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Kristian Kühn: Dann öffne die Augen! (Zu "All the World's a Book")

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Kristian Kühn

DANN ÖFFNE DIE AUGEN!

Darkness at the break of noon
Shadows even the silver spoon
The handmade blade, the child’s balloon
Eclipses both the sun and moon
To understand you know too soon
There is no sense in trying
(It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding))

Diesmal waren sichtbar mehr Frauen im Lyrik Kabinett als sonst, auffallend mehr, und es könnte die Frage auftauchen: warum? Warum fällt mir das überhaupt auf, und warum mache ich dies im Zusammenhang mit Shakespeare zum Thema?

Liegt es an einer aktiven Deutschen Shakespeare Gesellschaft, deren Präsident der Moderator des Abends, Tobias Döring, von 2011 bis 2014 war, Inhaber des Lehrstuhls für Englische Literatur-wissenschaft an der LMU mit den Aufgabengebieten Shakespeare und Early Modern Studies? Und Mitherausgeber der Anthologie, um die es geht, namens „All the World’s a Book“, die ganze Welt ein Buch, abgeleitet von Jacques‘ Rede in „Wie es euch gefällt“ (2, 7):

                          „All the world’s a stage,
And all the men and women merely players;
They have their exits and their entrances;
And one man in his time plays many parts,
His acts being seven ages. …“

Oder liegt es an dem, was Marcel Beyer bei Shakespeare „darkness“ nennt. Wobei mein Motto des Abends aus dem Lied „It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding) nicht von Shakespeare stammt, sondern von Bob Dylan. Einer der frühen Songs, der seinen Sprung in die Nobel-Preis-Anwärterschaft vorbereitete. Dunkelheit, so kurz vor Mittag – eine Überschattung, um die wir alle besorgt sind, nicht umsonst breitet sich eine neue Gothic-Welle über die Literaturen der Welt aus. Was sonst verbindet uns mit Shakespeare? Eigentlich doch nichts. Und doch wird er gespielt und gespielt, ist er einer der fünf großen Dichternamen, wenn nicht der Größte überhaupt.

Man könnte sagen, nur weil das Dramen sind, die sich vor langer Zeit abspielten, wenn überhaupt, und zwar bis zu einem gewissen Punkt archetypisch, aber nicht zu sehr, gebildete Unterhaltung über düstere Zeiten, aus denen sich nur schwer aktuelle Bezüge herleiten ließen. Und doch gibt es bei ihm dieses Gegensatzpaar, das immer wieder in höchste Höhen wie zu tiefsten Tiefen reizt, so wie es schon Johann Gottfried Herder in seiner „Von deutscher Art und Kunst“ zum Kapitel „Shakespeare“ ausdrückt:

Wenn bei einem Manne mir jenes ungeheure Bild einfällt: »hoch auf einem Felsengipfel sitzend! zu seinen Füßen, Sturm, Ungewitter und Brausen des Meers; aber sein Haupt in den Strahlen des Himmels!« so ist's bei Shakespeare! - Nur freilich auch mit dem Zusatz, wie unten am tiefsten Fuße seines Felsenthrones Haufen murmeln, die ihn - erklären, retten, verdammen, entschuldigen, anbeten, verleumden, übersetzen und lästern! - und die Er alle nicht höret!

Es war eine Geburtstagsfeier für ein Buch, und nicht für den Verfasser, zum einen für die frisch erschienene Anthologie des Lyrik Kabinetts, zum anderen für die sogenannte First Folio, weiblich, weil sie 1623 die erste Gesamtausgabe war: „Mr. William Shakespeares Comedies, Histories, & Tragedies.“ Die einzige Fassung von Macbeth findet sich in dieser First Folio, geschrieben schon 1606. (Jakob I., Sohn der Maria Stuart, war König von Schottland, und ab 1603 auch König von England, zwei Jahre nach Erscheinen des Großen Buches, wurde er hingerichtet, 1625. Shakespeare selbst war, als seine Werke mehr oder weniger komplett aufgelegt wurden, bereits seit sieben Jahren tot. Er verdankt das postume Erscheinen zwei seiner (schon betagten) Schauspielkollegen, John Heminge und Henry Condell, beide Teilhaber der Theaterkompagnie damals.

Doch schon im Widmungsgedicht bestätigte der mit Shakespeare konkurrierende Zeitgenosse Ben Jonson, dass Shakespeare die Weltbühne „not for an age, but for all time“ vorbereitet habe. Das Folio-Format war damals eine Prestige-Aufmachung, eigentlich nur religiösen Schriften vorbehalten, und damals dementsprechend für Weltliches umstritten. Ca. 220 Exemplare, bei einer Auflage von damals ca. 800, sind heute noch vorhanden – eines davon befand sich zur Lesung vorübergehend – fein hinter Glas aufbereitet - im Lyrik Kabinett.

Die First Folio, aufgeschlagen im Lyrik Kabinett
Johann Heinrich Füssli: Shakespeare Macbeth II
Die Feier bestand darin, dass die sechs Beiträge der Anthologie vorgetragen und – in Moderation des Mitherausgebers Tobias Döring – mit den anwesenden Autor*innen angesprochen wurden. Die nicht Anwesenden wurden per Video-Clips zugespielt, physisch da waren Wiebke Meier als Übersetzerin sowie Uljana Wolf, Albert Ostermaier und Marcel Beyer. Ulrike Draesner, Lavinia Greenlaw und Simon Armitage lasen ihre Gedichte per Video von der Leinwand in den Raum hinein. Einstimmig zu vernehmen war, dass diese Sechs und natürlich auch die Übersetzer (darunter Jan Wagner für Simon Armitage) und Übersetzerinnen sofort und ohne Vorbehalt als Freunde des Hauses zugestimmt hatten, ihren Beitrag für die Geburtstagsfeier-Anthologie zu verfassen. Warum also, noch einmal gefragt, erfreut sich Shakespeare auch heute noch dieser großen, fast ehrfürchtigen Beliebtheit? Zum einen sicher auch wegen des höfischen Rahmens, man denke nur an Elizabeths Beerdigung oder die Krönung Charles III. An die Wirkung des Sarges auf den Kanonenrädern (cannon wheels) oder die Abdeckung des heiligen Vorgangs bei der Konsekration. Da versteht man dann ein bisschen vielleicht, was mit dem antiken liturgischen Spruch der Teilhabe am Attiskult gemeint war, wenn dort das Mantra ertönte: „Ich schlüpfte unter das Brautbett.“ Und ein Zeuge setzt hinzu: „Ich bin ein Myste des Attis geworden.“¹

Dieser Attis/Adonis, behauptet Ted Hughes in seinen umfassenden Shakespeare-Studien,² bilde die Grundlage für die Stücke Shakespeares: „Mit anderen Worten: Die Shakespearesche Fabel ist in Wirklichkeit der Bericht darüber, wie England in den religiösen Kämpfen von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts seine Seele verlor. Dieses Ereignis einen ‚Zerfall der Sensi-bilität‘ zu nennen wäre Untertreibung. Unsere Nationalepen sind aus gutem Grund Tragödien.“³ Denn, sagt er: „Wenn die physische Anwesenheit der Liebe zur Lust degradiert und die verbotene Lust mit allen anderen Verboten verbunden und zu einem mörderischen Teufel erklärt wird, dann wird das Leben selbst zum Schrecken, die Jungfrau zur Hure und Hexe und die wunderbare Quelle der Schöpfung zu einem leeren Loch ins Nichts.“

Der Vorgang sei immer das gleiche Narrativ, ein sexuelles Dilemma beinhaltend, einen Konflikt zwischen alten heidnisch magischen Kräften, symbolisiert in der Frau und Mutter als eine Art gelebte Marienbezeugung und Verehrung einerseits und in einem immer mehr anwachsenden Puritanismus christlicher Heroenschaft von Entsagung, Askese und schließlicher Entladung in das Schreckliche, in das unaussprechlich Unmenschliche. Hughes sagt, Shakespeare zeichne diese Puritaner in seinen Stücken als schlichte Figuren, aber exzessiv, sobald sie in ihrem Kampf gegen die Libido auf der einen oder anderen Weise von eben dieser infiziert werden, und sie verhalten sich, sobald die puritanische Maske zerbricht, entweder selber dann dämonisch oder werden von dem Dämonischen (der eigenen unterdrückten Lust) geschändet und zerstört. Oder sie werden vom Wahn ergriffen. Hughes fährt aber fort, indem er sagt: „Das Eigenartige aber ist, daß gerade diese Männer des Chaos – von Aaron bis Caliban – das Sprachrohr der Poesie sind.“ Gerade ihnen, den Besessenen, legt Shakespeare die großen Textpassagen in den Mund.

„Hier verbirgt sich das Geheimnis eines von Shakespeares größten Geniestreichen. Mit dem Ausbruch der unterdrückten Naturgöttin – indem sie nämlich von dem Mann Besitz ergreift, der sie verleugnet hat, und dadurch den chaotischen Königsmörder erschafft – hat Shakespeare eine vom Wesen her erotische Poesie in das umfassende Corpus einer politischen Handlung überführt: vor allem in die Handlung, in der ein rechtmäßiger Herrscher von einem Halbverrückten ersetzt wird, der in irgendeiner Form mit dem Mal der Bestie gezeichnet ist.“

Simon Armitage, seit 2019 englischer Poet Laureate, nimmt Bezug in seinem Beitrag auf Hamlet und gibt sich einen Pseudorat an den Hamlet, der auch in ihm selber steckt, vom Vatergeist gesprochen:

Mein Vater riet mir:
                 „Wenn du den Gegner triffst,
                            triff ihn mit aller Wucht“

Doch hat diese Imagination des „Geistes“ drei Stufen.

In Wirklichkeit
               Sagte er dies:
                        „Laß mich die Axt nehmen,

du hältst sie ja
               völlig falsch
                         Ist doch kein Stift.
   
Und schließlich

In Wirklichkeit sagte er:
                        „Ich gehe jetzt, mein Sohn.
                                  Bleib du hier, bei deiner Mutter.“

So ist Hamlet zum imaginierenden Schriftsteller geworden, der Ermahnungen von Verstorbenen an (bald) Verstorbene weitergibt. Denn Shakespeare verschlinge letztlich seine Kinder, wird an dem Abend geraunt, wie auch etwa von Marcel Beyer – doch derweil Armitage rät, lieber zu schreiben statt Hand anzulegen, will Beyer, dass die Nachfolge, die der alten Darkness folgt, diese auch empfängt und sich beim Schreiben auch einverleibt. Marcel Beyer fühlt sich von der „darkness“ bei Shakespeare inspiriert, er habe auch – trotzdem er generös sei – etwas Zwiespältiges, ja Bösartiges. In Beyers Ratschlag an junge Dichter heißt es:

Liebe die Schrift und geh gelassen
mit der Darkness um,
die alle Schrift umgibt. Freu dich
aufs Feuer im Herbarium

Und natürlich auf das Schreibzimmer. Dort im Schreibzimmer sei die Darkness zu ertragen, ja sich einzuverleiben, indem man es ihr und sich „einmal richtig zeigt“. Dieses Einverleiben ist für Beyer „Arbeit an der Sprache./ Das bist du. Löse und binde. …“

Formal habe Beyer sich streng an die gleiche Versanzahl wie das Widmungsgedicht Ben Jonsons gehalten, nämlich 72, aber nur die halbe Silbenzahl gewählt.

Lavinia Greenlaw derweil, Professorin am Royal Holloway College in London für Kreatives Schreiben, nennt ihr Gedicht „Schlechte Träume“, sich wie Armitage auf Hamlet beziehend, mit dem Ziel, „dem Dunkel mit Zitaten zu begegnen“ (to meet the dark with quotations), in ihrem Gedicht als Schwester Ophelia.

        Ich irrte durch Nebel und schrie, ich könne nichts sehen.
        Die Luft wurde klar, sobald ich deine Stimme vernahm:
        Dann öffne die Augen!

Hamlet und Ophelia reden und kommen zu dem Schluss, ihr „wahres Thema“ sei immer der Tod gewesen. Und schon endet das Gedicht, endet mit dem Tod, in den die Dichterin als Ophelia mit geöffneten Augen blickt. „Ich blicke auf deinen Tod. Ich öffne die Augen.“

Der Trick dabei ist der Entschluss, nur eine kleine Existenz auf Erden zu sein, denn je kleiner die Bedeutung, desto kleiner auch der Tod.

Am Anfang der First Folio, noch vor dem Kupferstich mit Shakespeares Konterfei befindet sich eine kleine Anrufung „For the Reader“, sie ist das Motiv der „anrufflung“, die Uljana Wolf der Anthologie beigesteuert hat und sich auf die Arbeit des Kupferstechers bezieht, der dem armen Shakespeare anfangs keinen Hals oberhalb der Halskrause zugestanden hatte. Und Ulrike Draesner geht in ihrem dreiteiligen sprachkritischen Gedicht mit den dreifach überschriebenen Silben als Titel auf die Erstellung des Pergaments für den Druck der Ersten Folio ein und verallgemeinert diesen Vorgang des Häutens bis zur Blöße mit dem Vorgang des Sterbens und des Schreibens. Und Anton Ostermaier schließlich verlagert die Kuhhaut des Pergaments auf die Menschenhaut und beginnt seinen Beitrag, der „ariels lesezeichen“ heißt, indem er zusammen-fasst:

„dieses buch ist auf menschen
Haut geschrieben jede seite“

Und er geht auch auf das Öffnen der Augen als letztes Lesezeichen ein:

„ein aufschlagen der zitternden
Lider durchstochen von träumen“

Eine schlanke Anthologie, je tiefer man aber einsteigt, desto näher rückt Shakespeare, egal, ob es ihn gab, er männlich war, oder weiblich, oder überhaupt ein Wesen, nahe bei uns, trotz aller Ferne. Und auch mich hat niemand gesehen, ich war gar nicht involviert – ich habe nur imaginiert und bin auch nur unter das Brautbett geschlüpft.


¹ Überliefert bei Klemens von Alexandria:„Protreptikos“, 15,3.
² Ted Hughes: Shakespeare: Das Große Thema. In „Wie Dichtung entsteht“, S. 151 ff.)
³  a.a.O. S. 171.
⁴  a.a.O. S. 173.
⁵  a.a.O. S. 167.
(Tobias Döring, Holger Pils:) All the World’s a Book. 400 Jahre Shakespeares First Folio. Englisch, deutsch. Gedichte von Simon Armitage, Marcel Beyer, Ulrike Draesner, Lavinia Greenlaw, Ben Jonson, Albert Ostermaier, Uljana Wolf. Übersetzungen von Shane Anderson, Tom Cheesman, Iain Galbraith, Wiebke Meier, Sophie Seita, Walther Victor, Jan Wagner. München (Stiftung Lyrik Kabinett) 2023. 82 S. 15,00 Euro.


 
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