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Klaus Anders: Schnecken, Zikaden

Gedichte > Gedichte der Woche
Klaus Anders

Schnecken, Zikaden

                      für Yu-Sheng Tsou und Lin-Sen Tsai


...skipping over the ocean like a stone.
Fred Neil

I

Schnecken machen eine Musik,
die du nicht hörst, sie klingt
ähnlich wie die von Zikaden,
nur viel langsamer, denn die
Raspelzunge ist nicht schneller als
die ganze Schnecke. Und doch ist
jeder erstaunt, der bemerkt, wie schnell
eine Schnecke vorankommt. Und singend
wandert sie weiter, kommt niemals an,
denn ihr Paradies ist der Ort,
den sie verzehrt und auslöscht.
Die hastige Zikade aber
rasselt Stunde um Stunde,
sie hält ihren Platz, wehrt Rivalen ab, bis die Erhoffte
sich nähert. Sie trinken Pflanzensaft,
sie haben Sex – bald hängt auf dem Ast
nur noch die Hülle.

Als er sich der Pinie näherte,
verstummten miteins alle Zikaden.
So betrat er den Kreis, angefüllt
mit der Kraft der Terpene,
des Schweigens, eines Schweigens, tief
wie die Nacht vor dem Blitz, das
den, der eintritt, umschließt wie eine
Kapsel. Noch sinnend über der Stille,
bricht das Rasseln erneut los, gesteigert
wie Wasser, das im Kessel erhitzt wird, zunächst
lautlos duldet, dann plötzlich in Surren, in
Knastern und Knurren verfällt.

Legte sich unter den Baum,
gelehnt an den Stamm, auf die Decke
aus toten Nadeln, hier und da
von Harztropfen, die in der Sonne funkeln,
verklebt zu stachligen Klumpen. Sonne
treibt ihm die Blässe der Haft
aus dem Gesicht, wärmt und lockert
die Glieder, den Blick, der lange
gebunden war an die Wände,
die ihn umfingen, verschlossene Zelle,
nur geöffnet, um ihn zu quälen. Noch
spürt er die Nässe, riecht die
filzig-klamme Decke, hört die Ratte,
die durch eine Luke zu ihm kam und blieb,
mit der er sein Essen teilte, widerwillig
erst, dann froh über ihre Gesellschaft.

Erschöpft liegt er da, unfähig, die
Gedanken auf ein Ziel, einen Weg
auszurichten, alles zerstreut sich in
einer Müdigkeit, die jetzt schon Freiheit
sein soll, aber das äußere Tor,
nicht sichtbar, nicht tastbar, kann er
noch nicht öffnen. Auch
die Zikaden stiegen aus tiefen Kellern
an Halmen empor – die Hülle riss auf,
die Imago schlüpfte, reckte die Stummel,
aus denen die Flügel sich spreizten –
krochen die schuppigen Stämme höher,
ungelenk, die Rüstung noch nicht, die
ihre weichen Organe schützt, ausgehärtet,

doch es geht schnell, und kaum auf schrägem Ast
angekommen, senkt sich der Bohrer ins Holz,
bis in Kanäle, in denen der Saft,
angereichert mit Mineralien, fließt und
sich verteilt bis in die Nadeln.
Dann erst, gereift und satt, beginnen
die Männer zu rasseln. Die Frauen
ganz in der Nähe, meist stumm, manchmal ein Klicklaut,
in ihnen schwillt das Gelege. Zunächst ein Entzug
mit Fieber, Schwäche und Brechreiz, denn
täglich während der Gefangenschaft gaben sie ihm
Medikamente, die ihn gefügig,
willenlos machen sollten. Ist der Wille gebrochen,
folgt die Ergebung. Schließlich
das tägliche Ja zur Tortur und zum
Vergessen des Menschen, der er einst war.
Doch ganz hatten sie nicht gesiegt, etwas

blieb unentdeckt, überdauerte Stromschlag und Kälte.
Wie eine Schnecke hatte es sich zusammengezogen,
jetzt löst sich die Sperre, es kommt in freudige Regung.
Schnecken wandern wie Wolken über die Erde,
das Blatt, die schnittscharfe Kante in wechselnden
Formen, nichts hält sie auf außer
Sonne und Dürre und Frost, aber
der Mensch, der unter Menschen lebt,
ist leicht zu bremsen.

Und er führte mich wieder zu der Tür des Tempels.
Und siehe, da floss ein Wasser heraus unter der Schwelle
des Tempels gegen Morgen... Und das Wasser zeigte
ihnen ihr Land und seine Grenzen, tränkte die Felder,
ließ die Frucht reifen und löschte den Durst. Hier aber
wies keiner und nichts einen Weg. Das Land
alt und restlos verteilt, mit alten Grenzsteinen,
die tief im Boden hocken, im Dunst war
keine Siedlung zu sehen, das Tal lag offen
und zog sich in die Berge hinein. Da,
ein Aufblitzen, vielleicht ein Fenster, von jemand
bewegt, das die Sonne spiegelte. Prägte sich
die Richtung ein, folgte ausgefahrenen Rinnen,
ging eine Weile quer durch lichten Wald und
erreichte um Mittag den Weiler, nur ein
paar verstreute Höfe an einem Hang, zwei bewohnt,
die anderen fünf schienen verlassen. Auf Weiden
grasen Kühe, sandfarbenes Fell, mächtige
Hörner. Die einen raufen unentwegt
das halb vertrocknete Gras, andere
liegen und käuen, blicken dem Fremden
entgegen, der an ihnen vorbei geht,

auf ein Haus zu. Bekam Käse, Brot, frisches Wasser,
sogar Kaffee von einem alten Paar,
wollte bezahlen, sie lehnten ab, und fragte sie
nach Arbeit in dieser Gegend:
Arbeit ja, doch keiner, der sie bezahlen kann. Wir
machen noch, so weit wir können.
Alles andere bleibt liegen, zerfällt mit uns.
Die Jungen sind fort, wer will hier hausen?
Karges Land, Berge ringsum, Wald, nichts
zu erleben, das Treiben der Städte lockt.
Frag im Forstamt, die suchen immer.


II

Trockener Wind streicht über die
Pinienwipfel, eine unruhige See aus Grün und Zinn.
Dazwischen Steineiche, Flaumeiche, Zerreiche,
alle dunkel, von weitem wie Nacht. Unterwuchs
aus Lorbeer, Gräsern, bretthartem Adlerfarn.
Von den Bäumen der liebste war ihm die Pinie, wo sie
mächtig die Schirmkrone wölbt. Frischgrün übersteht
sie die Dürre, manchmal sogar Waldbrand. Neun Monate
war er nun im Forst, schon der erste Tag traf ihn hart:
Feuer brach aus, und er zog mit dem Löschtrupp,
schlug mit Spaten und schweren Lappen das Feuer im Gras,
sie versuchten es zu ersticken, durch Schneisen und Gräben
am Fortfraß zu hindern. Vergeblicher Kampf,
auch die Hubschrauber, Tankzüge mit Wasser hielten
das Feuer, vom Wind aufgereizt und getrieben,
nicht auf. Statt zu verhungern, statt zu
ersticken, rast es, bläht sich auf voller Gier:
Gibt es noch mehr?

Da waren die Wälder hoch an den Hängen,
da waren die oberen Weiden, ausgedörrt
vom sengenden Frühling, kahlgefressen,
und die schwarzlaubigen Eichen,
die Kiefern im Fels, kupferrot die Nadeln, sterbend
nach wasserlosen Wintern. Mit kräftigen
Sprüngen sind die Flammen hoch in den Kronen,
eilen die Stämme hinauf und hinab,
und brüllend brechen sie durch den Wald,
sie brüllen wie Tiere, die lange eingesperrt waren.
Wie Heuschreckenschwärme stiebt auf,
was Flügel hat, Hirsche fliehen,
die Füchse, bis sie erschöpft
nachlassen, keuchend zu Boden gehen, sterben
im giftigen Rauch oder, noch lebend von Flammen erfasst,
in Qualen. Wie nasse Klumpen stürzen
Raben herab, schlagen auf und verbrennen. Feuer

anderer Art trifft dein Leben. Wer einmal
brannte davon, sieht überall Flammen. Wo vorher
nur Totholz lag, Knochen, Sediment, tanzt
jetzt die Flamme, pulsiert wie ein freudiges Herz.
Die Akazie warnt ihr Volk, wird sie verletzt. Doch du
bleibst still in der Flamme, die
dich vernichtet. Es pfeift das Murmeltier, sieht es den Adler.
Du aber lässt dich verzehren wie Wald,
bis auf den Grund, wo Glutnester schwelen, bis in der Asche,
nackt und lichtlos, eine Quelle zu sprudeln beginnt, ungehemmt
von Fieberkraut und Morast,
ein klares Wasser im
Aschefeld, Mutter von Moos und Flechten.
Nach Tagen kam die Walze zum Halt, unverhofft Regengüsse
und Windstille schafften den Rest. Und er sah über das
verkohlte Land, die Felsen voll Ruß, schwarze Stämme.
Nur einzelne alte Pinien mit hohen Kronen, dicker Borke
hatten vielleicht überlebt. Einen Teil der Flächen räumten
sie ab, brachten das Holz fort, pflanzten neu
in Gruppen zu zwanzig, zu fünfzig Bäumen.
Anderes Brandland ließen sie. Und schau:

Dort keimen schon bald erste Kräuter, Gräser,
Bäume. Andere treiben aus dem Wurzelgrund,
Zistrosen, deren Öl sie zu Fackeln machte,
der zähe Buchs. Die Forstleute säen Bäume dazu.
Vergebliche Mühe, rufen die einen, das Feuer
kommt wieder, eh sie fünf Jahre alt sind.
Sagt uns was besseres, halten die anderen
dagegen und setzen trotzig junge Pflanzen
in den aschigen Boden. Dreißig Hektar Wald zerstörte
das Feuer, die meisten Bäume noch nicht
zwanzig Jahre, Grasflächen auch mit jüngstem Bestand.


III

Sie schaute auf und sagte:
Nun durchzieht alles ein leiser
Wind von Abschied, eine Ermattung nach dem hohen Jubel
des Julimonats, dem Triumph der Sonne, der
Erntefülle und stillen Reife, all das
geht über in ein Schwinden, selbst wenn die Frucht
noch praller wird, noch zunimmt, spürst du
das Schwinden, den Durst, stumme Qual unter
tyrannischem Sternfeuer, dem Gasbrand, Tod
so vieler Lebewesen. Erst September
wird milder, mischt in die Trauer
das süße Wasser, worin die
Hoffnung wächst und stilles Bescheiden, ein Ahnen,
dass Tod nicht Ende sein kann und Aus,
als das er erscheint in der bleiernen Luft
des August, sondern Beginn und Keimung.

Im Regen, nach langen
heißen Wochen, segeln die Schnecken
wieder über den Stein, nun sind sie nicht mehr
in die Nacht gezwungen, gegen Morgen den geringen Tau
zu nutzen, um zu verschwinden, den Tag im Erdreich,
unter Schiefer und Sandstein abzuwarten, in Gehäusen,
verschlossen von ausgehärtetem Schleim,
manche oben am Halm, fast gekocht
von der Sonne in gebleichten Kapseln.
Alle lockt der Regen hervor, wie eine Regatta ziehen sie los,
und die Igel freuen sich über den Segen, der ihnen
die Winterwampe verschafft. Vom Nachmittag bis zum
Morgen sind sie unterwegs, schnaufen und scharren,
zerbeißen die Schalen und schmatzen, das zähe
Muskelfleisch, im Sommer so rar
und kaum zu finden.

Verstummt die Zikaden, auch an wärmeren
Tagen fehlt das hektische Rasseln nun ganz,
die meisten sind tot, nach Jahren
im Dunkel der Erde hatten sie wenige Wochen
in Hitze und Licht. Über dem Fluss versammeln
sich Schwalben, weben ein immer dichteres
Netz, die Nester verlassen, und
warten auf günstigen Wind. Dann sind sie fort,
unterwegs zu anderen Sommern.


IV

Die Wüste braucht keine Bilder,
sie ist reiner Klang, reines Bild, Stein,
Hitze am Tag, Kälte zur Nacht. Wenn in eisiger Luft
die Sonne heraufkommt, wärmt die Decke nicht mehr,
ist das Feuer erfroren. Doch nur einen Steinwurf lang,
schon treffen die ersten sengenden Strahlen, liegt
das Getier in schützenden Höhlen, nur die Verwegensten
laufen hastig, Käfer, Echsen, über glühenden Grund.
In der Ebene liegt die Stadt, Türme
aus Stahl und Beton, verhüllt von Glas, das die Wüste
verdoppelt, Spiegelbild eines Spiegels, um eine
Oase gebaut, die aus dem Fluss in der Tiefe pumpt und
in langen Leitungen Gletscherwasser aus dem Gebirge.

Hier kam er an, fand Arbeit, putzte Fenster und Klos,
fuhr Pakete aus, schnitt Hecken und Gras, säuberte Pools
einen Monat, ein Jahr, dann eine Pause, schnorrte, bis ihn die Not
wieder trieb. Trat bei Leuten in Dienst,
stets freundlich, doch auch ein wenig von oben herab. Manchmal
schienen sie Freunde, machten ihm Frühstück, gaben ihm
mehr Geld als vereinbart, doch er spürte Verachtung,
schlechtes Gewissen, die Freude, nicht so leben
zu müssen wie er. Sie wohnten in einem Stadtteil
mit ihresgleichen, schwärmten bei einem Glas,
ein paar Flaschen Wein, gar mit Tränen in den Augen,
von den Armen der Welt, der Wärme, der Sonne,
den Ländern, die sie bereisten (überall besser als daheim),
den Weinen, die sie kannten und tranken, von Winzern
bringen ließen. Was in anderen Teilen der Stadt geschah,
dafür waren sie blind.
Warum lebst du so? Du müsstest es nicht...
fragte sie, Neugier im Blick, Verlangen
ihn zu ergründen.
Ich leb wie ich leb.

Ging am nächsten Tag mit ihren Kindern
in den Zoo. Vor den Aquarien stehend, sieht
er die abgeschotteten Welten wie Raumschiffe treiben
in verdunkelten Gewölben, entschließt sich,
die Stadt zu verlassen. Und er verschwand
aus dem harten Licht wie ein Schatten,
den die Nacht aufsaugt.


V

So lang ich denken kann,
hat er uns bedroht, die Vorfahren
kannten ihn mächtiger noch, den
langsamen Strom aus vieltausenden Wintern.
Manchmal schrumpfte er, oft wuchs er,
rückte nah und näher.
Mitten im Sommer mähten wir
frierend die Wiesen, sein Atem fuhr uns an,
das blaue Licht seiner Augen griff
uns das Herz und presste, dass
es fast stillstand. Vor sich her
schob er Geröll, aus seinem Maul
rann ein Wasser, kälter als Tod.

Doch wird er schwächer
und schwächer, zieht sich zurück wie ein
verwundeter Dachs, kriecht das Tal hinauf
mit schmutzigem Rücken. Wie viele
verschlang er, die in seine Hallen
stürzten. Doch nun schmilzt er,
Jahr für Jahr wird er kleiner.

Sie hören mich nicht, ich spreche zu
langsam für ihren Verstand, meine Laute
bringen sie nicht zu Worten, verstehen mich nicht.
Wenige hörten mich singen, doch konnten
den anderen nicht davon künden. Ich behielt sie,
habe sie lieb, sie liegen tief in den Kammern
und träumen. Ich sehe, was sie träumen,
und hüte ihr Geheimnis. Andere hörten
mich rufen, doch hielten die Zacken meiner Rufe
für Schüsse oder ein Beben
tief unter ihnen. Ich ließ sie gehen.

Wir wissen, er hat noch eine Waffe: Unter ihm
liegt ein See, geschmolzen aus ältestem Eis,
dem ältesten Schnee. Tropfen für Tropfen
gesammelt unter dem schwindenden Leib.
Wir achten auf ihn, Tag und Nacht, lauschen
mit wahrsamen Geräten auf kleinste Zeichen, damit
wir fliehen können, alles verlassen,
bevor er ein letztes Mal sich gegen uns wendet,
der uns trotzdem ein Freund war. Denn
wo er fort ist, wird der Fels weich und zerfällt.

Segeltuch breiten sie aus
über meinen geschundenen Rücken,
es hilft nicht, ihr Narren, ihr kommt zu spät.
Doch immer kehre ich wieder, mein Atem ist lang.


VI

Geh hinein, mach die Tür zu!


Du betrittst einen Bau, gebildet
aus gefrorenem Atem, ein Hohl, die Wände starr und hart.
Dein Atem darin eine weiße Wolke. Doch er lässt
das Gebäude schmelzen, wie Frühnebel löst es sich auf.
Du schaust dich um und blickst in eine
Landschaft, nie zuvor gesehen. Die Felder
im Tal von gleißenden Zügen durcheilt,
die Hänge hinauf Terrassen. An einem Fluss,
neben der Brücke aus Stahlbeton, sitzt ein Alter, schaut
ins Wasser, sagt: Sieh die Freude der Fische!
Und die Fische fliegen auf wie ein
Schwarm Tauben, silberne Schuppen glitzern
im Sonnenlicht, der Schwarm wird zur Wolke,
rieselt wie Konfetti zurück ins Wasser.
Wo bist du gewesen? Hinter den Bogen,
die das alte Reich stützen, auf denen weit
gestreckt die Erde ruht...
Was hast du gefunden? Ein lauter Nichts,
das mich durchströmte wie ein liebender Blick,
wie das erste Lächeln eines Säuglings,
wie sein strahlendes Lallen.


VII

Jeder Stein hat ein Gesicht. Du wirst
lernen, es zu finden. Jeder Stein
hat einen Klang. Du wirst lernen,
ihn zu hören. Drum setz dich,
denk nicht an die Zeit, Zeit ist
ein Stachel voll Gift, Zeit
ist ein Segen, Zeit ist der Raum,
wo du und die Steine wachsen.
Doch lerne, dich der Zeit zu entziehen
und ihrem Sog. Drum setz dich und schau
und verliere Zeit. Betrachte den Stein,
schmiege dich an. Du wirst allmählich,
langsam wie der Stein atmet oder
plötzlich, im Blitz, sein Gesicht erkennen,
die Züge treten vor, der Stein ereignet
sich in dir, du atmest seinen Atem. Steine gibt es,
die du bald vergessen hast, andere
bleiben bei dir bis du stirbst.
Lass die Zeit strömen, sei
ein welkes Blatt in ihrem Strom, das
langsam wieder grünt. Lausche
dem Stein, seinem uralten Schweigen,
das seine einzige Sprache ist, und warte.
Dann wird sein Klang
in dich fallen wie ein Sonnenstrahl
in einen Brunnen. Dann siehst du
die Quelle sich regen und wallen.
Dann bist du bereit, den Ort zu finden
für diesen Stein, setzt ihn ins Gelände.
Bald gedeiht Moos an seinem Fuß,
auf seiner Schulter, wird wolkig grünen
aus Spalten und Mulden, wenn es
feucht ist, rostrot schlafen in der Dürre.
Als wäre der Stein schon immer
dagewesen. Verneige dich vor ihm, den du
gesetzt hast, danke ihm, denn er
hat dich gelehrt, du warst sein Schüler.


VIII

Da betäubten wir sie in der Höhle, für viele Jahre.
Du glaubst, sie seien wach, sie aber ruhen.
Wir wenden sie herum, nach rechts und nach links.
Ihr Hund liegt auf der Schwelle, die Vorderpfoten ausgebreitet.
Sie werden sagen: Drei! Der vierte war ihr Hund.
Oder: Fünf! Der sechste war ihr Hund.
Ein Rätseln um das Verborgene!
Oder: Sieben! Der achte war ihr Hund.
Dreihundert Jahre lang verweilten sie in ihrer Höhle.
Und noch neun dazu.

Einer aber, viel später, wurde verbracht ins
Appenzellerland, blieb bis an sein Lebensende.
Befreite sich vom Schreiben, vom Wortemachen.
Und es kam nicht zu ihm zurück. Anders bei dem
im Turm, der Waschkörbe mit beschriebenen Blättern füllte,
dann immer weniger und unter anderen Namen, als wär
er nicht mehr derselbe. Beide gingen spazieren,
am meisten aber der Schweizer, der seinen
letzten Gang hinauf durch den Schnee...
Wer kennt dieses Herz?
Aber was ist schon das Herz?
Einige Schritte im Bogen, dann fiel er,
der Hut rollte weg. Besser
kanns einen nicht treffen. Die siebte Stufe
ist das Verlöschen. Sobald der Atem
versiegt, bleibt das Leben zurück
wie ein unbewohnbares Haus,
aus Wasser erbaut, die Stimmen darin
nur Zipfel von Wind.


IX

Mit fünf Türmen; ein Haus, das sich
um die zentrale Wendel dreht, Chambord,
hinaufschraubt aus den Sümpfen,
die es umgeben, in den leeren Himmel.
Dort nur ist Wurzelgrund, wo Licht auf keinen
Widerstand mehr trifft und übergeht in Nacht.

Wer hier logierte, blieb kurz. Niemand
starb in den Räumen, wo kein Geruch
wie Efeu sich an die Wände haften konnte.
Alles ist auf schnellen Wechsel eingestellt.
Staunen soll, wer kommt, wer geht
sich sehnen. Im Schutz des Salamanders
wirst du schlafen, träumen in der Lilie.

Der Tuffstein, wie ein Schwamm,
trägt alle Stimmen. Keine ist verhallt,
kein Ruf zerging spurlos, alles zog
in Poren und die Kavernen,
die Rauch und Ruß einst fraßen.

Du wirst dich in dem Gebäu
verlaufen, steigst Treppen, die nicht
dorthin führen, wohin du willst,
findest nicht zurück, bist woanders plötzlich, im
zentralen Busbahnhof von Tel Aviv, seine Leere
von Beton umfangen, von Benzingeruch
erfüllt, durchkreuzt von Treppen.
Eine Scherbe der Gefäße, die Gottes Licht
sprengte, nachdem der Schöpfer sich ins Zimzum
zurückgezogen hatte. Und mitten in dem Bau,
miteins, als Splitter des versprengten Lichts,
Wände voller Bücher in der einen Sprache, der Sprache
aller, die aus vielen Sprachen stammt, Bücher,
die den Schlaf in unzähmbaren
Träumen schlafen, bis ein Fremder kommt,
nach ihnen greift, sie erwachen und ihr Atem
sich mit dem Hauch des Höchsten mischt.
Das blaue Grab in Safed hat seine Fühler
ausgestreckt bis hier, wo Milchstern aus Riss
und Fugen bricht im Februar.


X

Ein Morgen klar, ich bin wach. Die Luke
meiner Kammer hatte ich am Abend
aufs Dach geklappt, nun sehe ich über mir das Blau,
worin rötlich ein Schimmer webt, höre
die jungen Rauchschwalben, die auf dem Rand der
Dachrinne sitzen, dicht beieinander, und
das Zwitschern der Alten. Noch erfüllt die Luft
von dunklen Blitzen der Segler, dem freudigen
Schrei ihrer Jagd. Am Haus den Ahorn
umarmt jetzt die Sonne, das müde Laub
von der Morgenbrise bewegt.
Aus dem Stall rufen Kühe, Milchkannen
scheppern. Die ganze Nacht rann Wasser
in das Becken, wo zum Kühlen die Abendmilch steht,
rinnt Wasser aus dem Kran, singt
seinen Singsang und zählt die Stunden nicht.
Schon kommt der Wagen, der die Milch
zur Molkerei bringt. Ein Spatz schwirrt in die Mansarde,
dreht eine Runde, ist wieder weg.
Stehe auf, schaue hinaus, Sonne erwärmt
die taubedeckten Dächer, den Kirchturm
mit dem grünen Spitzhut. Aus dem Schornstein
der Glashütte quillt dicker Rauch.


XI

Kartoffelkäfer ist Kartoffelkäfer,
die Heuschrecke Heuschrecke, sie sind
wie sie waren, bevor ich erwachte.
Ich erwachte, aber hatte nicht geschlafen.
War es Licht ohne Licht?
Nacht ohne Finsternis?
Wandern ohne zu gehen?
Verströmen ohne zu fließen?
Verwehen ganz ohne Wind?
Es war kein Traum und ist es jetzt nicht,
es sticht wie Disteln und blüht wie Disteln.
Aber erwachend hatte ich alles verloren,
es gab keine Frage mehr, keine Antwort.
Am Schuppen Rotschwanz mit knirschender Stimme,
Specht sucht den rissigen Stamm ab.


Lin-Sen Tsai danke ich für die Abschrift des Gedichts 'In den Bergen' von Wang Wei.


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