Kristín Ómarsdóttir: Vier Gedichte
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KRISTÍN ÓMARSDÓTTIR
Vier Gedichte
(Aus: kóngulær í sýningargluggum / spinnen in schaufenstern
JPV útgáfa Reykjavík 2017)
Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
das
ende der geschichte
die
polizei eines landes ohne grenzen hat eine küche mit rosa-silbernem
absperrband
versiegelt
nie
bekomme ich geschichten zu hören die unter dem schein einer lampe erzählt
werden der aufs wachstuch
fällt
lippen zu
sehen die sich im takt der wellen bewegen
fenster kaffeegeschirr
aschenbecher
kühlschrank
tropfen
aus einem wasserhahn
abend nacht
fensterbretter
um wie
viel prozent hat sich die rechnung verringert?
fragt die
schuldnerin und steht auf
weißes laken
weißes sperma
weißes haar
breiter schreinerrücken
bleicher schreinerrücken
das neue fenster
lässt bodennebel herein
die
schwiegermütter
die
schwiegermütter
die
schwiegermütter
liegen
unter dem hahnenfuß auf der den schwiegervätern abgewandten seite
10%
auf dem fensterbrett
ragt ein veilchen aus der vase auf und schreit
eine
sitzbank
mein sitznachbar
zeigt sich plötzlich, auf der bank sitze ich wie versteinert
er war dort
ist hier
war dort ist hier
morgenbleiche
töne färben die kränkelnd helle küche weiß
der krankenpfleger
tritt ein und stürzt zusammen mit der wand
der
apfelsinenscheibe in der schale gelingt es nicht ihren weg abzukürzen und zu
fliehn
das licht bewegt
sich nicht
die sonne erreicht
nie den mittag
der augenblick
in dem mein sitznachbar verschwindet
dauert
sehnsucht:
müdigkeit
die füße
ermüden und sehnen sich danach wurzeln im sand zu schlagen und dem wind
dem regen
zu lauschen …
glasbrust
... einem vorbeifliegenden
vogel, einem flugzeug das sich in die luft erhebt
dem Mond
zuzuschauen wie er das haar schwingt während er sich im meer spiegelt
einem menschen
zuzuschauen wie er die augen schließt und den mund öffnet
einem menschen
zuzuschauen wie er die augen schließt und die ohren aufsperrt
glasbrust
wir dürfen
nicht die maske tragen und die nörgelei in worte fassen
sprechen
sie auf eine neue weise
–
anderenfalls
–
sagte der vertrauensmann
des alphabets in den abendnachrichten
ermüden
die füße
legt sich das
alphabet auf die seite
Kristín Ómarsdóttir, geboren 1962 in Reykjavík, zählt zu den
bekanntesten Autor*innen Islands. Sie veröffentlichte bislang acht Gedichtsammlungen, neun Romane,
sechs Sammlungen mit Kurzgeschichten und mehrere Theaterstücke. Sie erhielt fast alle bedeutenden
isländischen Literaturpreise in fast allen Genres, darunter den DV-Kulturpreis
für Literatur, den Theaterpreis Dramatiker des Jahres, den Preis für
das Buch des Jahres, den Maistern für Poesie und den Preis für
isländische Frauenliteratur. um nur einige zu nennen. Außerdem wurde sie zweimal für den
Literaturpreis des Nordischen Rates und viermal für den isländischen
Literaturpreis nominiert.
Im Jahr 2020 erschien unter dem Titel K Ó ein Sammelband
ihrer Gedichte im Partus Verlag, Reykjavík & London.