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Lea Schlenker: Eine Auswahl an Fluchtmöglichkeiten

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Timo Brandt

Lea Schlenker: Eine Auswahl an Fluchtmöglichkeiten. Gedichte. München (APHAIA Verlag – Mitlesebuch 148) 2020. 60 Seiten. 12,00 Euro.

Fluchtakupunkturen


„Mein lieber Freund
Er sagt zu mir
Schon komisch
Ich habe mich schon tausendmal
Aus dem Glücklichsein hinausgedacht
Aber nie in das Glücklichsein hinein

Ich sage
Glück ist auch ein hässliches Wort
Ein dummes Wort
Für dumme Menschen
Die sowieso irgendwann sterben“

Mir ist schon lange kein so chaotisches lyrisches Ich mehr begegnet, wie jenes, das in den Gedichten von Lea Schlenker den Ton angibt. Und das ist eine Aussage irgendwo zwischen Kompliment und Enervierung. Ich möchte diese Gedichte eigentlich cool finden, weil sie mit großer Offenheit Ängsten, Euphorie, Obsessionen verhandeln und weil sie mitunter überraschend amüsant und filigran sind; und ich habe auch per se nichts gegen Widersprüche.

Aber in Schlenkers Gedichten scheint mir manches dann doch zu sehr auf Widersprüchlichkeit abzuzielen, erbaut auf einer fast schon mondänen Lust für abwegige Dramaturgie. Der Aberwitz, dem dafür bei manchem Gedicht der Taktstock in die Hand gedrückt wird, weiß durchaus zu unterhalten, lässt aber oft wenig mehr zurück als einen Hauch von Esprit und, vor allem, eine leichte Unglaubwürdigkeit, was die im Gedicht auftretenden Emotionen und Konflikte angeht.

„Wenn ich im Zug sitze
Und jemand sich neben mich setzt
Der dein Parfüm trägt
Dieser Duft
An den ich sonst nie denke
Verdammt
Dann rücke ich näher und will an ihm riechen
Mit ihm oder ihr Sex haben
Gleich in einer der engen
SBB Bordtoiletten“

Das schlagende Argument gegen solche Kritteleien ist immer: „Die Gedichte sind halt so, wenn Sie andere haben wollen, die gibt es hier nun mal nicht.“ Das ist richtig. Aber vielleicht haben Schlenkers Gedichte sogar noch eine bessere Antwort parat. Stichwort: Fluchtpunkte und Stichwort: Swimming-Pool-Cover-Art.

Handlungsraum vieler Gedichte ist der Sommer oder doch zumindest die Hitze des Gefechtes, das Drückende daran, die Hitze der Obsession. Und im gewissen Sinne ist der Sommer ja die Zeit der Obsessionen: überall leichter bekleidete Körper, viel mehr Kontakt mit den Schweißgerüchen anderer Menschen, viel mehr draußen sein, Reisen, Urlaub, Abenteuer, Unternehmungen, warme Nächte, etc.

Dieses Flair des Sommers ein zentrales Motiv zu nennen, ginge zu weit, aber es ist eine Art Hintergrundrauschen, das in einigen Momenten aufgedreht wird, sich als intensiver Einfluss auf die Idee von Stimmungen entpuppt. Hier, in dieser Adaption der Sommererscheinungen, könnte durchaus die Wurzel der Turbulenzen liegen, die ich in den Gedichten erlebe.

„Blauäugige schwedische Wachtmeister
Meinen
Es drohe mir der Prozess
Aber kein Prozess wird drohen
Denn der Mann dem das Gefängnis gehörte
Ist schon längst tot“

Aber vielleicht haben sie auch etwas mit dem Motiv der Flucht zu tun, das in dem Band eine größere Rolle spielt. Es ist eine Flucht vor der Heimat, den Ursprüngen, aber auch eine Flucht vor dem Erwachsenwerden, dem rational sein, dem Ankommen. Das abgenabelte Selbst ist eben auch ein verlassenes Selbst, ist ein suchendes Selbst, ist ein zurückkehrendes/-schreckendes Selbst.

Die Überforderung, die hinter solchen Fluchtbewegungen und allerlei Launen steht, thematisiert Schlenker in einigen Gedichten ganz gut, ja vielleicht sogar famos, wenn man die mich irritierenden Faktoren der Gedichte als Ausdruck, als Metapher für diese Überforderung liest. Vielleicht achte ich da nicht genug auf den Unterschied zwischen „Symptom und Syndrom“, den Schlenker im Titel eines Gedichtes aufmacht.

Eins lässt sich in jedem Fall sagen: in diesem Gedichtband gibt es einiges Chaos. Ob es kultiviertes, transzendiertes Chaos ist oder doch teilweise hervorgerufen wird durch überzogene Inszenierungen, das will ich gar nicht abschließend entscheiden. Ich bin vielleicht (das denke ich mir nicht zum ersten Mal) auch zu sehr geprägt von einem Glauben an die Vorzüge der ironischen Distanz, um konkretere Wertschätzungen für die Ausgefallenheit von Schlenkers Versen anzubringen.

Vielleicht sind die Patzigkeit, das Mondäne, Flirrende und Skurrile, all diese Stilzüge tatsächlich einfach nur Formen und Anzeichen von Widerständigkeit – eine Ausrichtung, die ich, bei aller Kritik und Irritation, in den meisten Gedichten im Zentrum vermuten würde.

„Viel Natur zu sehen hier
Schnee
Maisfelder
Spuren des Ersten Weltkrieges
Alte Männer die erregt Fußball spielen

Unzufrieden mit allem
Unzufrieden mit meinen Träumen
Zum Geburtstag will ich einen Leoparden
Den ich im Garten halte
Der Gäste beeindruckt
Und meine Träume isst

Dann werde ich bestimmt zufrieden sein“


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