kookbooks
Verlage, Zeitschriften

Daniela Seel im Gespräch mit Michael Braun
DIE LYRIK IM
SACHBUCHREGAL ?
Die poetische Grundlagenforschung des kookbooks Verlags.
Eine Zwischenbilanz
„Die
Poesie ist das einzige Massenmedium, bei dem die Zahl der Produzenten die der
Konsumenten übertrifft.“ Diese Privatstatistik des Grand Old Man der deutschen
Poesie ist nach wie vor so aktuell wie deprimierend. Vor dreißig Jahren hat sie
der ewig junge Hans Magnus Enzensberger in seinen Meldungen zum lyrischen
Betrieb zum ersten Mal formuliert, in seiner fabelhaften Kurzprosa-Sammlung
Fallobst (2019) hat sie der mittlerweile neunzigjährige Ironiker jetzt
wiederholt. Was er dabei ausgeblendet hat, sind die ökonomischen,
soziologischen und ästhetischen Veränderungen, die der lyrische Betrieb seit
1989 durchlaufen hat. Und einen maßgeblichen Anteil an diesen Veränderungen hat
die Berliner Verlegerin und Lyrikerin Daniela Seel, die im Sommer 2003
gemeinsam mit dem Grafik-Designer, visuellen Essayisten und Illustrator Andreas
Töpfer den kookbooks-Verlag gründete. Binnen weniger Monate hat sich kookbooks
damals nicht nur als verlegerisches Erfolgsmodell etabliert, sondern auch als
Thinktank für moderne und avantgardistische Lyrik-Konzepte. 15 Jahre nach der
Gründung und der Veröffentlichung der ersten Titel, Daniel Falbs die räumung
dieser parks und Steffen Popps Wie Alpen, ist kookbooks mit
Abstand der wirkungsmächtigste Lyrik-Verlag im deutschsprachigen Raum. Ende
Oktober 2019 wurde diese einzigartige Erfolgsgeschichte mit dem Spitzenpreis
des erstmals ausgelobten Deutschen Verlagspreises belohnt. 60.000 Euro flossen
in die kookbooks-Verlagskasse, eine unglaubliche Erleichterung
für die Verlegerin, die in jüngster Zeit auch harte Zeiten erlebt hat, da es Nachforderungen
des Finanzamts zu begleichen galt. Mit dem Preisgeld eröffnet sich für Daniela
Seel nun auch die Möglichkeit, vergriffene Titel der ersten Stunde neu
aufzulegen, etwa Daniel Falbs die räumung dieser parks (erschienen 2004)
oder Monika Rincks zum fernbleiben der umarmung (2007). Und so gibt es
nun auch die verlockende Aussicht, ein weiteres Flaggschiff des Verlags, die
fulminante Anthropozän-Anthologie, die 2016 ein starkes Echo auslöste,
neu anbieten zu können. Einen weiteren Höhepunkt in der Ökonomie der
Aufmerksamkeit markierte 2018 das Erscheinen von Christian Metz´ Studie Poetisch
denken (S. Fischer Verlag), der ersten grundlegenden Abhandlung zur
deutschsprachigen Gegenwartslyrik im 21. Jahrhundert. In dieser Studie wird die
Wirkungsmacht von kookbooks sehr stark exponiert und sogar die Existenz
einer „Kookbooks-Ästhetik“ behauptet, als gebe es eine kohärente Ästhetik, der
alle kookbooks-Autorinnen und -Autoren folgen. Eine Diagnose, der
Daniela Seel nicht in allen Punkten folgen mag: Es gibt leider ein paar
sachliche Fehler bei der Darstellung der Verlagsgeschichte oder in seinen
Einschätzungen im Vorwort, wo es schön gewesen wäre, er hätte einmal direkt
nachgefragt. Das Buch vollzieht grundsätzlich eine starke Kanonisierung.
Darüber kann man als kleine Institution nur glücklich sein. In der Sache teile
ich seine Einschätzungen allerdings nicht alle. Der Erfolg von kookbooks
rief gelegentlich auch Neider auf den Plan, die sich grämten ob der medialen
Dominanz dieses Berliner Independent-Verlags, der bislang schon vier
Peter-Huchel-Preisträger hervorgebracht hat. Daniela Seel gibt ihren Kritikern
die einzig überzeugende Antwort, mit der man solchen Rivalitäts-Fehden begegnen
kann: mit der stoischen Fortsetzung eines Programms von hoher Poetizität. Und
mit der stetigen Erweiterung der Sprach- und Themenfelder für die
zeitgenössische Poesie. Etwa mit der Förderung des Werks von Christiane
Heidrich (Spliss, 2018), die in ihren Texten dezidiert auf digitale
Oberflächen referiert. Oder aktuell mit der Veröffentlichung der neuen Gedichte
von Charlotte Warsen (Plage, 2019), die in ihrer Bildlichkeit wie eine
Konstellation konzeptueller Sprachmalerei wirken. Von Anfang an, so
bilanziert Daniela Seel, ging es darum, Werke zu ermöglichen. Und
bestimmten Autorinnen und Autoren einen Raum zu geben. Das hat in erstaunlich
vielen Fällen ganz fantastisch funktioniert. Es sind Werke entstanden, die
wie Steffen Popps Elementar-Buch 118 (2017) oder Monika Rincks Honigprotokolle
Maßstäbe gesetzt haben für die Lyrik des 21. Jahrhunderts. (Michael Braun)
Michael Braun
Die Diskussion über Christian Metz´ Studie Poetisch
denken ist über Ansätze noch nicht hinausgekommen. Eine seiner
Grundannahmen ist zum Beispiel, dass es innerhalb des Labors für Poesie als
Lebensform – so ein kookbooks-Motto – auch eine einheitliche „Kookbooks-Ästhetik“
gibt. Christian Metz versucht das systematisch zu begründen. Aber gibt es das
überhaupt, eine einheitliche „Kookbooks-Ästhetik“?
Daniela Seel
Nein, die gibt es natürlich nicht. Der Formulierung einer
solchen These arbeitet allerdings zu, dass es ein Kollektiv-Projekt wie das
Buch Helm aus Phlox (Merve, 2011) gegeben hat, in dem Ann Cotten, Daniel
Falb, Hendrik Jackson, Steffen Popp und Monika Rinck poetologisch fundiert
arbeiten, worauf man dann gut Bezug nehmen kann als Wissenschaftler. Doch es
gibt viele andere, die eine ausgereifte Ästhetik haben, nur kein solches
Grundlagenwerk wie Helm aus Phlox vorgelegt, die aber dennoch in
literaturwissenschaftliche Betrachtungen mit einbezogen werden müssten.
Michael Braun
„Poesie als Lebensform“ ist ein Schlüsselbegriff der
Frühromantik. Er verweist auf den Versuch, Poesie als Lebensform zu
praktizieren und zugleich das Leben zu poetisieren. Inwiefern schwingt diese
Ambition immer noch mit als Antriebskraft Deines Verlags?
Daniela Seel
Wir verwenden das seit dem zehnten Geburtstag nicht mehr als
Verlagsmotto, wir schreiben auf unsere Vorschauen seitdem: das amortisiert
sich nicht. Aber diese Maxime Poesie als Lebensform hat trotzdem
überlebt und ist so griffig als Formel, dass sie immer noch stark mit uns
verbunden wird, auch wenn wir sie selbst nicht mehr so propagieren.
In der Sache schwingt es sicher noch mit, allein durch die
Praxis. Wir haben von Anfang an ‒ im Rahmen des
Künstler*innen-für-Künstler*innen-Netzwerks KOOK, das seit einigen
Jahren in unserem gemeinnützigen Verein KOOK e.V. aufgegangen ist ‒ aus
dem Labor-Gedanken heraus verschiedene Formate entwickelt, wo man auch wirklich
laborieren kann. Räume, in denen etwas ausprobiert und erarbeitet werden kann,
mit Körpern, mit Stimmen, mit Texten, mit Maschinen … Das entsteht oft aus konkreten
Bedürfnissen der Autorinnen und Autoren. Und wir schauen dann: Welches Format
lässt sich dafür entwickeln, durch Symposien, Werkstätten, Kollaborationen, den
Austausch mit Künstler*innen anderer Sparten, mit Wissenschaft … durch ein
Ineinander-greifen von Reflexion, Probenarbeit, Performance usw. Da
unterscheidet sich unser Selbstverständnis deutlich von anderen Verlagen, wo es
diese Form der Grundlagenforschung an bestimmten Aspekten poetischer Arbeit
sicher in der Weise nicht gibt. Es sind dann jeweils auch nicht nur KOOK-Autor*innen
beteiligt, sondern wir laden selbstverständlich andere mit ein.
Michael Braun
In diesen 15 Jahren des Weiterarbeitens hat sich in der
Soziologie und der Infrastruktur des Lyrik-Betriebs einiges getan. Darauf
kommen wir gleich zurück. Kurz noch zu einem weiteren Höhepunkt der Verlagsgeschichte.
Die Tatsache, dass der Verlag in diesen 15 Jahren gleich vier
Peter-Huchel-Preisträger hervorgebracht hat – Uljana Wolf 2006, Monika Rinck
2013, Steffen Popp 2014, Farhad Showghi 2018 – markiert auch seine
Wirkungsmacht.
Daniela Seel
Und dass es jetzt aktuell Martina Hefter nicht geworden ist,
trotz ihres fulminanten Werks, das ist schon eine Kuriosität in der
Verleihungsgeschichte des Preises …
Michael Braun
Wenn meine Erinnerung nicht trügt, hatte der Erstling von
Uljana Wolf kochanie ich habe brot gekauft geradezu spektakuläre
Verkaufszahlen, über 3000 Exemplare. Der Vergleich mit den 40.000 verkauften
Exemplaren von Jan Wagners Regentonnenvariationen ist nicht zulässig,
das war der absolute Ausnahmefall. Mit den heutigen außerordentlich guten
Gedichtbänden wie zum Beispiel von Farhad Showghi sind wahrscheinlich solche
Zahlen nicht mehr zu erreichen, und das hat rein gar nichts mit der Qualität
der einzelnen Bände zu tun. Meine Vermutung ist: Die Gründe sind in der
Ökonomie des Lyrik-Betriebs zu suchen …
Daniela Seel
Das denke ich auch. Wir hatten am Anfang keine Backlist, die
Autorinnen und Autoren waren unbekannt, der Verlag war unbekannt. Der enorme
Erfolg von Uljanas Erstling hat sich auf die anderen Bände aber nicht
ausgewirkt. Heute, obwohl die Verkaufszahlen der einzelnen Bände zurückgehen,
haben wir eine breitere Grundlage an starken Autorinnen und Autoren, die – wenn
auch nur in geringeren Mengen – sich kontinuierlich verkaufen. Gut, wir haben
keine fundamentalen Umsatzaufschwünge erzielt. Es gibt aber gute
Ausreißer-Jahre, zum Beispiel als Monika Rinck den Kleist-Preis erhielt. Das
hat wirtschaftlich geholfen, auch als Steffen Popp für den Preis der Leipziger
Buchmesse nominiert war. Es ist aber nicht so, dass mit der Bekanntheit der
Autorinnen und Autoren, die kontinuierlich gestiegen ist, auch die Umsätze
kontinuierlich gestiegen wären. Das hat sicher mit der Differenzierung der
Verlagslandschaft zu tun. Und mit dem Umstand, dass sich die Kulturtechnik des
Lesens verändert hat. Dass das Lesen nicht mehr unbedingt in Buchform
stattfindet. Und es gibt auch sehr viel mehr Veranstaltungen für Lyrik als vor
15 Jahren; es gibt insgesamt viel Kontakt mit Gedichten, etwa über das Radio
oder über das Internet, über Seiten wie lyrikline.org, doch das setzt
sich nicht unmittelbar in Buchverkäufe um. Und auch die Rezensionen in den
Printmedien haben sicher an Impact verloren. Ein Beispiel: Vor einigen Wochen
wurde der jüngste Gedichtband von Monika Rinck, Alle Türen, in der FAZ
besprochen, sehr positiv besprochen, zusammen mit ihren Göttinger Vorlesungen,
und das hat keine einzige nachvollziehbare Bestellung ausgelöst. Vor fünf
Jahren hätte man gesagt: Ok, wenn das in der FAZ kommt, dann sieht man sofort
die Wirkung im Verkauf, dann gibt es, sagen wir mal, 50
Barsortimentsbestellungen.
Michael Braun
In der Debatte über aktuelle Poesie grassiert epidemisch das
Stichwort „Lyrikboom“. Was könnte das denn sein, ein „Lyrikboom“? Gut, es gibt
die Vermehrung von Lyrikveranstaltungen seit dem Jahr 2004/2005. Dass der
„Lyrikboom“ gesteigerte Renditeerwartungen mit sich gebracht hätte, kann man
aber nicht behaupten. Interessanter ist doch die Frage: Welche genuin neuen
Sprachbewegungen, Sprachveränderungen sind in der Lyrik der vergangenen Jahre
zu erkennen? Da würden mir zum Beispiel die kookbooks-Autorinnen
Charlotte Warsen und Christiane Heidrich einfallen. Die genuin neuen
Sprachfelder sind zum Beispiel bei Christiane Heidrich die digitalen
Oberflächen, auf die sie referiert. Das hat es als Erfahrungsmodus oder
Motivschatz in den 1990er Jahren noch nicht gegeben.
Daniela Seel
Ganz bestimmt. Oder die Poetik von Daniel Falb, die die
ganze Erde miteinbezieht und verschiedene ästhetische Mittel dafür findet,
prähistorische und geologische Zeit bewusst zu halten. So ein Denken gab es vor
15 Jahren noch nicht. Neu ist auch ein spezifischer Umgang mit interlingualen
und polylingualen Phänomenen. Also das, was Dagmara Kraus und Uljana Wolf
machen. Die Arbeit am Polylingualen als ästhetische wie politische Strategie.
Und das ist vielleicht auch mit ein Erfolg unserer Arbeit. Es ging uns ja von
Anfang an auch darum, den Begriff und das Verständnis von „deutscher“ Literatur
zu erweitern oder zu irritieren. Im Blick auf die sogenannte „Nationalliteratur“
eine Öffnung zu befördern und poetische Vielsprachigkeiten im Gedicht ganz
selbstverständlich zu behandeln.
Michael Braun
Ein Motiv Monika Rincks in ihren Göttinger Vorlesungen ist
der Versuch, die Lyrik im Bereich der „Non-Fiction“ anzusiedeln. Inwiefern
gehört, wie Monika Rinck sagt, die Lyrik „ins Sachbuchregal“? Und was wäre
damit gewonnen?
Daniela Seel
Im englischen Sprachraum ist Poetry kein Teilbereich
von Fiction, da ist Fiction anders gefasst als hierzulande
Belletristik. Monika sagt, dass die Lyrik, die sie interessiert, ein anderes
Verhältnis zur Realität hat, ein nicht fiktives. Also Non-Fiction in dem
Sinne, Verhältnisse nicht zu erfinden, sondern sachgemäß zu verhandeln. Das
könnte tatsächlich eines der Merkmale der kookbooks-Ästhetik sein: Dass
es den Autorinnen und Autoren nicht darum geht, etwas zu erfinden, sondern mit
der Wirklichkeit umzugehen, mit Wahrheit vielleicht sogar.
Michael Braun
Noch eine Frage zu den Kommunikationsformen in der Debatte
über Lyrik. Die früheren Zentralorgane für das Gespräch über Dichtung, die
klassischen Printmedien wie die FAZ oder die ZEIT und die
Literaturzeitschriften, haben stark an Bedeutung verloren, dafür stehen andere
Player im Diskursfeld: Lyrik-Portale wie die „signaturen“ oder „Fixpoetry“ oder
die sozialen Medien wie Facebook oder Instagram. Hat das nicht auch zu einer
Partikularisierung des lyrischen Diskurses geführt?
Daniela Seel
Es gibt durchaus auch neue Versuche von
Literaturzeitschriften, Zeitschriften wie P.S. Politisch schreiben aus Leipzig
etwa, die zwar nicht lyrik-spezifisch ist, aber neue Anstöße zur
Literaturdebatte liefert, oder die Zeitschrift Transistor, die explizit
versucht, den Lyrik-Diskurs zu verankern und Leute anzustiften, im Medium einer
Zeitschrift zu diskutieren und nicht auf Facebook.
Man müsste die Medien anders zusammenführen, denke ich. Es
macht heute wenig Sinn, so etwas rein im Printbereich anzugehen, sondern es
müsste auch online transparent und zugänglich sein. Die alte Form von
poetologischem Diskurs, wie sie noch in Sprache im technischen Zeitalter
oder der Neuen Rundschau praktiziert wird – die würde ganz bestimmt
breiter rezipiert, wenn sie online zugänglich wäre. Und genauso kann man sagen:
Selbst wenn der Spiegel heute Uljana Wolf mit Foto auf den Titel hieven
würde wie seinerzeit Ingeborg Bachmann (1954), hätte das
aufmerksamkeitsökonomisch keinen auch nur annähernd vergleichbaren Impact mehr.
