Kurt Marti: Die Liebe geht zu Fuß
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Timo Brandt
Beglückende
Direktheit
„schlagendas bilderbuch aufbilderbuchdas in schläfen gebunden“
Der erst im letzten Jahr verstorbene Schweizer
Schriftsteller und Theologe Kurt Marti gehört nicht unbedingt zu den großen
Namen in der deutschsprachigen Dichtung. Trotzdem ist er einer der Dichter, die
ich immer wieder Leuten ans Herz lege. In seinen Versen (und auch in anderen
Werken, bspw. den Notizen in „Zärtlichkeit und Schmerz“) liegt eine beglückende
Direktheit, ein Benennen der Dinge, unverhofft und klar.
Mit „Die Liebe geht zu Fuß“ liegt nun die bisher
umfangreichste Auswahl aus seinem lyrischen Werk vor (wenn man von dem
Gedichte-Band in der längst vergriffenen Werkausgabe absieht); allerdings sind
die Gedichte in der „bärner umgangssprach“ in dem Extraband „wo chiemte mer
hi?“ erschienen, sodass die Lesenden dieser Ausgabe sich nicht vor
Dialektgedichten fürchten müssen oder sich nicht an ihnen erfreuen können (je
nachdem).
„weraber prüft die wortejedes jahrin jedem vereinin jeder gemeindemillionen worteund wervergleicht sie mit den belegen“
Der Band geht chronologisch vor und beginnt mit den
republikanischen Gedichten, jenen konkreten, präzisen und kargen Versen, die
mitunter an das Staccato der Erich Fried-Lyrik erinnern und auch einen wesensähnlichen,
kritisch-lakonischen Impetus haben, sowie den Hang zum Sprachspiel und einer
Fixierung auf bestimmte, sich wiederholende Begriffe.
„die ohne machtmachendie mächtigen […]mächtiger sindals die mächtigendie ohne macht“
In den Auszügen aus dem zweiten Band „Alfabeete &
Cymbalklang“ sticht dann jene Zärtlichkeit, die Wendung zum Liebevollen hervor,
die Martis lyrisches Werk neben den stets vorhandenen kritischen und
engagierten Ausformungen am meisten ausmacht.
Diese Art der liebevollen Zuwendung hat etwas Naives,
zumindest verlässt sie jene verhaltene Entfernung, in der sich Dichter*innen
vor dem Klischee und dem Kitsch in Sicherheit glauben, kommt nah heran, umarmt
den Gegenstand beinah und ruft:
„immer wird etwasirgendwie irgendwoanders: entspringtdem schönen wird schönim entsprung undwenns dem entsprungder ankommt und ausruhtwieder entspringt“
Der Versuch vom Schönen zu sprechen, im vollsten Bewusstsein
der ganzen Misere, die in solchen Bildern ausgeklammert bleibt, und die nicht
von ihnen ferngehalten wird, aber doch für einen Moment zurückbleiben soll, ist
ein wiederkehrendes Motiv in nahezu jeder poetischen Tradition; vielleicht ein
Motiv des Poetischen schlechthin.
Diese Art der Anrufung klingt oftmals süßlich oder schrill,
wirkt als Bewegung nicht selten wie ein Ausfallschritt, zu ruckartig, oder
tritt sich selbst auf die Füße. Bei Marti ist es jedoch eine schlichte Rahmung
jener nicht zu leugnenden, von einem Tag zum anderen weitergereichten
Freudigkeit, die immer wieder in unserer Beziehung zur Welt aufblitzt, wenn das
Licht richtig darauf fällt, wenn die richtigen Konstellationen eintreten.
„wenn wir uns liebenschlagen die kirschbäume wurzelin asphaltsprüngenund simcapolstern[…]wenn wir uns liebenrollen die zügekirschblütenleichtvon köln über köln nach kölnmit dirist gut kirschen essengeliebte“
Diese Fähigkeit zur rückhaltlosen Zuwendung macht Martis
Liebes- und Naturgedichte oft zu einer überwältigenden Erfahrung.
Interessanterweise gibt sie auch seinen kritischen Gedichten einen menschlichen
Zug, der sie nicht abschwächt, sondern noch mahnender, alarmierender werden
lässt – weil klar ist, dass es darin um einen careing-Ansatz und nicht um einen
blaming-Ansatz geht.
„gesang um gesang rollt das meerin die sonneund ihren immerwährenden schreizungenjetzt tief in die wollust des schweigensgetaucht“
Eben habe ich „rückhaltlose Zuwendung“ geschrieben, was
vielleicht nicht ganz stimmt. Da ist schon eine Scheu in den Gedichten, eine
Scheu, die weiß, dass in einem Gedicht nicht alles Platz hat und ein Gedicht zu
scheitern droht, wenn es keine Ambivalenz mehr kennt. So treten die Gedichte
ohne Scheu auf, sind aber scheu im ersten oder letzten Moment ihrer Gesten, in
den Zwischenräumen ihres Überschwangs.
Durch ihre Direktheit scheinen die Gedichte von jeder
Fragilität befreit – doch es gelingt ihnen gerade deshalb so Schönes und
Sanftes, weil sie diese Fragilität im Lauf des Gedichtes aufklauben, fast
unbemerkt in der Hand wiegen.
„mein stammellob giltdiesem atemwarmem planetenseinen launischen winden und wolkendem dach überm kopfgeliebten menschen am tischden tortellini im teller“
Ein letzter Aspekt von Martis Werk muss noch angesprochen
werden: die Auseinandersetzung mit dem Glauben, mit Gott und der Kirche. Marti
folgt hier klar dem Credo des Theologen und Gelehrten Sebastian Castellio: „Wer
nicht zweifelt, der glaubt auch nicht. Wer nicht widerspricht, der versucht
auch nicht zu verstehen.“
Nicht um die Einhaltung irgendwelcher Sakramente und
Traditionen geht es Marti bei seinem Glauben (obgleich diese ihn durchaus oft
umtreiben), sondern um einen lebendigen Widerschein dieses Glaubens, gelebte
Nächstenliebe und vor allem um die Bewahrung der humanistischen Botschaft, die
von Jesus Christus‘ Worten und Wirken (größtenteils) ausgeht. Schließlich warb
der um Gewaltlosigkeit und Toleranz, Nachsicht und Vergebung – Tugenden, die
nach wie vor im christlichen Leben gelebt und in Kirchen gepredigt, aber in der
Öffentlichkeit eher selten mit Gott und Glauben in Verbindung gebracht werden.
„dogmen machen ihn dingfestherrschaft legt ihn aufs kreuzbegriffe nageln ihn festkirchen hissen ihn hoch“
Martis Gedichte zu Religion, Kirche und Glauben sind ein
weites Feld und man wird hier Optimistisches neben Zynismus finden,
Elaboriertes neben schnellschussartigen Gebilden. Als ein weiteres Beispiel für
Martis kritische, aber dennoch bewahrende Auseinandersetzung mit dem Glauben
sei hier ein Gedicht genannt, das „unser vater“ heißt (statt Vaterunser) und
eben jenen Gebetstext Strophe für Strophe „ergänzt“:
„unser tägliches brotgib uns heutedamit wir nicht nurfür brot uns abrackern müssendamit wir nichtvon brotgebern erpresst werden könnendamit wir nichtaus brotangst gefügig werden“
Botschaft und Kritik fließen zusammen. Es klingt darin an:
Glauben ist wichtig, aber ist nicht alles, darf nicht zu einem „Wir legen die
Hände in den Schoß und beten nur“ werden. Dann drohen nämlich nicht nur der
Glauben und die Gläubigen, sondern auch Gott selbst in Verruf zu geraten.
„und ALSO wurde das wort GOTTzum letzten der Wörterzum ausgebeutetsten aller begriffezur geräumten metapherzum proleten der sprache“
Sehr stark lehnt sich Marti gegen die körper- und
genussfeindlichen Anschauungen und das damit einhergehende Menschenbild der
christlichen Kirchen auf, z.B. indem er imaginiert, dass am jüngsten Tag nicht
unsere Sünden aufgezählt werden, sondern uns vorgehalten wird, dass wir das
Leben, das uns Gott schenkte, und den Körper, den wir ihm verdanken, nicht
genug geliebt und nicht oft genug Gebrauch von allen seinen Freuden gemacht
haben.
„wenndie bücher aufgetan werdenwenn sich herausstellen wirddass sie niemals geführt worden sind“
Und in Anknüpfung an das Hohelied Salomos schreibt Marti ein
langes Gedicht über die Liebe zwischen zwei Menschen, in dem es am Ende heißt:
„ und wenn ein gott iststelle ich ihnmir als Liebhaber vordenn wodie lieb‘ erwachetstirbt das ichder dunkle despotund zärtlichkeit krönt wahren triumph“
Martis Werk sei hiermit, wiederum, allen ans Herz gelegt. Es
ist wach und intelligent und transportiert dies auf unnachahmliche Weise.
Gleichzeitig ist es dann und wann auch genügsam, steigert sich nicht ins
Verkrampfte. Kurz gesagt: ein lichtes und doch dichtes Werk. Ein Werk, das
bewahrt und beharrt und gleichsam jene Weisung nie außer Acht lässt, die Marti
einmal selbst, in einem Mundartgedicht, formulierte und die ich hier auf
Hochdeutsch wiedergebe:
Wo kämen wir hinwenn alle sagtenwo kämen wir hinund niemand gingeum einmal zu schauenwohin man kämewenn man ginge
Kurt Marti: Die Liebe geht zu Fuß. Ausgewählte Gedichte. Zürich (Verlag Nagel & Kimche) 2018. 240 Seiten. 21,00 Euro.