Konkursbuch 56 (2020/2021)
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Konkursbuch
56 (2020/2021)
NICHTS WEITER ALS DER TOD

Wer sich
mit den letzten Dingen befasst, mit dem Faktum der eigenen Endlichkeit und der
unausweichlichen Begrenzung des Lebenshorizonts, der wird kaum an einem Satz
des widerborstigen und schwer lesbaren Romantikers Jean Paul (1763-1825)
vorbeikommen: „Ich habe mit dem Tod geredet, und er hat mir versichert, es gebe
weiter nichts als ihn.“ In seinem Insistieren auf der Alleinherrschaft des
Todes hat dieser Satz etwas zutiefst Verstörendes. Denn es scheint hier kein
Außerhalb der Letalität zu geben, die Macht des Todes ist überwältigend.
Insofern könnte der Satz Jean Pauls auch der aktuellen Ausgabe, der Nr. 56, der
Zeitschrift Konkursbuch als Motto dienen. Claudia Gehrke, die seit 43 Jahren
mit großer Beharrlichkeit die in bestem Sinn unberechenbare Denkfabrik des Konkursbuchs
leitet und zu lehrreichen Exkursen jenseits der intellektuellen Geläufigkeiten
animiert, hat es sich nicht nehmen lassen, das Jahr der Corona-Turbulenzen mit
einer 460 Seiten starken Ausgabe zum Thema „Tod“ zu kommentieren. Geplant hatte
Claudia Gehrke das Heft schon im Jahr 2019; durch die Ereignisse seit dem März
2020 haben auch Essays, Lebensberichte, Erzählungen, Fotos und Interviews ins
Heft Eingang gefunden, die von der Erfahrung der alles dominierenden Pandemie
geprägt sind. Es mag mit der für das Konkursbuch typischen Lust am
intellektuellen Eigensinn zusammenhängen, dass hier ein Heft mit Beiträgen von
rund siebzig Autor:innen entstanden ist, das ohne fundamentalistischen Übereifer
und auch ohne konformistischen Alarmismus auskommt.
1978 war
das Konkursbuch aus einem literarischen Salon entstanden, den Claudia
Gehrke gemeinsam mit dem Japanologen Peter Pörtner schon während ihrer
Studienzeit in Tübingen betrieben hatte. Das Konkursbuch hatte sich
dabei schon früh jene Themen vorgenommen, die im legendären Kursbuch Hans
Magnus Enzensbergers zu kurz gekommen waren: französische Philosophie; Erotik; Pornographie;
das Schwanken zwischen den Geschlechtern; Intersexualität. Zu den literarischen
Markenzeichen des Konkursbuch Verlags wurden bald die sprachreflexiven
Bücher der deutsch-japanischen Autorin Yoko Tawada und die Thriller der
Krimiautorin Regina Nössler. Und natürlich das seit 1982 publizierte Jahrbuch Mein
heimliches Auge. Die Stärke des Konkursbuchs lag seit je in einer
undogmatischen, gleichwohl renitenzbereiten Annäherung an die einzelnen
Themenfelder.
Im Heft
über den Tod finden wir nun Erfahrungsberichte von großer Intensität,
aufschluss-reiche kulturgeschichtliche Exkurse, fesselnde Erzählungen. In
kulturhistorischen Mini-Dossiers werden die Todesarten großer Geister
untersucht. So wird hier noch einmal der Tod Georg Wilhelm Friedrich Hegels
rekonstruiert. Im August 1831 hatte sich Hegel in sein Gartenhaus nahe dem
Halleschen Tor in Berlin zurückgezogen, nachdem ihn die Nachrichten von der
sich Berlin rasant nähernden Cholera-Epidemie erreicht hatten. Dort feierte er
am 27. August mit einigen Freunden und gutem Champagner seinen 61. Geburtstag.
Hegel war zwar gesundheitlich geschwächt und überarbeitet, fürchtete sich aber
nur kurz vor der Epidemie und kehrte schließlich ins Zentrum von Berlin zurück,
um am 10. November 1831 seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie
und die Philosophie des Rechts fortzusetzen. Vier Tage später starb er, wobei
die Forschung bis heute darum streitet, ob man wirklich die Cholera als
Todesursache annehmen kann. Torsten Flüh bilanziert im Konkursbuch, was
danach geschah: „Dieser Tod riß die Gebildeten Berlins zum letzten Mal aus der
allseits schon beschworenen Sicherheit. Dennoch war er ein wichtiges Element
der auch bei dieser Epidemie wirksamen Heilsökonomie – nicht nur weil Hegels
Begräbnis die strikte polizeiliche Weisung der anonymen Bestattung bei Nacht
und Nebel auf abgelegenem Seuchenfriedhof mit Folgen für die ganze Stadt
durchbrach.“ Der damals widerrechtliche Trauerzug bis zum Dorotheenstädtischen
Friedhof, an dem Hegels Schüler und viele seiner Studenten teilnahmen, hätte –
glaubt Torsten Flüh – unter den heutigen Corona-Bedingungen wohl einen massiven
Polizeieinsatz ausgelöst.
Ein halbes
Jahrhundert nach Hegels Tod starb einer seiner bedeutendsten Schüler, der
Literaturwissenschaftler Friedrich Theodor Vischer, Autor einer vielbändigen
Ästhetik, einen ähnlich spektakulären Tod. Ihm verdanken wir zum Beispiel die
wunderbar prägnante Definition des modernen Gedichts: „Lyrik – das punctuelle
Zünden der Welt im Subject“. Auf einer Reise nach Italien erlitt Vischer eine
schwere Pilzvergiftung, was ihn in den folgenden Tagen nicht davon abhielt, wie
ein Berserker an seinem Werk weiterzuarbeiten. In Gmunden am Traunsee brach er schließlich
am 14. September 1887 zusammen. Seine letzten Worte sind sehr aufschlussreich:
„Arbeit! Arbeit!“
Neben
solchen historischen Exkursen konfrontiert uns das Konkursbuch mit sehr
berührenden Erfahrungsberichten z.B. der Sängerin Jeanette Oertel, der
Literaturwissenschaftlerin Sabine Kebir oder der Psychotherapeutin und Autorin
Barbara Schirrmacher. Schirrmacher berichtet in Antworten auf die vom Konkursbuch
an einige Beiträger:innen versandten Fragebögen von einer traumatisierenden
Familien-Tradition. Ein großer Teil ihrer Familie väterlicherseits nahm sich im
April 1945 auf der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee in Finsterwalde in
Brandenburg das Leben. Drei Kinder, drei, vier und sieben Jahre alt, wurden mit
Zyankali vergiftet, sie starben zusammen mit ihren Eltern und Großeltern. Diese
recht häufig praktizierten kollektiven Suizide am Ende des Zweiten Weltkriegs
sind in der deutschen Erinnerungskultur bis heute nicht präsent.
Neben
solchen drastischen Einblicken in die deutsche Todeskultur präsentiert das Konkursbuch
auch aufschlussreiche Berichte über die kulturell sehr differenten Rituale der
Bestattung – und nicht zuletzt zwei Dutzend Gedichte über die Begegnung mit dem
Unausweichlichen. Den gelassensten poetischen Beitrag zum Tod liefert dabei der
Lyriker Andreas Graf: „Der Tod, mein Schatz, ist eine coole Sau./ Er kommt auf
jeden Fall. / Er kommt./ Prompt. / Nur sagt er´s nicht genau./ Nicht mal seiner
Frau.“
Konkursbuch
56, Konkursbuch Verlag, Tübingen 2020, 460 Seiten, 16,80 Euro