Klaus Vieweg: Hegel. Der Philosoph der Freiheit
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Jan Kuhlbrodt
Klaus Vieweg: Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Biographie. München (C.H. Beck) 2020. 824 S. 34,00 Euro
Der Kopfgänger
Zu Viewegs Hegelbiografie
„Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.“ Georg Büchner: Lenz
Es ist vielleicht irritierend, einen Text über Klaus Viewegs Buch „Hegel – Der Philosoph der Freiheit“ mit einem Büchnerzitat zu beginnen, aber es kommt in diesem Satz, mit dem Büchner den wandernden Lenz beschreibt, der ganze Hegel als Negativabguss zur Geltung. Es ist nämlich geradezu absurd, sich Hegel als Wanderer vorzustellen, und abgesehen davon, kein anderer ging so virtuos auf dem Kopf als er. Darüber hinaus denke ich, dass Hegel und Büchner je auf ihre Art so etwas wie eine Klammer progressiven Denkens des Neunzehnten Jahrhunderts repräsentieren.
Es mag zunächst irritieren, wenn Klaus Vieweg den Philosophen nicht einen, sondern den Denker der Freiheit nennt, wurde doch über Jahrzehnte und ausdauernd der Mythos verbreitet, Hegel sei gewissermaßen der Hausphilosoph des preußischen Staates. Bei näherer Betrachtung aber, und diese vollzieht Klaus Vieweg, löst sich dieses Vorurteil schnell auf und verschwindet wie Morgennebel in der aufgehenden Sonne. Und ja, Hegel denkt die Freiheit wesentlich weiter als Kant, der ihre Möglichkeit zwar postulierte, aber letztlich nicht in der Hegelschen Konsequenz ihre Wirklichkeit einfordert.
Vieweg führt den jungen Hegel, der mit Schelling und Hölderlin am Tübinger Stift studierte, schon als rebellischen Denker ein. Sein Rebellentum allerdings ist nicht das eines verwegenen Reiters, der die Konservativismen mit einer Reitpeitsche vom galoppierenden Pferd her aus dem Sattel bekämpft, aber er kämpft nicht weniger leidenschaftlich, er ist eben jener Kopfgänger, der Lenz nicht sein konnte. Und das kommt in dieser Biografie zum Tragen. Die verzeichneten Abenteuer sind Abenteuer des Denkens, und es entspinnt sich ein Denkweg, der eine enorme Spannung entwickelt und dabei größtenteils ohne pikante Details aus dem Privatleben auskommt.
Allerdings werden die privaten Irrungen und Wirrungen auch nicht ganz ausgeblendet, zum Beispiel wenn Vieweg kurz aber prägnant berichtet, dass sich eine Art Konkurrenzverhältnis zwischen Hegels unehelichem Sohn, der aus einer vor-ehelichen Beziehung hervorging und für den er zu sorgen versuchte, und seinen sozusagen offiziellen Erben, also den ehelichen Kindern, entspinnt. Es gibt also ein gesellschaft-liches Leben jenseits der Philosophie, und dieses Leben unterliegt ganz den Konventionen der Zeit, wie auch die Protagonisten, selbst wenn sie die Nachkommen eines berühmten Philosophen sind.
Freiheit findet solang und noch ganz in Gedanken statt. Das kann sie aber nicht entwerten, denn auch die Gedanken sind ein Ort, ein Gebirge, das zu durchwandern sich lohnt. Und letztlich ist der Gang, den das Hegelsche Denken nimmt, auch der einer Emanzipation des Denkens von der Konvention. Seinen Ausgangspunkt nimmt er am Tübinger Stift, wo der junge Hegel auf Gleichgesinnte trifft:
„Wie in den Familien Schelling und Hölderlin sollte auch bei den Hegels in Stuttgart der Erstgeborene dem Herren geweiht, Stiftler und Geistlicher werden.“ heißt es dazu lakonisch bei Vieweg. Und dass daraus in allen drei Fällen nichts wurde, ist bekannt. Aber es entwickeln sich Freundschaftsbande, die, so könnte man sagen, immer wieder zu Energieschüben und Anstellungen verhelfen.
So verlässt Hegel nach seinem Studium in heiliger Rousseau-Verehrung das Stift in Richtung Schweiz, um dort eine Hauslehrerstelle anzutreten, wird damit aber alles andere als glücklich und letztlich von Hölderlin errettet, der ihm eine Stelle in der Nähe von Frankfurt verschafft. Und natürlich blieb auch Hegel dem Freund ein Leben verbunden und besorgte mit Freunden eine erste Hölderlinausgabe, die natürlich den Empedokles enthielt, über den die Kumpels in der Entstehungsphase debattierten.
Und auch mit Schelling, der Hegel später nach Jena holte, und andersherum nach Hegels Tod in Berlin beerbte, was die Professorenstelle betrifft, blieb die Verbindung eng, wenn philosophisch auch nicht ganz unkompliziert. Ein Ausdruck erster Güte für diese Beziehung ist das von beiden herausgegebene Critische Journal der Philosophie. Man kann eigentlich von zwei vollkommen verschiedenen Denkwegen sprechen. Während Schellings Denken mäandert, immer wieder die Richtung wechselt, Schwemmgut verliert und wieder aufnimmt, wird Hegels Denken durch permanente Selbstreflexion zum immer breiteren Strom.
Und überhaupt Berlin. Im stockkonservativen Preußen pulsiert die Kunst. Theater und Musik erleben Blüten, und beide Gattungen werden von Hegel gebührend rezipiert und theoretisch begleitet.
„Die Musik habe 'das Eis der 1820er Jahre aufgebrochen, da sie im Unterschied zur Literatur ' nicht so offen Positionen artikulieren muss und ihre Sprache keine Grenzen kenne.'“ zitiert Vieweg Bratrancks Buch „Das junge Deutschland“.
Vieweg verfolgt das Denken Hegels anhand der Schriften und auch der Stationen vom Hauslehrer und Privatdozenten bis zum kultigen Professor in Berlin. Von der Differenzschrift über die Enzyklopädie bis zur großen Logik, vom Gymnasiasten bis zum begeisterten Opernbesucher. Die denkerische Leidenschaft Hegels kommt auch in Sprache und Engagement Viewegs zum Ausdruck, der die Genese des Hegelschen Denkens in einem Spannungsbogen schildert, der zumindest mich arg hineinzieht. Die meisten von Hegels Schriften kannte ich bereits, aber ich nehme die Lektüre nach Viewegs Buch mit Freude wieder auf.
Marx habe Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt, merkt Lenin irgendwo an, aber es ist eine große Freude, auf dem Kopf zu gehen. Und die sollte man sich nicht nehmen lassen. Und da sind wir wieder bei Büchners Lenz.