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lateinamerika lesen - Rocío Cerón: Borealis

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Foto: Francisco Caňedo


Rocío Cerón

Aus dem Spanischen von Simone Reinhard


Borealis

I


Llega tembloroso. El ave. El incendio.
Un agudo oído escucha filigrana.
Vibra la calle. La lluvia salpica en los rostros.
De la mano de un hombre rubio ha caído una manzana.
Estela de avión sobre nubes grises.
Soplan dos niñas, bajo techo, un par de dientes de león.

Cierto tamborileo de dedos modifica la presión del aire.
Bajo la camiseta húmeda se yerguen los pezones rosados de una

joven.

Botones de traje militar al suelo.
Grasa en comisura de boca después de asado de tira.
Vibración celeste al paso de aerostático.
Agita la coctelera: agua de ducha y lluvia con voces.
Sobre el escritorio una agenda roja, recibos del pago de cigarrillos.
Calculadora sin pilas, veinticinco fotografías de la misma mujer, frascos
de medicinas, hormiga subiendo el borde, colillas.
La mano sostiene un lápiz.
Satélites de Saturno en huella dactilar.
Hombre al piso sobre cristales aguijoneando la piel.

Cometa veloz en el cielo.
Signos.
Incendio.
Temblor.

Borealis

I


Er kommt bebend. Der Vogel. Der Brand.
Ein gespitztes Ohr hört filigran.
Die Straße vibriert. Regen tropft auf die Gesichter.
Aus der Hand eines blonden Mannes fällt ein Apfel.
Kondensstreifen auf grauen Wolken.
Zwei kleine Mädchen unter einem Dach pusten ein Paar

Löwenzähne.

Ein bestimmtes Fingertrommeln verändert den Luftdruck.
Unter dem feuchten Hemd zeichnen sich rosenrot die

Brustwarzen eines jungen Mädchens ab.

Uniformknöpfe auf dem Fußboden.
Fett im Mundwinkel nach dem Verzehr von Grillfleisch.
Himmlische Vibrationen in aerostatischem Rhythmus.
Cocktailschütteln: Platzregen und Tropfstimmen.
Auf dem Schreibtisch ein rotes Notizbuch, Kassenbelege für Zigaretten.
Ein Taschenrechner ohne Batterien, fünfundzwanzig Fotos von ein und derselben Frau, Medizinfläschchen, eine Ameise, die den

Rand erklimmt, Zigarettenkippen.

Die Hand hält einen Stift.
Fingerabdruck mit Saturnsatelliten.
Ein Mann auf dem mit hautbohrenden Glasscherben gespickten

Fußboden.

Ein Komet jagt über den Himmel.
Vorzeichen.
Brand.
Beben.


Quelle

Rocío Cerón: Borealis, México D.F./Mexiko Stadt: FCE, 2016; alba.lateinamerika lesen Ausgabe 10, Berlin: 2017]


Kommentar

Das Polarlicht, die aurora borealis, ist ein fantastisches Leuchten, das durch das Zusammentreffen beschleunigter, geladener Teilchen entsteht. So stoßen in Rocío Ceróns Berlin-Gedicht genaue, mosaikartige Beobachtungen der Straßen, Gegenstände und Menschen aufeinander und gegeneinander – expressionistische Großstadtlyrik klingt an. Das Gewöhnliche wird außergewöhnlich, Proportionen werden gebrochen, gebündelt und verzerrt, die Stadt bebt, ihre Teile fügen sich zu einem unheilvollen Leuchten zusammen. Ceróns poetische Stimme, eine der derzeit wichtigsten der mexikanischen Lyrik, entfaltet ihre Kraft zwischen scheinbar banalen Alltagsdingen, die poetisch vergrößert werden, und einer urbanen Erotik, deren morbides Begehren das Begehren der Stadt selbst ist, die sich in der Polarlicht-Linse bricht.


Rocío Cerón (1972, Mexiko-Stadt, Mexiko) ist Dichterin, Performerin und Herausgeberin. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen zählen Borealis (2016) und Anatomía del nudo. Obra reunida (2002-2015) (2015). Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Best Translated Book Award 2015 für ihr Buch Diorama, übersetzt von Anna Rosenwong, den Premio Nacional de Literatura Gilberto Owen (2000) und den See America Travel Writer Award (2005). Ihre poetischen Aktionen präsentierte sie unter anderem in Berlin, London, Stockholm und Paris. Ihr Werk wurde bislang in mehr als sechs Sprachen übersetzt. Zu lesen, sehen und hören.


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