Knut Ødegård: Die Zeit ist gekommen
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Stefan Hölscher
Knut Ødegård: Die Zeit ist gekommen. Gedichte. Aus dem Norwegischen
übertragen von Åse Birkenheier. Nettetal (Elif Verlag) 2019. 88 Seiten. 20,00 Euro.
Poetische Vibration
Vielleicht fällt an den
von Knut
Ødegård
in dem im Elif Verlag im September 2019 erschienenen Band „Die Zeit ist
gekommen“ versammelten und von Åse
Birkenheier aus dem Norwegischen ins Deutsche übertragenen Gedichten
zuerst auf, wie diese Gedichte nicht sind:
Ødegårds Gedichte bescheren den Lesenden nämlich sicher keine Knoten im Kopf;
sie führen nicht dazu, dass man bei jedem fünften Wort bei Wikipedia nachschauen
muss, was es überhaupt bedeutet; sie nehmen keinerlei Zerlegungen von Wort- und
Zeichenelementen vor, die dann im Hirn der Lesenden irgendwie wieder verbunden
werden müssten. Sie arbeiten auch nicht mit eingestreuten Slashs oder Zeichen,
deren Generierung auf der Tastatur man erst einmal recherchieren müsste, um sie
dann für die Textkonstruktion verwenden zu können. Sie geben den Lesenden aber
auch nicht dieses ganz speziell erhabene Gefühl, sich zu jener geistigen 0,01%
Elite dazuzählen zu dürfen, die solche Texte überhaupt zu lesen bereit und
imstande ist (gerade, wenn dabei nichts irgendwie Greifbares mehr zu verstehen
sein sollte).
Ødegårds Texte sind zugänglich. Sie kommen in einfacher Sprache daher, und ihr
Grundvokabular ist überschaubar. Immer wieder tauchen in dem Buch Wörter auf
wie „Zeit“, „Meer“, „Wellen“, „Wasser“, „Körper“, „Mann“, „Frau“, „Kind“, „alt“,
„Haar“, „Traum“, „Stern“, „Tür“, „denken“, „spüren“ – einfache, alltägliche Worte,
die in Texten stehen, die fast wie Prosafließtexte erscheinen und gelesen
werden können. Stellenweise könnte man fast fragen: Ist das überhaupt ein
Gedicht, was ich hier lese?
Und doch ist die
Antwort ein ganz eindeutiges „Ja“. Ødegårds Texte sind durch und durch poetisch. Sie erzeugen eine vitale poetische
Vibration, selbst da, wo sie nicht nur prosaisch, sondern geradezu
wissenschaftlich präzise ihren Gegenstand zu beschreiben scheinen:
Dann beginnt der Arzt zu bohren, ein feines Lochin die rechte Seite des Kraniums hinein, esgibt jetzt ein Summen im Kopf von Lars,das auf der linken Seite ansteigt,als der Arzt dort zu bohren beginnt: Zweikleine Löcher, 1,5 cm in den Schädel von Lars hinein,sein Gehirn jetzt offen.Waagerecht führt der Arztein fein geschärftes Schneideinstrumentdurch die Löcher hindurch, den Stirnläppchenvon Lars entgegen. Sticht das nadelspitze Stäbchenmehrere Zentimeter in sie hinein, vielleicht5 cm in seine Gehirnmasse hinein.Die Hand des Arztes führt das Instrumentein wenig nach oben, ein wenig nach unten, 20 bis 40 Grad.Die Nervenbahnen des Frontallappens („lobusfrontalis“ sagte der Arzt zur unwissendenSchwester, die assistierte), die Nervenbahnenwurden durchgeschnittenLars ruhig. LarsStill. Belästigt niemanden.Lars.(aus: „Leukotomie“)
Ødegård erzählt in seinen Gedichten kleine Geschichten: Geschichten über die Zeit, über das Altern, über die „Großtante“, die nicht aufhört für ihren im Krieg umgekommenen Sohn einen Schal zu stricken, über den „Kirchendiener“, der sich in der Sakristei an kleinen Jungen vergreift, über die Leukotomie von „Lars, Mutters Cousin“, über „das fette Mädchen im Fitnesscenter“ etc. Es sind unverkennbar existenzielle Themen, um die Ødegårds Gedichte kreisen. Und es ist, wie der Autor auch in seinen Anmerkungen am Ende des Bandes feststellt, unverkennbar biographisches Material, das in den Gedichten verarbeitet wird. Dabei verbindet Ødegård, ganz natürlich-elegant, das Individuell-Persönliche mit dem Kosmisch-Universalen, was sicher auch durch die an vielen Stellen durchschimmernde religiöse Orientierung des Dichters in besonderer Weise ermöglicht wird:
MutterIch habe eine Mutter in blauem Mantel.Sie nimmt meine Hand, ich binklein, ich habe Angst, sieführt mich.Ihr Mantel istmit Sternen übersät.Der Schnee ist sehr tiefhier, wo wir gehen, auf der nicht geräumtenMilchstraße: Sieund ich.
Die dunkle Seite dieser Verbindung zeigt sich in den apokalyptischen Gedichten im vierten und letzten Abschnitt des Bandes, in denen es in Form einer poetischen Dystopie um die zerstörte Natur und die damit einhergehende Zerstörung der ethischen Werte des Menschen geht. Ich habe mich ein wenig schwerer mit diesen Texten getan, die naturgemäß weniger das ausstrahlen, was den meisten anderen Gedichten Ødegårds in dieser Sammlung so ausgeprägt zu eigen ist: eine friedvolle Gelassenheit und ein spirituelles Grundvertrauen allen Verletzungen, Ungerechtigkeiten und Endlichkeiten zum Trotz.
Die ZeitDie Zeit betritt jetzt die Bühne. Bleibt zunächst kurz stehen,zögert, sieht sich das Türschildam Haus genau an (eine Kulisse dort auf der Bühne), umsicher zu sein, den richtigen Ort gefunden zu haben, klingeltund ich öffne: Dannist die Zeit gekommen.Der Bühnenvorhangfällt, es scheint der Mond und Sternennebel rieseltden Vorhang hinab, den glühenden Grund des Universums.Der Vorhang öffnet sich wiederund da steht der ewige Clown:hält ein schreiendes neugeborenes Kindauf der Bühne,während sich die Zeit verbeugtbeim Applaus. Dannist die Zeit um.
Wenn es ein zentrales Thema in Ødegårds Gedichten gibt, dann ist es die Zeit und das Ineinander von Sterben und Geborenwerden, von Endlichkeit und Unendlichkeit. Der Ton dieses Themas wird ja schon mit dem biblisch assoziierten Titel des Bandes „Die Zeit ist gekommen“ angesprochen, und er wird in unterschiedlichsten Varianten in dem Band aufgegriffen, zum Beispiel im Thema der Liebe im Alter:
Wir Alten haben nicht mehr vielin den Hosen, dachte ich,als wir so da gingen.Die Hosenbeine schlottern:über Reisig und Luft im Wind,über unseren Schuhen, so himmel-leicht wir.Unsere Liebe ist doch mehrals Wind und Staub und Reisig im Wind, sage ichIdiotisch,und du nimmst meine Hand. Jetzt,da die Nacht über uns hereinbricht.
Selbst da, wo sie Vergehen und Tod ansprechen, vermögen Ødegårds Gedichte beim Lesenden ein wenig von der friedvollen Ruhe zu erzeugen, die diesem 1945 geborenen Dichter offenbar in dieser späten Phase seines Schaffens zu eigen geworden ist. Und sie lassen den Lesenden teilhaben an der Erfahrung, dass ein Ineinanderfließen von vermeintlich Realem und Wunderbarem, von tragisch Schwerem und schwebend Leichtem, von ganz Profanem und tief Mystischem als das Natürlichste überhaupt erscheinen kann. Ødegårds poetische Geschichten vermögen diejenigen, die sich in ihren Fluss begeben, tief zu berühren - auf scheinbar ganz schlichte Weise.