Direkt zum Seiteninhalt

Kristín Svava Tómasdóttir: Drei Gedichte

Werkstatt/Reihen > Reihen > Wortlaut Island
Foto © Guðrún Lára Pétursdóttir
Kristín Svava Tómasdóttir

Drei Gedichte

(Aus: Stormviðvörun / Sturmwarnung, Bjartur, Reykjavík 2015)

Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer



MEINE GRIPPE

Du weißt es geht eine Grippe um
ein klägliches Weinen hallt in deinen Ohren
aber dich lässt das kalt

anderer Menschen Grippe
ist eine nicht nennenswerte Grippe

es gibt so viel in der Welt das nicht in Ordnung ist
und in dem großen Zusammenhang
und in der modernen Gesellschaft
ist es absurd einer Grippe solch eine Bedeutung beizumessen

dann kommt sie zu dir

sie überwältigt deinen Körper
sie kriecht die Glieder hoch
du spürst sie im Kopf
in der Haut
in deinen Atemzügen
in dem Druck hinter den Augen
in der Seele die sich zusammenzieht und so klein und schwach wird
dass deine geistige Würde für immer verloren ist

und du denkst:
oh, diese Kluft!
zwischen der eigenen Grippe und der von anderen



EIN ABEND IM OKTOBER AN DER ABZWEIGUNG ZU LAUGAR

Es ist so schwierig, sich die Vergangenheit vorzustellen, zu versuchen,
die Gegenwart aus dem Bild herauszuzupfen:

die Baumgruppe die Leitungsmasten den Asphalt
die Sommerhäuser die Autos die Container
die Brücken den Campingplatz
mich

und dann kommt die Dunkelheit des Herbstes
und plötzlich wird alles genau so wie damals



MATERIAL

Wir stehen eng zusammen unter dem Schilddach wie Pferde auf der Winterweide
es singen die Rohre und das Eisen quietscht
der Goretexstreifen windet sich farbenfroh vom Gipfel herab
Island ist ein Land in ständiger Formation

sie scharren Material vom Lambafell
sie karren das Material vom Lambafell
fort
und legen es anderswo ab

Stück für Stück verschwindet Lambafell
aber an einem anderen Ort entsteht neues Land
wo vorher Meer war und Strand

wenn die Blutgefäße im Herz versagen
werden Blutgefäße dem Bein entnommen
und an ihre Stelle gesetzt

aber das Gewebe am Bein heilt wie im Flug

neue Berge entstehen
wo sie vorher fehlten

wir sind ein Land in ständiger Formation



Laugar ist ein Ort im Sælingsdal, einem Tal am Fuße des Fjords Hvammsfjörður in Westisland.
Lambafell ist ein Berghügel im Süden Islands. Dort gibt es auch einen Steinbruch.


Kristín Svava Tómasdóttir, geboren in Reykjavík 1985, hat bislang vier Gedichtbände veröffentlicht, zuletzt den Band Hetjusögur / Heldengeschichten, der 2020 den Fjöruverðlaun, den isländischen Frauen-Literaturpreis, in der Kategorie Belletristik gewann. Ihr Gedichtband Stormviðvörun / Sturmwarnung von 2015 erschien in den USA unter dem Titel Stormwarning; sein Übersetzer K. B. Thors wurde für die Übertragung für den amerikanischen PEN-Award in der Kategorie Übersetzung von Lyrik nominiert. Die Publikation seiner Übersetzung von Hetjusögur / Heldengeschichten ist beim ameri-kanischen Verlag Deep Vellum geplant.
Kristín Svava Tómasdóttir ist nicht nur Dichterin, sondern mit einem Master-Abschluss in Geschichte von der Universität von Island arbeitet sie auch als freiberufliche Historikerin. 2018 veröffentlichte sie das Buch Stund klámsins: Klám á Íslandi á tímum kynlífsbyltingarinnar / Zeit der Pornografie: Pornografie in Island während der sexuellen Revolution und erhielt hierfür den Viðurkenningu Hagþenkis genannten Preis, die Anerkennung der Wirtschaftswissenschaften. Sie ist eine der Autorinnen des Buches Konur sem kjósa / Frauen, die wählen, das 2020 den Fjöruverðlaun in der Kategorie Sachbücher erhielt; für Ende 2022 wird ihr Buch über die Geschichte der Gesundheit und Epidemien erwartet.
Zurück zum Seiteninhalt