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Kristbergur Ó. Pétursson: Sieben Miniaturen

Werkstatt/Reihen > Reihen > Wortlaut Island
Kristbergur Ó. Pétursson

Sieben poetische Miniaturen

(Aus: Vetrarfærðin / Winterbeschwer. Gedichte und Bilder. Prentun, Reykjavík 2021)

Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer



DU DACHTEST

Du hast zwei Exemplare
derselben Schallplatte gekauft

die eine zum Abspielen
die andere zum Aufbewahren

und dachtest
dass du niemals Langeweile haben würdest



EIN STÖRFALL

Das
was man
tief genug
eingegraben hat

muss einen
Störfall verursachen
der nicht auf eine
Reparatur zurückzuführen ist



MUTTER

Die blinde Frau fädelt eine Nadel ein
und flickt Lumpen

das alte Weib im Dunkel
mit einem glitzernden Faden
auf der Spule



EIN PFERD

Ein Pferd ohne Reiter kam im Galopp
ans Stadttor gerannt und wieherte laut:

Lasst mich rein!

Die Wächter hörten dies
und sagten:
Das ist das Pferd des Boten



WARTEN

Der Postbote
ist eine Frau mit schwerfälligem Gang
die ihre besten Zeiten hinter sich hat

Sie lässt mich warten
am Briefkastenschlitz



ES WAR EINMAL

Es waren einmal friedfertige Menschen
die sich stets gemächlich bewegten
und sie alle fühlten sich wohl
in ihrer Kleidung

Das war bevor die Nähte platzten
und davonliefen



WIESO

Wieso
sammelt man alte schwarz-weiß Fotos
und coloriert sie?

Meine Großmutter trug nie diese Farben
Deine Großmutter auch nicht


Kristbergur Óðinn Pétursson wurde 1962 in Island geboren. Von 1979 bis 1985 studierte er bildende Kunst an der isländischen Fachschule für Kunst und Handwerk und absolvierte von 1985 bis 1988 ein weiteres Studium an De Rijksakademie van Beeldende Kunsten in Amsterdam. Seine Werke wurden sowohl in vielen Einzel- wie in Gruppenausstellungen gezeigt, auch erhielt er mehrfach „Künstlerlöhne“ und Stipendien. Seine Arbeiten befinden sich in mehreren Museen Islands, noch vor kurzem übergab er zwei seiner Gemälde dem neu gegründeten ARSLONGA Museum für zeitgenössische Kunst in Island, auf Anfrage von dessen Gründers Sigurður Guðmundsson. Gedichte zu schreiben, begann er 1992, unterbrach die schriftstellerische Tätigkeit aber bald wieder bis zu einem Neuanfang im Jahr 2011. Seitdem veröffentlicht er Gedichte, zusammen mit bildender Kunst. 2019 erschien ein Buch, Efnistök/Painterly Matters, das neben Abbildungen seiner bildnerischen Werke neun Gedichte enthielt. Sein Gedichtband Vetrarfærðin / Winterbeschwer erschien im Dezember 2021; es enthält siebenundvierzig Gedichte und fünfzehn Kaltnadelradierungen.
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