Leander Sukov: Öbszön
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Timo Brandt
Leander Sukov:
Obszön. Ein Gedicht. Hamburg (Kulturmaschinen Verlag) 2020. 84 S. 21,99
Euro.
Ballungsraum Gedicht
„auf regennassen straßentropfen prominente namenaus unseren mündernwir sind ewige praktikantenund unsterbliche modelsin take-awayserklärt man die aussichtslosigkeitzum weg“
Ein dreiundsiebzig Seiten langes Aufzählen, Aufwerfen, ein
Gesang, ein Abgesang, ein Gebet, ein Aufruf, ein Schrei, eine Rede, abgespulte
Zeilen, angenagelte Zeilen, ins Fleisch gebrannte Zeilen, weggeschwemmte
Zeilen, ein Klagen und Anklagen.
Für Leander Sukovs Langgedicht „Obszön“ Maßstäbe oder
Vorbilder zu finden, ist gar nicht so leicht. Ein bisschen erinnert es in seiner
Rigorosität an manche längeren Texte von Wolf Wondratschek aus den 70ern oder,
noch entfernter, die von Rolf Dieter Brinkmann. Allerdings fehlen die
radikaleren sprachlichen Experimente, die ausbrechenden Zeilen, das Anarchische
– Sukovs Gedicht schreitet unerbittlich im Gleichtakt voran, es hat nichts
Befreiendes, Auseinanderstrebendes, sondern eher etwas Beengendes,
Zugspitzendes.
Auch Kate Tempest kommt einem in den Sinn, mit der
bezwingenden Wucht ihrer Langgedichte/Lieder „Brandnew Ancients“ oder „Europe Is
Lost“.
„und wir erschlagen unsfür den profit oder einen gottund ich sage du zu unsund ich meine michmich als kind in bangkokund als greis in daccamich als vergewaltigerund mich als mein opfermich als mörderund ich sehe mich brennenals jesidische frauin einem käfigund ich sehe mich fallenals schwuler mannvon einem dach im irgendwo“
Was Sukovs Poem mit denen von Tempest in der Tat gemein hat,
ist der zusammenführende, bündelnde, ballende Faktor. Sukov geht dabei
allerdings noch weiter als Tempest, denn bei ihm werden nicht nur verschiedene
ausgewählte Einzelindividuen, sondern gleich die Schicksale aller Menschen auf
der Welt miteinander verschmolzen; wobei der Fokus auf den Opfern der gesellschaftlichen
Systeme und der Kriege, Katastrophen und Verbrechen unserer Zeit liegt.
Das Gedicht als riesiger Spiegel also, der den Leser*innen
das Ausmaß der drastischen Leiden vorführt, die uns derzeit zugefügt werden,
wenn wir uns als eine Menschheit sehen könnten, begreifen würden. Man stelle
sich vor, unser aller Haut wäre miteinander verbunden, unser aller Fleisch wäre
ein Resonanzkörper der Schmerzen, die Menschen im Einzelnen erleiden …
„mein fleischfährt autodein fleischkauft aktienund derivatemein fleisch stehtmit protestschildernauf der straßedein fleischbekommt spritzenund narkotikaverbände und kosmetikparfums und schläge“
Obgleich diese umfassende Menschheitsverknüpfung ein
spannendes Sujet ist, hat Sukov vielleicht ein bisschen zu viel in seinem Poem
unterbringen wollen. Mittelmeer, IS, Sextourismus, Drohnenkrieg, Mobbing,
Pflegenotstand und das sind nur einige der aufgeworfenen, eingewobenen Themen.
Hinter dieser Anhäufung, den schnellen Wechseln von einem
Ort und Thema zum anderen, steckt möglicherweise eine formale Überlegung: das
Gedicht soll wie eine Flut wirken, hereinbrechen, überschwemmen und versenken,
mit seinen Worten alles hinfort spülen.
„dein weißer leib myriamdein schwarzes haar myriamsiehst du das volk der totensie wandeln auf dem grund der meeresie wandeln auf dem sand der wüstenwir schließen die grenzenvor den lebendenund gewähren bleiberecht den toten“
Wie man in diesem letzten Zitatabschnitt sieht, hat Sukov
auch zahlreiche literarische Anspielungen/Referenzen untergebracht, die sich
meist sehr organisch einfügen; es gibt somit einiges zu entdecken und man könnte
wohl eine längere Verweisliste anlegen, durch die sich noch zahlreiche größere
Kontexte erschließen würden.
„Nicht die Sprache von Eminem ist obszön, sondern die von G.
W. Bush“, schrieb Madonna einst in einem Leserinnenbrief an die Los Angeles
Times. Obszönität, das ist ein vieldeutiger Begriff (wer sich mit seiner
Geschichte ein bisschen auseinandersetzen will, der kann zu dem umfangreichen,
wohl aber auch nicht mehr ganz aktuellen Buch von Ludwig Marcuse greifen), der
aber, grob zusammengefasst, meist die Diskrepanz zwischen Handlungen einerseits
beschreibt und einem Wissen andererseits – bspw. um deren gesellschaftliche
Einordnung/Bewertung. Eine Definition der Obszönität, auf die Sukov abzielt,
liefert der Philosoph Herbert Marcuse, von dem ein Zitat dem Text vorangestellt
ist:
„Diese Gesellschaft ist insofern obszön, als sie einen erstickenden Überfluss an Waren produziert und schamlos zur Schau stellt, während sie draußen ihre Opfer der Lebenschancen beraubt; obszön, weil sie sich und ihre Mülleimer vollstopft, während sie die kärglichen Lebensmittel in den Gebieten ihrer Aggression vergiftet und niederbrennt; obszön in den Worten und dem Lächeln der Politiker und Unterhalter; in ihren Gebeten, ihrer Ignoranz und in der Weisheit ihrer gehüteten Intellektuellen. […] Nicht das Bild einer nackten Frau, die ihre Schamhaare entblößt, ist obszön, sondern das eines Generals in vollem Wichs.“
Wie obszön ist es, nachts in einem Club zu tanzen, während
anderswo auf demselben Planeten Menschen in Käfigen gehalten werden? Oder
geköpft, wovon es Videos im Internet gibt? Wie obszön sind Hedonismus und
Konsum angesichts 25.000 Hungertoter am Tag, einer Vergewaltigung alle 3
Sekunden?
Sukovs Gedicht wirft Fragen auf, die in unseren Zeiten immer
drängender werden: wie noch in Kategorien von Zugehörigkeit, Identität,
verschiedenen Welten denken, in einer Welt, die durch das Internet komplett
vernetzt ist und wirtschaftlich zusammenhängt? Wie damit umgehen, dass man auf
neue Erkenntnisse eigentlich reagieren muss, derweil man heute nahezu alles
wissen kann, alle Verbrechen, die geschehen, alle Probleme, die es gibt?
„wir sitzen breitbeinigauf dem panzerwir mastubierenbeim anblick der heldendie wir sindwir geben unsdie stärke unserer leden[…]ergriffen das fleischbeim anblick der kalaschnikow[…]unsere schwänze sturmgewehreunsere scheiden schützengräben“
Sukovs Gedicht ist konfrontativ, manchmal martialisch. Man
könnte sicher diskutieren, wie problematisch es ist, dass er meint, alle
möglichen Schicksale zusammenwerfen (und sich, ein Stück weit, ihrer annehmen)
zu können. Das Ergebnis ist dennoch bestechend: drastisch, aber auch
empathisch. Die Position des lyrischen Ichs wirkt manchmal überhöht, sorgt aber
auch immer wieder für Ambivalenz.
Nicht zuletzt haben wir es hier mit einem Gedicht zu tun,
das sich ohne Netz und doppelten Boden an der schwierigen Balance zwischen
Kunst und Engagement versucht – etwas, das nach Möglichkeit honoriert werden
sollte, wie ich finde. Hinten im Buch gibt es sogar noch einen Aufruf, für die
Seenotrettung, Amnesty International, Writers in Prison oder eine vergleichbare
Organisation zu spenden.
Last but not least: das Gedicht wurde illustriert/bebildert
von neun Künstler*innen: Andreas von Boudissin, Nina Briola, Hermann Ehlers,
fognin, Vladi Krafft, Katharina Kretschmer, Robert Lange, Patrick Lemke, Leo
Linde. Nicht immer weisen ihre Werke einen direkten Bezug zu den Gedichtzeilen
auf, liefern dann aber oft einen spannenden Kontrast.
Man kann abschließend sagen: durchaus eine Entdeckung, und
ich bin gespannt, was der Kulturmaschinen Verlag in den nächsten Jahren noch an
Lyrik herausbringen wird.
„mehr erwarten als dasals diese wohnungdieses reisfelddiesen kriegdiesen tod im käfig[…]wir sind achtzig und wollennicht mehr bitte sagenfür die aufstockung unserer renteauf dem amt in wolfsburg oderminsk