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Lawrence Ferlinghetti: Little Boy

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Jan Kuhlbrodt

Mäandern!

Zu Lawrence Ferlinghetti: Little Boy


Die meisten größeren Ströme, zumindest in Deutschland, bevor sie zur kommerziellen Schiffahrt begradigt wurden, schlugen viele beträchtliche Bögen. Die Industrialisierung aber und der Kapitalismus verlangten effizientere Transportwege, und so wurden die Flüsse um ihre Schwünge gebracht. Geradlinig schossen sie nun auf ihr Ziel zu.
    Schon der Form nach also, könnte man behaupten, ist Lawrence Ferlinghettis Roman Kapitalismuskritik. Und natürlich muss er sich so auch gegen die reine Romanform sträuben, denn, wie der neunmalkluge Hegel behauptet, sei der Roman ja die Apotheose der bürgerlichen Gesellschaft und schreibt in seiner Ästhetik:

Die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins hat sich verwandelt in eine feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats, so daß jetzt Polizei, Gerichte, das Heer, die Staatsregierung an die Stelle der chimärischen Zwecke treten, die der Ritter sich machte. Dadurch verändert sich auch die Ritter-lichkeit der in neueren Romanen agierenden Helden.

Klar ist dieser Text Hegels bald 200 Jahre alt, aber viele scheinen sich noch an diesen Gedanken zu halten. Nicht so der eben hundertjährige Ferlinghetti:

„Ja in der Tat muss ich stattdessen zurückgreifen aufs Aufzählen und Erzählen meiner eigenen Fantasien meiner Ideen und Unruhen und stumpfen Einlassungen zur Funktionsweise von Herz und von Verstand und das Herz hat die Vernunft die der Verstand nicht kennt wie es ein Liebhaber formulierte lang ist's her oh ja fürwahr doch was ist dieses Herz genannte Muskelfleisch das Blut von einem jeden Wesen mittels soundso vieler Schläge zirkulieren lässt ...“

Was für ein Buch! Dabei beginnt es ganz gewöhnlich, wie ein Entwicklungsroman, geschrieben kurz vor der vorletzten Jahrhundertwende. Ein Waisenkind wächst bei seiner Tante auf. So beginnen auch Tom Sawyers Abenteuer, oder Nein, bei Twain startet es sogar moderner, mit dem Ruf der Tante: Tom! Tom, der keine Antwort gibt, zunächst.
    Doch hier bei Ferlinghetti ist nicht der Held, sondern die Welt so ziemlich am Verschwinden, oder besser: Sie löst sich auf in ihrem eigenen Strudel, der auf die Geburt des Helden folgt. Wir nennen es schlechthin das Zwanzigste Jahrhundert und es dehnt sich über sich selbst hinaus bis zu einer Gegenwart.

„Little Boy war nah am Nichts. Er hatte keine Ahnung, wer er war oder woher er stammte. Er lebte bei Tante Emelie, die er sehr liebte.“

Ja so mögen Romane beginnen, die den Protagonisten auf seinem schweren Weg begleiten in eine Ehe, ein Staatsamt oder einen frühen Heldentod. Nichts von alledem hier. Zwar erhalten wir eine knappe Schilderung der Kindheit, bis zum Verschwinden der Tante ungefähr. Es ist das erste Drittel des letzten Jahrhunderts, doch dann löst sich der Text von seiner anfänglichen Struktur und auch von der Linearität der Erzählung, die sich für Gewöhnlich an die Linie der Zeit schmiegt. Das Jahrhundert wirft sich auf, und seine Katastrophen verlieren die Abgrenzung. Versatzstücke, Trümmer: Klimakatastrophe. Landung in der Normandie. Leben in Paris. Reflektionen. Verweise auf Werke und Kollegen. Klar, taucht hin und wieder Kerouac auf und natürlich Proust.
    Und immer wieder, wie um Kraft zu tanken, begibt sich die Erzählung für Momente, kurze Momente, in die Kindheit. Da lebte die Tante noch. Im wahrsten Sinne eine Rede ohne Punkt und Komma.
    Ich bewundere den Übersetzer Ron Winkler für diese Arbeit. Das Navigieren letztlich durch einen Sprachsturm, ohne ihn zu bändigen. Chapeau!
    Und natürlich kommt es zuweilen vor, dass man lesend die Orientierung verliert, aber man trifft immer wieder auf Bojen, die zumindest die Illusion vermitteln, wieder vorhanden zu sein. Ziemlich großartig!!


Lawrence Ferlinghetti: Little Boy. Roman. Aus dem Englischen von Ron Winkler. (Schöffling & Co.) 2019. 214 Seiten. 22,00 Euro.
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