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Kristian Kühn: Knispels gekrümmter Tag

Gedichte > Zeitzünder
Kristian Kühn
Knispels gekrümmter Tag


Volker Knispel, ich erinnere mich, saß jahrelang in der Schule eine Bank hinter mir. Wenn ich mich umdrehte, antwortete nur der Nachbar neben ihm flüsternd, ich glaube, Horstmann hieß er. Knispel errötete, schaute leicht an mir weg. Doch einmal, als wir Ärger mit unserem Englischlehrer hatten, baute er im offenen Fach unterhalb der Schreibtischplatte ein Gummiband so an, dass er daran zupfen konnte. Und sobald unser Englischlehrer, Herr Backhusen, eine Vokabel aussprach, Dörrpflaume etwa, auf Englisch „dried plum“, die Knispel unheimlich vorkam, setzte er klangvoll mit dem Daumen das Gummi in Bewegung. Als der Lehrer ihn fragte, was er da triebe, bekam Knispel Schleieraugen, sagte aber nichts. Und bis Herr Backhusen bei ihm war, ihn aufforderte, seine Hände auf den Tisch zu legen, hatte er das Gummi auf wundervolle Weise versteckt.
    Heute richtet Volker Knispel sich auf in seinem Bett. Er trägt noch, als Erwachsener, die schwere dunkle Hornbrille mit den starken Gläsern, die seine Augen fast über den Rand treten lassen. Er wohnt in einem kleinen Apartment, einem Karton, wie er scherzhaft sagt, als wolle er sich entschuldigen, wartet, steif auf der Kante sitzend, unentschieden, ob er sich von seinem Schlafanzug trennen soll, um durch die Tür, an der Kochnische vorbei, nackt ins kleine Bad zu schlüpfen. Die Vorhänge sind geschlossen. Das Kopfende des Cordbetts befindet sich an der Wand gleich neben der Tür, der Fernsehapparat steht auf dem Boden unter dem Bücherregal aus dünnem Holz, obenauf ein vorsintflutlicher VHS-Recorder.
    Er schaltet den Fernseher ein, gerade gibt es auf arte Giordano Brunos Aschermittwochsmahl, groß inszeniert von den Weinberg-Brüdern, und er beugt sich noch näher an die Mattscheibe, als der Nolaner dem Herrn Fulke Greville ein Empfehlungsschreiben des französischen Königs vorzeigt, das ihn in die englische Gesellschaft einführen soll, um sich mit Londoner Gelehrten und Edelleuten über seine umstrittene Kosmologie auszutauschen. Fulke schlägt im Sinne Platons ein Symposion vor, und zwar für Mittwoch in acht Tagen, am Aschermittwoch. Als der Tag gekommen ist, hört er von Fulke Greville nichts, und die Zusammenkunft wird vom Nachmittag auf den Abend verschoben.
    Obwohl der Nolaner und seine Leute auf dem rechten Weg sind, glauben sie, eine Abkürzung suchen zu müssen, indem sie zur Themse einbiegen, in der Hoffnung, dort einen Kahn zu finden, der sie schneller weiterbringt. Am Steg rufen sie nach einem Bootsmann. Ganz langsam nähern sich zwei Gestalten dem Ufer. Der eine sieht aus wie der antike Fährmann aus der Unterwelt, reicht dem Nolaner die Hand, und der zweite, der dessen Sohn zu sein scheint, obwohl er mindestens schon 65 Jahre alt ist, hilft der Gruppe ins Boot. Der Kahn knarrt, hinzu kommt ein Pfeifen und Zischen des Wassers, das von allen Seiten durch die Spalten und Ritzen ins Boot dringt. Der Nolaner sagt: Gebe Gott, dass es nicht Charon ist. Die Gruppe lacht, und ganz allmählich setzen sie ab. Doch kaum haben sie ein Stück des Weges hinter sich, steuern die Bootsleute auf das Ufer zu. Sie wohnen hier und wollen deshalb nicht weiter fahren. Nachdem die Gruppe bezahlt und sich auch noch bedankt hat, zeigen die beiden Alten dem Nolaner den kürzesten Weg zur Hauptstraße. Es ist ein Weg voll Schlamm, der keinen Durchgang bietet. Der Nolaner aber sagt: Ich sehe einen Ausweg, wenn er auch schwer sein wird. So folgt mir! Kaum hat er das gesagt, versinkt er tief im Dreck, dass er die Beine nicht mehr herausziehen kann. So gehen sie mitten hindurch, einer dem anderen beistehend, in der Hoffnung, das höllische Reinigungsbad werde bald ein Ende nehmen.
    In Knispel ist Bewegung gekommen, langsam gleitet seine Hand zum Kragenknopf, zieht er die Schlafanzugsjacke über die Nase, wobei ihm die Brille zu Boden rutscht. Die Gruppe um den Nolaner kann die Strecke, die sie zurückgelegt hat, nicht mehr von der unterscheiden, die noch vor ihr liegt. Knispel sagt, in den Spiegel sehend beim Zähneputzen, elend dieses unentwegte Warten auf das Ende. Nachdem er den Zahnputzbecher ausgespült und wieder sorgfältig im Alibertschrank verstaut hat, setzt er in der Nische, gleich neben der Eingangstür, Wasser auf. Derweil er sich ankleidet gerät die Gruppe um den Nolaner in einen Pfuhl, der einen ganz schmalen Rand zum Gehen bietet. Allerdings straucheln sie bei jedem Schritt wie Betrunkene bis zur Hauptstraße. Als sie sich umsehen, wohin sie die Abzweigung geführt hat, bemerken sie, dass sie nur wenige Schritte von ihrem Ausgangspunkt entfernt sind. Da ruft der Nolaner das Gebet: „O unbeständige Dialektiken, verschlungene Zweifel, lästige Trugschlüsse, spitzfindige Fangschlüsse, dunkle Rätsel, verworrene Labyrinthe, verteufelte Sphingen, löst Euch auf oder lasst Euch lösen!“
    Knispel drückt den Ausknopf, sich wundernd, warum er die Stelle verpasst habe, die von den Fesseln des Geistes handelt. Er beherrscht sie auswendig: Einem rechtschaffenen Menschen steht die Schüchternheit aufgrund seiner Taten nicht an. Einen alten Menschen wird niemand dafür loben, dass er schüchtern ist. Aber befindet sich diese Maxime, wie er hätte schwören können, im Aschermittwochsmahl? Er geht an den Kühlschrank, um nach Käse und Wurst zu greifen. Da klingelt das Telefon, das auf dem Boden am Bett steht. Seine Hand weicht zurück. Er muss den Hörer gar nicht abnehmen. Sein Fuß besorgt dies, weil er nicht aufpasst und über den Apparat stolpert.
    Ja, bitte.
    Er nickt. Legt auf. Bekommt sofort den zweiten Anruf:
    Genervt sagt er in die Muschel: Jaaaa.
    Wieder nickt er, nickt. Und sagt: So ist es.
    Legt auf. Geht an den Computer, stellt fest, dass er keine Emails zu lesen hat, findet sich bei YouTube wieder, gibt Sister Ray ein. Schwankt, ob er sich für die Live-Aufnahme von Lou Reed oder die Studioaufnahme von Velvet Underground entscheiden soll, auch wenn er dann nur die Banane von Andy Warhol zu sehen bekommt, er wählt das Original. Bummpapabummpapa-bummbummbumm. Papabumm. Papabumm. I'm searching for my mainline Papabumm I said I couldn't hit it sideways Bummpapabumm I said I couldn't hit it sideways Papabummpapapapa Oh just like Sister Ray said Whip it on. Bummpapabummpapapapapabummpapapapa. Es ist dieser abgehackte Rhythmus, der in ihm einen längst gefassten Entschluss weckt, nicht gleich natürlich, aber das Lied ist lang, sehr lang. Etwas, ein kleines Reis in ihm, wächst und schwillt mit den jazzartigen Disharmonien, noch kämpft seine Vernunft und Schüchternheit dagegen an. Bummpapabummpapapapapabummpapapapabumm. Aber er ist der Sänger, der das Mikro von der Stange nimmt, er ist der Gitarrist, der zum Schlag ausholt, er John Cale, der die elektrisch verstärkte Bratsche spielt und sie, wie er tausendfach weiß, im Laufe der Ekstase zerlegen wird. Aber derweil er dies schon vorbereitet, ruft doch lauter, immer lauter und stört ein Verdacht: ist es überhaupt eine Bratsche, die geschrubbt wird, bis die Saiten springen, verwechselt er das nicht mit der brennenden Gitarre von Jimi Hendrix? Bummbummpapabummbummpapapa. Er setzt sich an den PC, liest den Wikipedia-Beitrag zu Sister Ray, da steht, unmöglich, kann nicht sein, da steht: papapapapapapapapapapa I have’nt got the timetime. Papabummpapapapapapapapabumm. Steht da, war beschlossen, alle Fehler über die 17 Minuten stehen zu lassen, Lou Reed Gesang und Gitarre, das leicht versetzte Schlagzeug Maureen Tuckers, John Cale an der Orgel, Orgel, die durch einen stark verzerrten Gitarrenverstärker geleitet wurde. Wie kann das sein? Kein Bass, John Cale, bummpapabumm spielt Orgel. Wie konnte er sich so geirrt haben? Immer hatte er geglaubt, eine Bratsche werde vernichtet, Schwester Ray nur ein Jux? Überzogen geschminkte Transen, die Seeleute mit nach Hause nehmen, um eine Orgie zu feiern, bis die Polizei kommt, insgesamt acht Personen, derweil eine krepiert, niemand aber dem sterbenden Seemann  hilfreich die Hand reicht, papabummpapabummpapabumm He cocks it shoots it between three and four bummpapabumm He aims it at the sailor bummpapabumm Shoots him down dead on the floor bumpapa Oh you shouldn't do that bummpapabumm Don't you know you'll stain the carpet papabummpapabumm Now don't you know you'll stain the carpet bummpapa To busy sucking on a ding-dong bummpapapapapabumm She's busy sucking on my ding-dong bummpapapabumm Knispel hat sich umgezogen, er trägt seine längst abgelegte Kung Fu Kleidung mit dem Gürtel, der sich immer öffnet, und statt Luftbratsche zu spielen oder Orgel, drischt er rechts und links im Rhythmus auf seine Bücherregale ein, zerstört langsam seine Einrichtung. Die durchgebogenen Bretter ächzen, brechen, entlassen die Schriften, sie fallen zu Hauf, purzeln, eins der Regale kippt ganz, Knispel kann gerade eine Rolle rückwärts durch die Tür zur Kochnische machen. Ja, er hat noch den kleinen Hornhautbuckel auf dem Rücken vom vielen Üben damals. Noch spielt die Musik und Lou Reed stottert I said c-c-c-couldn't hit it sideways bummpapabumm I said c-c-c-c-c-c-couldn't hit it sideways bummpapapapapabumm Ah do it do it just su-su-su-suck bummpapapapabumm That's ju-ju-just excellent Oh! Dann drischt er auf den PC und zieht den Stecker. Der Kanister, jetzt den Reservekanister! Spritzt seinen Inhalt über die Bücher. Töten ohne Grund, sagt er. Nur in Amerika, was für ein Unsinn! Mann, was für idiotische Bilder, Bruno der Nolaner und die Schüchternheit, was für Bilder, wenn alle lichterloh fackeln. Seine übergroßen Augen sehen in den Spiegel, schon ist er draußen, blickt zurück, wie sein Karton brennt, sieht sich in seinem blauweißen Mini, geleased natürlich, seit Jahren schon, auf der Landstraße – kein Verkehrsteilnehmer kommt entgegen, keiner folgt ihm. Die Fahrt ging schnell und fehlerfrei. Die Straße wurde zu einem Feldweg, dann zu einem Waldweg. Er parkte vor einem Haus in einer Waldlichtung. Stieg aus, klingelte.
    Eine Frau öffnete. Sie ließ ihn herein, beugte sich vor, um einen Kuss zu empfangen, er aber fällte sie, noch im Windfang, mit einem Handkanten-Schlag. Statt eines Blickes, setzte er sich an den Apparat, sah weiter auf arte, wie es die Gruppe um den Nolaner zurück zu ihrer Wohnung zieht, Schlamm und Sumpf haben ihnen solche Dreckstiefel verpasst, dass sie kaum die Beine heben können. Auch die Dunkelheit drängt sie zur Rückkehr. Auch das Wetter. Aber auch die vielen Mühen rufen, die sie sonst vergebens auf sich genommen hätten. Doch wenn dieses Stückchen Weg, das keine 25 Schritte beträgt, schon so viel Anstrengung gekostet hat, wie soll es erst mit dem langen werden, der noch vor ihnen liegt? Auch spricht aus ihnen der verletzte Stolz, denn jene, die es nicht für nötig gehalten haben, der Gruppe bei diesem Wetter zu Hilfe zu eilen, dürfte ihr Fernbleiben gar nicht berühren. Aber andererseits, der Nolaner hatte sein Wort gegeben, und man könnte ihm wer weiß was anhängen. Was hat das Schicksal bestimmt? Die alltäglichen und leichten Dinge sind für gewöhnliche Leute. Außergewöhnliche, heroische Menschen beschreiten einen Weg des Widerstandes. Und wenn es auch nicht immer möglich ist, den Sieg davonzutragen, ruft der Nolaner, gebt nicht auf, strengt all Eure Kräfte in einer so entscheidenden Sache an, leistet bis zum letzten Atemzug Widerstand!
    Knispel schaut auf die Leiche, rudert mit ihr in einem Kahn den See hinaus, wirft sie ab. Da denkt er, ja was denkt er – ihm fällt etwas ein, aber er weiß nicht was. Als ob er von diesem Moment an sein eigenes Spiegelbild wär, denkt er: „Wer steigt für mich, Madonna, auf zum Himmel, und bringt zurück mir den verlorenen Verstand?“ Hat das nicht Bruno gesagt? Er taucht, holt sie wieder aus den Wassertiefen hoch, rudert die Leiche zurück.
 
Sieht fern: Doch nun mache dich bereit und wisse, sagt der Nolaner, Anlass zum Lob ist uns gänzlich genommen, denn höchst ungelegen und zum Ärger aller müssen wir uns mit einem Pöbel abgeben, der leider allzu verschwenderisch von der Erde beherbergt wird. Dieser Pöbel ist respektlos, verächtlich, unhöflich und frech. Wenn er einen Ausländer trifft, so gebärdet er sich wie lauter Wölfe und Bären, die ihm grimmige Gesichter schneiden, wie ein Schwein, dem man den Fresstrog wegzieht. Will es das Unglück, dass du einmal jemanden berührst, so siehst du plötzlich, soweit die Straße reicht, dich von einem Heer von Flegeln umringt. Daher ziehe deinen Hut, Bruder, wenn du spürst, dass man dich hart anstößt, grüße deine Widersacher. Der Nolaner ging hinter den anderen, wo es aber nicht weniger Schläge durch die Nachfolgenden als von vorn durch die Entgegenkommenden hagelte. In dieser Reihenfolge, einer nach dem anderen marschierend, erreichten sie schließlich kurz darauf lebendig die Tür des Palastes, die sich sofort öffnete, als sie anklopften.
    Knispel beugte sich zur toten Frau herunter. Als hätte sie – am Boden liegend – fest geschlafen und erwachte nun, gab sie ihm zum Abschied einen Kuss und fragte: Gehst du schon? Er nickte und fuhr mit dem Mini zurück. Zuhause sah er schon am kleinen Fenster neben der Eingangstür zum Karton, dass seine Wohnung in Flammen stand.
    Er trat ein, nicht ohne auf dem Balkongang den dort hängenden Feuerlöscher gegriffen zu haben, löschte die kümmerlichen Reste seiner Existenz, da klingelte schon das Telefon, und Knispel hob unwirsch ab: Ja, bitte? Er nickte. Ja, ja, grunzte er. Seine übergroßen Augen sahen in den Spiegel. Ich bin gut angekommen. Er nickte noch einmal, schaute leicht an seinem Spiegelbild vorbei und legte auf.
    Dann sah er sein Werk, roch angewidert an seiner Kleidung, errötete, ging zum Kühlschrank, griff nach dem Käse, der Wurst, biss hungrig zu, richtete sich in der Nische neben der Tür ganz auf, kaute im Stehen und wartete, wartete, suchte nach ein paar Krümeln, die auf den wilden Bücherberg am Boden gefallen zu sein schienen.


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