Kristian Kühn: Füll dein Horn mit Öl und geh!
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Kristian Kühn
Füll dein Horn mit Öl und geh!
Dies ist eine Rückschau auf Ulrike Draesners Münchner
Rede zur Poesie 2015 im Lyrik Kabinett. Draesner nannte sie „Die fünfte
Dimension“ und begann mit der Strophe eines Gedichts:
Nashorn spricht: bin schwer, roh nichtstampf über Sterne hin, Panzertierdoch träum ich vorn im Horn von dirfließt du daraus als Sonnenlicht
Doch sie sagt gleich zu Beginn, dies sei gar kein Gedicht,
nur ein Einfall – bei Poesie handle es sich um das „gemacht Nichtgemachte“, um
ein Sprechen des „Ganges in Sprache. In Sprache hinein, mit dem Körper.“
Das „Hinsprechen zu Poesie“ sei ein Gehen, auch ein
gemeinsames, beim Lesen, beim Vorlesen. Aber man könne stets von ein und dem
gleichen Weg sprechen, demjenigen, hin nach vorne zum Horn. Dabei müsse man einzudringen
verstehen lernen. „Spalten und Lücken sehen“ im Körperlichen auch. Dieses
Suchen, auch das gemeinsame, bleibe begrifflich unnennbar.
Dieses suchende Gehen, dieses Ausprobieren, rufe auf
der anderen Seite eine Gegenbewegung hervor: „Definition to go: Poesie
ist einer der Kanäle, durch die etwas Neues in die Welt tritt.“
Und nun das Erstaunliche ihrer Ausführungen, sie sagt:
„Definition to go: Poesie ist kein Medium des Selbstausdrucks.Definition to go: please, setzen Sie sich in Gang.“
Also etwas Gemeinsames vielleicht. Nur im begleitenden
Mitgehen erahnbar, verständlich. Gehen demnach nicht nur Bewegung, im übertragenen
Sinn, von Gedanken. Sondern eben auch Übertragung, Teilhabe. Draesner wendet sich
danach der Frage zu, ob Sprache eine natürliche Fähigkeit sei, und falls ja,
mit welchen Mitteln die Menschen „aus sich heraus zu dieser Erfindung?“ kamen. Eine
unbeantwortbare Frage wohl, so formuliert von Humboldt, auch heute noch, sagt
sie.
„Manchmal ersetzen Sprache und Körper einander. Da zittern wir nur mehr. Wollen etwas verbergen, aber erröten. Geben, bei Schreck, bei Lust, unwillkürlich Laut. Vor allem aber ist Sprache selbst körperlich: Stimme, Kehle, Hände, Leib, Gehirn. Alles arbeitet mit. Stimmungen übersetzen sich, Alter wandert in unsere Stimmen ein.“
Ein bisschen kryptisch verwendet Draesner das Bild des
Nashorns, das eher steht, statt geht, bei der Panzerung. Vielleicht als Metapher
für den Gesamtkorpus Menschheit. Sie umgeht dabei das mystische Einhorn, von dem
die Bibel und der Physiologus behaupten: „Und es wird erhöht werden mein Horn
wie das eines Einhorns“ (Ps. 91 (92) 11) – und auch Samuel 1, 16, 1: „Füll dein
Horn mit Öl und geh!“ streift sie gar nicht, obwohl sie eigentlich auf dieser
Gesamtkonstruktion aufbaut. Denn statt dem Öl als Synonym für einen biblischen
heiligen Geist, folgt sie der Spur diverser moderner wissenschaftlicher
Untersuchungen und Erkenntnisse, zum Beispiel: „Die Kinder wissen und verstehen
etwas, können es sprachlich aber nicht ausdrücken.“ Sie bleibt also beim Bild der
„inkongruenten Körperschichten“ – denn in einen solchen Bereich „des Wissens an
der Grenze der Sprache“ führe „allein die Eigenbewegung der Sprache“. So
gelangen wir mit der Poesie an die „heimlich/unheimlichen Orte, in denen wir
selbst nicht mit uns kongruent sind, unsere Körperschichten nicht exakt
aufeinanderpassen.“ Sie erklärt diese Inkongruenz des Nichtaufeinandertreffens
von Frage und Antwort und der Gedanken und Gefühle mit dem common sense, dem
gemeinsamen Gehen:
„Meine Behauptung, Gedichte seien nicht vorrangig Ausdruck von sich, lässt sich jetzt präzisieren. Sie sind sowohl Ausdruck radikaler Subjektivität als auch grundlegender Kollektivität.“
Was für eine Volte! Wenn viele zusammen in eine
Richtung zu marschieren glauben, kommen sie nicht unbedingt vorne am Horn an. Und auch
Draesner lenkt ein, indem sie die Evolution ins Spiel bringt, die Physiologie
der Sprache: „Unsere Sprache ist physiologisch evolutionär mit unseren Händen
verschaltet. Sprache ist ein Greifwerkzeug – eine Art händisches Beißen in die
Welt.“
Dann stößt sie zum Punkt ihrer Rede vor: Sprache als fünfte
Dimension (die vierte die Zeit).
„Als fünfte Dimension ist Sprache etwas, das uns überfordert. Dichtung ist eine Gattung der Überforderung. Des Schreckens.“
Und
„Definition to go: Poesie heißt, die Mächtigkeit der Sprache leuchten zu lassen.“
Damit kehrt sie elegant zurück in die doppelte Welt
der Romantik, des Öls, aber auch die der Moderne.
„Poesie handelt (greift auf, gibt weiter) mit Sprache in einem Übersetzungsgestus. Sie gelingt dort, wo es gelingt, die Bewegung der Sprache selbst zu fassen – Schritt für Schritt, auf dem Papier.“
Man will also diesem "Öl" auf die Spur kommen. Damit
sind wir auch bei Elke Erb und ihrem Arbeitsverfahren der 5-Minuten-Notate angelangt.
Erb nimmt in diesem Sinn sogar direkt Bezug auf Draesner. Bis zu einem gewissen
Grad sind Erbs Dichtungen eine Poetik des Strömens von Sprache, nebst bewussten,
zum Teil dichterisch erklärenden Eingriffen, Stopps, sprich einer versuchten Kontrolle
des Flusses. Das mögen einige störend finden, andere für aktuelle Poetologie,
wie es der Diskurs über ihre Büchner-Preisverleihung 2020 zeigt.
Genau das hat die Vormoderne, etwa die Romantik
bekanntlich nicht gewollt und zu verhindern versucht.
Das – Draesner, Erb – ist verklingende Moderne in heutiger
Form. Was in den Anfängen der Moderne, bei Baudelaire etwa, noch der parallele
Gleichklang der doppelten Welt, des doppelten Ausdrucks, einer doppelten
Schönheit war, wird bei Draesner dialektisch nebeneinandergestellt.
„Und die Erwartung, alle Vorstellung gerät in Bewegung, Schönheit entsteht doppelt, zum einen in dem gezeichneten Bild, zum anderen in der Geste des Zeichnens selbst. Man sieht den vollkommenen Mund und seine Verletzbarkeit, das vollendete Bild und seine Vergänglichkeit, sieht, wie es durchdrungen, bedroht ist, wie etwas in es hineinwächst, sieht den Grund durchscheinen ins Jetzt, das Jetzt bezogen auf einen Grund, der seine Zukunft ist.“
Eigentlich ist die Form der Moderne, in dieser ihrer
Begründung, immer noch wie vor 150 Jahren, außer dass Baudelaire vielleicht den
Grund auf einem mythischen Urzustand hätte aufgebaut und nicht auf eine wackelige
Zukunft, so in etwa und so allerdings hat sich der Stil verschoben, er ist
inkongruent geworden und läuft somit zwar gemeinsam, aber nebeneinander her
zugleich.
Wer mehr dazu nachlesen will und noch ein Heft
ergattert:
Ulrike Draesner: Die fünfte Dimension. Münchner Rede zur Poesie.
München (Stiftung Lyrik Kabinett) 2015. 30 Seiten. 12,00 Euro.
