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Kristian Kühn: Die Durchschreibung

Diagramme
Foto: Ruprecht Volz
Kristian Kühn

Die DURCHSCHREIBUNG


In Bremen, in der Kunsthalle, oben im Dachgeschoss, befindet sich ein großer, luftiger Raum mit sechs Stühlen unterschiedlichen Designs, die in ihrer Formation täglich umgestellt werden. An der Decke, unterhalb des Oberlichts, ist eine Konstruktion mit 24 Studiolichtern angebracht, programmiert nach dem I Ging, dem Buch der Wandlungen. Zugleich sind aus 36 Kanälen Klänge zu vernehmen, die aufgrund ihrer unterschiedlich lang aufgenommenen Endlosschleifen stets neue Tonarrangements erzielen, mal sich steigernd und zusammengeballt, dann wieder ausklingend oder in Stille, so dass, wer auch immer wie oft den Raum betritt, zu keiner Zeit dasselbe hören wird.

Die Installation trägt den Namen „Writing(s) through the Essay: On the Duty of Civil Disobedience“ (= Durchschreibung(en) des Essays: „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (deutsch auch: „Widerstand gegen die Zivilregierung“ von Henry David Thoreau.) Und sie wurde 1987 zunächst auf der documenta 8 in Kassel gezeigt, dann 1998 von der Kunsthalle Bremen übernommen. Allerdings sind dort mit dem Oberlicht des Dachgeschosses die Lichteffekte der Installation obsolet.

John Cage, die Stimme manipuliert durch eine Vielzahl an Überlagerungen, durch Stimmdruck und Geschwindigkeit, liest sich vertikal durch die (horizontale) Textvorlage in Form eines Mesostichons, das heißt, wie mit einem Senkblei in die Tiefe nach unten, die mittzeiligen Buchstaben verwendend. Die verwandten Laute sind eine Kreuzung aus geringen Teilen der „Messe der Armen“ (Messe des pauvres) von Erik Satie und der Anfangspassage des Essays, in dem es gegen die Sklaverei und den mexikanisch-amerikanischen Krieg geht. Zugleich sind einzelne Laute von Zuschauerreaktionen hinzugemischt, so dass es sich bei dieser Klang-Arbeit um kein politisches Statement handelt, sondern jede Begegnung mit ihr eine subjektiv erlebte Komposition darbietet. Für John Cage sollen die Stimmen einen Effekt erzeugen, analog zu Autos im Verkehr, jedesmal an der Kreuzung anders.

John Cage hatte sich bereits seit den vierziger Jahren mit dem Prinzip der Durchschreibung beschäftigt, und zwar zunächst in Zusammenhang mit James Joyce, speziell mit dem schwer zugänglichen „Finnegans Wake“ („Writings through Finnegans Wake“, aber auch schon 1942 in „The Wonderful Widow of Eighteen Springs“). Lautpoetische Texte, die er auf Performances gerne vortrug. In einer Filmaufzeichnung zu seiner Vortragsreihe „Silence“ von 1961 sagt er:

„Wenn ich etwa das höre, was man Musik nennt, kommt es mir vor, als würde jemand reden. Über die Gefühle oder über Ideen. Beziehungen. Aber wenn ich den Verkehr höre, den Klang des Verkehrs, habe ich nicht das Gefühl, dass irgendwer spricht, dann habe ich das Gefühl, dass der Klang handelt. Und ich liebe die Aktivität des Klangs. Was er tut, er schwillt an, wird höher und tiefer, wird länger und kürzer, er macht all die Sachen, mit denen ich komplett zufrieden bin, ich brauche keinen Klang, der mit mir redet.“

Zeit und Raum bilden für Cage eine Einheit, die man nicht vereinzeln und damit begrenzen bzw. mentalisieren dürfe, und bezieht sich damit auf Duchamp und dessen Begriff einer „Musika-lischen Skulptur“:

„Wir sehen keinen großen Unterschied zwischen Zeit und Raum. Wir wissen nicht, wann die eine beginnt und der andere aufhört. Verschiedene Klänge kommen von verschiedenen Orten. Und bleiben, verfestigt zu einer Skulptur, die sonor ist, und die wir hergestellt haben. Die Leute erwarten beim Hören mehr als ein Hören, und so sprechen sie manchmal von einem inneren Hören. Oder von der Bedeutung des Klangs. Wenn ich über Musik rede, bleibt bei den Leuten der Eindruck, dass ich über Klang spreche, der nichts bedeutet. Und er geht nicht nach innen, sondern nach außen. Und diese Leute sagen dann schließlich, du meinst, es sind nur Klänge, mit der Bedeutung, dass sie als Nur-Klänge nutzlos seien. Während ich Klänge liebe, so wie sie sind. Und ich erwarte nicht von ihnen, dass sie irgendwas mehr sind, ich erwarte nicht, dass sie psychologisch sind, auch nicht, dass sie vorgeben, ein Behälter für was zu sein …“

Der Klang soll sich durchschreiben, in die Falte hinein, ins Schweigen, wie ein Schnitt des Chirurgen durch die feine Materie der Sprache, in diesem Fall auch der Messe der Armen – Daniel Charles, der französische Musikwissenschaftler, schreibt, dass es das Anliegen von John Cage war, nicht nur die Instrumente subversiv zu notieren, etwa mit der Erfindung des sog. präparierten Klaviers, sondern auch die Partitur als solche zu dekonstruieren: „Der Interpret kann beim Spielen das klangliche Ereignis als solches nicht mehr vorhersehen, und der Weg zur Notierung von Aktionen ist offen.“

Cage will die Entinnerlichung, die Entsubjektivierung des Künstlers erreichen, zunächst den Klangfarben von Erotik und Ruhe auf der Spur, dann – sich dem Osten zuwendend – der Stille und der subjektiven Resonanz aus dieser Leere, dieser (um es westlich auszudrücken) Euphemie, dieses Schweigens in Andacht.  

Sein Satie-Festival, Ende der Vierziger, wurde zum Skandal. Die „große“ Musik des Okzidents sei seit der Renaissance ins Schleudern geraten – und Cage rekapituliert, auf welche Weise die Musik wiederhergestellt werden muss. Musik bestehe aus Tönen und aus Stille/Schweigen. Aber was enthalte die Stille? Nichts, außer einer Dauer. Deshalb solle man sich nicht den abendländischen Größen wie Mozart und Beethoven zuwenden, um die Harmonie weiter-zuentwickeln, sondern der Zeit, dieser gemeinsamen Struktur von Tönen und Stille. Diese sei dem Okzident seit dem Mittelalter verloren gegangen und erst von Satie und Webern wiederentdeckt worden. Die Zeit sei es, die über das Leben und den Tod jedes Tones und jeder Stille befinde, sie belebe beide zugleich, sie gehöre also zum Intimsten des Tones wie zum Intimsten der Stille. In dieser Hinsicht bestehe sie nicht einmal „an sich“, sondern komme stets neu zum Vorschein.

Wir hören also Subjektivität, nämlich unsere rezeptive. Diese sei die Konvention des okzidentalen Menschen und solle nicht durch ein Gesamtkunstwerk überwunden werden, sondern durch einen Raum für Klang und Stille, quasi als Erlebnis der Durchdringung oder Durchschreibung hin zur Leere. Und deshalb sei die Ent-Semantisierung, und mit ihr die Nullinformation, der Anfang. Möglich sei dies, nach Cage, weil Syntax und Logik immer in ihrer Gesamtheit als Logos auf das Gute abzielten, zumindest in Form ihres telos (Zieles) und ihrer Endgültigkeit.

Für unsere aufgewühlte Zeit ein bleibender Anspruch.


Hörprobe: John Cage - Writings Through The Essay: On The Duty Of Civil


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