv des Seminars veröffentlicht worden sind. Daß sie weder durch
Brand vernichtet wurden, noch in den Revolutionsjahren verlorengegangen sind,
wissen wir schon daher, daß sie als Unterlage für die schon erwähnte
Gedenktafel gedient haben, und daß niemals etwas über ihren Verlust
verlautbarte. Hält man sie zurück, weil ihre Veröffentlichung unerwünschte
Aufschlüsse geben oder gewisse Legenden aus jüngster Zeit zerstören könnte?
Am
häufigsten begegnet man der Behauptung, daß Dschugaschwili vom Seminar
verwiesen wurde, weil er einen sozialdemokratischen Zirkel leitete. Ein
ehemaliger Seminarkollege, der nicht sehr zuverlässige Elisabedaschwili, meint,
die sozialdemokratische Gruppe, »von Stalin organisiert und geführt«, habe
»hundert bis hundertzwanzig« Seminaristen umfaßt. Bezöge sich dies auf die
Jahre 1905 und 1906, in denen alle Wasser über ihre Ufer traten und alle
Behörden den Kopf verloren, so könnte es glaubhaft sein. Für die Zeit um 1899
aber ist die Ziffer ganz phantastisch. Wäre die Organisation so groß gewesen,
dann wäre es nicht bei einer einfachen Verweisung geblieben; eine Intervention
der politischen Polizei wäre unvermeidlich gewesen. Josef aber wurde nicht nur
nicht sofort verhaftet, sondern blieb nach dem Verlassen des Seminars noch fast
drei Jahre lang auf freiem Fuß. Die Version, daß Josefs sozialdemokratische
Gruppentätigkeit die Ursache für seine Verweisung vom Seminar gewesen sei, muß
deshalb entschieden zurückgewiesen werden.
Gogochia,
dem man anmerkt, daß er sich von den Tatsachen nicht allzu weit entfernen
möchte, ist vorsichtiger. »Josef schenkte dem Unterricht keine Aufmerksamkeit
mehr«, schreibt er, »er arbeitete nur noch, um anständige Noten zu bekommen und
die Prüfungen zu bestehen. Der gefürchtete Mönch Abaschidse vermutete, weshalb
der talentvolle Dschugaschwili, der sich so gut entwickelt hatte und ein
vorzügliches Gedächtnis besaß, nur noch bemüht war, anständige Noten zu
erhalten ... und verwies ihn vom Seminar.« Darüber, was denn der Mönch
»vermutet« habe, sind nur Vermutungen möglich. Aus Gogochias Worten geht nur
eins mit Sicherheit hervor: daß Josef wegen Nachlässigkeit in den Studien –
eine Folge seines inneren Bruchs mit der theologischen Allwissenheit – von der
Schule verwiesen wurde. Dasselbe kann man aus Kanapadses Bemerkung schließen,
der über die »innere Wandlung« Josefs während dessen Studienzeit auf dem
Tifliser Seminar sagt: »Josef war nicht länger der fleißige Schüler, der er
vorher gewesen war.« Vermerkt werden muß, daß weder
Kanapadse, noch Glurdsidse, noch Elisabedaschwili etwas von einer Expulsion aus
dem Seminar erwähnen.
Am
erstaunlichsten ist aber, daß Stalins Mutter in ihrer letzten Lebensperiode,
als die offiziellen Historiker und Journalisten sich für sie zu interessieren
begannen, die reine Tatsache der Verweisung aus dem Seminar kategorisch
leugnete. Ihren Worten nach war der fünfzehnjährige Knabe bei seinem Eintritt
ins Seminar von blühender Gesundheit; das Studium aber machte ihn kränkeln, und
die Ärzte befürchteten eine Tuberkulose. Jekatherina behauptete weiter, daß
Josef das Seminar nicht verlassen wollte und daß sie ihn gegen seinen Willen
»herausnahm«. Das ist jedoch wenig wahrscheinlich. Angegriffene Gesundheit
konnte eine zeitweise Unterbrechung der Studien hervorrufen, aber nicht den
Bruch mit der Schule überhaupt und nicht den Verzicht der Mutter auf die
Hoffnungen, die sie in ihren Sohn gesetzt hatte. Überdies war Josef 1899 schon
zwanzig Jahre alt; durch großen Gehorsam zeichnete er sich nicht aus, und es
ist zweifelhaft, ob seine Mutter so hat über sein Geschick entscheiden können.
Schließlich hat sich Josef nach dem Verlassen des Seminars nicht etwa nach Gori
unter die Fittiche der Mutter zurückbegeben, was doch im Falle einer Krankheit
das natürlichste gewesen wäre, sondern er blieb in Tiflis, ohne Beschäftigung
und ohne Mittel. Mutter Keke hat den Journalisten nicht alles gesagt.
Vermutlich hatte sie seinerzeit die Verweisung ihres Sohnes von der Schule als
eine große Schande für sich selbst empfunden, jedoch da sich alles in Tiflis
abspielte, den Nachbarn in Gori versichert, ihr Sohn sei nicht vom Seminar
verwiesen worden, sondern hätte es aus Gesundheitsrücksichten selbst verlassen.
Später wiederum mußte es ihr als unziemlich für einen »Staatsführer«
erscheinen, in seiner Jugend von der Schule gejagt worden zu sein. Es ist wohl
nicht notwendig, nach anderen geheimen Gründen für die Halsstarrigkeit zu
suchen, mit der Keke wiederholte: »Er wurde nicht relegiert, ich habe ihn
selbst herausgenommen!«
Vielleicht
aber wurde Josef überhaupt nicht ausgeschlossen im genauen Sinne des Wortes.
Diese zweifellos wahrscheinlichste Version stammt von Iremaschwili. Nach ihm
zeigte sich die in ihren Hoffnungen enttäuschte Anstaltsleitung dem Schüler
gegenüber immer empfindlicher und hätte an ihm immer mehr auszusetzen. »Es kam
so weit, daß Koba, überzeugt von der Fruchtlosigkeit ernsthaften Studiums, der
schlechteste Schüler des Seminars wurde. Die Vorwürfe der
Lehrer beantwortete er mit boshaftem, geringschätzigem Lächeln.« Das Zeugnis,
das er beim Übergang in die sechste und letzte Klasse erhielt, war so schlecht,
daß Koba selbst beschloß, das Seminar ein Jahr vor Studienabschluß zu
verlassen. Nimmt man diese Erklärung an, dann wird klar, warum Jenukidse
schreibt »er flog aus dem Seminar« und warum er genauere Ausdrücke wie »wurde
vom Seminar verwiesen« oder »verließ das Seminar« vermeidet; warum die meisten
seiner Mitschüler über diese bezeichnende Episode aus Josefs Seminaristenzeit
überhaupt schweigen; warum keine Dokumente darüber veröffentlicht werden; warum
sich schließlich die Mutter berechtigt fühlte zu sagen, ihr Sohn sei nicht vom
Seminar verwiesen worden – wenn sie dann auch der Sache noch eine andere Färbung
gab und selbst die Verantwortung für das Ausscheiden des Sohnes übernahm. Vom
Gesichtspunkt der persönlichen oder politischen Biographie Stalins aus haben
Einzelheiten über seinen Bruch mit dem Seminar kaum große Bedeutung. Sie
illustrieren aber die Schwierigkeiten, die die totalitären Annalen zukünftigen
Geschichtsschreibern selbst bei so nebensächlichen Dingen in den Weg legen.
In die
Vorschule trat Josef 1890 im Alter von 11 Jahren ein, vier Jahre später kam er
aufs Seminar, das er 1899 verließ, so daß er also neun Jahre in kirchlichen
Erziehungsinstituten zugebracht hat. Die Georgier reifen früh. Josef ging vom
Seminar als erwachsener Mann ab, »ohne Diplom«, notiert Gogochia, »doch mit
festen Anschauungen über das Leben«. Neun Jahre theologischen Unterrichts
können nicht ohne tiefgehenden Einfluß auf seinen Charakter geblieben sein, auf
seine Denkweise und vor allem auf seinen Stil – und der Stil ist von der
Persönlichkeit nicht zu trennen.
Georgisch
war die Sprache seiner Familie und seines Milieus. Seine Mutter sprach auch am
Ende ihrer Tage nicht russisch. Für den Vater dürfte dasselbe zutreffen. Der
Knabe lernte russisch nur in der Schule, wo aber auch wieder die Mehrzahl der
Schüler Georgier waren. Den Geist der russischen Sprache, ihren freien Charakter,
den ihr innewohnenden Rhythmus, hat sich Josef niemals angeeignet. Das ist aber
nur ein Aspekt der Angelegenheit. Diese fremde Sprache, die dazu bestimmt war,
die eigene Muttersprache zu verdrängen, erlernte er in der stickigen Atmosphäre
der Pfarrschule. Er eignete sich die russische Sprache mit den Formeln der
klerikalen Scholastik an. Die Sprache selbst war für ihn
nicht die natürliche, dem Menschen eigene Ausdrucksform seiner Gedanken und
persönlichen Gefühle, sondern das äußerliche und künstliche Idiom eines vorerst
fremden und dann verhaßten Mystizismus. Im späteren Leben war er umso weniger
imstande, sie sich zu eigen zu machen, mit ihr gewissermaßen intim zu werden,
sie mit Präzision zu handhaben und sie zu veredeln, als er sich ihrer eher dazu
bediente, sein Denken und Fühlen zu verbergen als zu äußern. Infolgedessen war
das Russische für ihn stets nur eine approximative, ihm halb fremd und, was für
das Bewußtsein noch schwerwiegender ist, eine gezwungen und konventionell
bleibende Sprache.
Daß Josef
von dem Augenblick an, wo er die Religion innerlich verwarf, das Studium von
Liturgie und Bibeltexten unerträglich fand, ist verständlich. Schwieriger ist
zu begreifen, wie er so lange Zeit hindurch ein Doppelleben führen konnte. Wenn
wir die Erzählung für wahr annehmen, nach der der dreizehnjährige Sosso schon
Darwin der Bibel entgegenhielt, so müssen wir folgern, daß er dann noch sieben
lange Jahre hindurch imstande war, geduldig, wenn auch mit sinkendem Interesse,
Theologie zu studieren. Stalin selbst verlegt die Anfänge seiner revolutionären
»Weltanschauung« in sein fünfzehntes oder sechzehntes Lebensjahr. Wobei es ganz
gut möglich ist, daß er sich zwei oder drei Jahre, bevor er zum Sozialismus
kam, von der Religion abwandte. Wenn wir jedoch selbst hinnehmen, daß er den
einen entdeckte, indem er die andere verlor, so stellt sich heraus, daß sich
der junge Atheist noch volle fünf Jahre damit beschäftigte, die Geheimnisse der
Orthodoxie zu ergründen.
Gewiß, in
den zaristischen Erziehungsinstituten war so manche freidenkerische Jugend
gezwungen, ein Doppelleben zu führen. Das trifft aber in der Hauptsache für die
Universitäten zu, wo sich das Regime trotz alledem durch weitgehende Freiheiten
auszeichnete und wo sich die offizielle Heuchelei auf ein wenig störendes
Mindestmaß ritueller Handlungen beschränkte. In den Mittelschulen wog der
religiöse Zwang schwerer, doch dauerte er nicht lange, ein oder zwei Jahre,
während denen dem jungen Manne schon die Tore der Universität winkten und damit
die relative akademische Freiheit. Die Lage des jungen Dschugaschwili war
wirklich außergewöhnlich. Er studierte nicht in einer weltlichen Anstalt, wo
die Schüler nur einen Teil des Tages überwacht wurden und wo die sogenannte
»Religion« faktisch einen zweitrangigen Platz einnahm. Er befand sich in einem Internat, in dem alles Leben den Ansprüchen der Kirche
unterstellt war und wo Mönchsaugen jedem seiner Schritte folgten. Einem solchen
System der Duplizität sieben oder auch nur fünf Jahre zu widerstehen, dazu
waren unerhörte Vorsicht und eine Begabung ohnegleichen für die Kunst der
Verstellung erforderlich. Aus den ganzen Jahren seines Aufenthalts im Seminar
wird von niemandem irgendeine offene Protesthandlung, irgendein kühner
Empörungsakt vermeldet. Josef verlachte die Lehrer hinter ihrem Rücken, aber
niemals sprach er offen vor ihnen. Er war kein Dschibladse, er ohrfeigte keinen
chauvinistischen Schulmeister! Höchstens erlaubte er sich ein »verächtliches
Lächeln«. Seine Feindschaft war verhalten, versteckt, lauernd. Dem
Theologiestudenten Pomjalowski war, hörten wir, in seiner Seminaristenzeit
»Mißtrauen, Verstellung, Feindseligkeit gegen seine Umgebung« eingeimpft
worden. Das ist ungefähr das, was Iremaschwili, nur schärfer zugespitzt, von
Koba sagt: »Im Jahre 1899 verließ er das Seminar, von wo er eine wilde,
verderbliche Feindschaft mitnahm gegen die Schulverwaltung, gegen die
Bourgeoisie, gegen alles, was im Lande existierte und den Zarismus verkörperte;
tiefen Haß gegen alle Autorität.«