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Klaus Anders: Nachtgesang einer Zitrone

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Monika Vasik

Klaus Anders: Nachtgesang einer Zitrone. Gedichte. Herausgegeben von Frank Wierke. Norderstedt (Ginster Press/BoD) 2024. 124 Seiten. 18,00 Euro.

„ein leiser Wind von Abschied“


„Bald ist es so weit,
sagt der Baum zum gelben Blatt,
es wird nicht weh tun.“

Die Zitrone galt einst wie die anderen Zitrusfrüchte als Luxusfrucht, die sich nur der Adel leisten konnte, was sich u.a. im Anlegen von prunkvollen Orangerien der Renaissance- und Barockzeit zeigte. Heute sind Zitronen überall erhältlich. Sie sind Sujet in Redensarten wie „jemanden ausquetschen wie eine Zitrone“ oder „Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach Limonade draus“. Zitronen galten zudem je nach kulturellem Hintergrund als Symbol des Lebens, aber auch des Sterbens und des Tods, und man schrieb ihnen schützende Funktion zu, weshalb sie zu Taufen und Hochzeiten geschenkt oder Toten ins Grab mitgegeben wurden. Nicht zuletzt sind sie beliebtes Motiv in der Kunst, sei es in der Malerei, zum Beispiel in Kunstwerken mit biblischem Kontext und in Stillleben, oder in der Literatur, etwa in Goethes Italiengedicht „Mignon“ (Kennst du das Land ...) und Valerie Fritschs aktuellem Roman „Zitronen“. Bezeichnet man hingegen eine Person als „Zitrone“, ist dies ein Verweis auf deren Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit.
         Das Wort Nachtgesang wiederum führt in die Geschichte der Dichtkunst, als Lyrik in der Antike nicht vorgetragen, sondern von einem Sänger oder einem Chor gesungen wurde, begleitet von einem Saiteninstrument, der Leier/Lyra. Nachtgesänge haben Tradition in der deutschsprachigen Literatur. Es sind Gedichte, die die Nacht als Sinnbild für Erholung oder Schlaflosigkeit besingen, von Gott und der Welt handeln, vom Sinn des Lebens, von Leiden und Tod. Man kennt Grimmelshausens „Komm, Trost der Nacht“, Novalis’ „Hymnen an die Nacht“, Brentanos „Der Spinnerin Nachtlied“, Goethes „Nachtgesang“ und „Wandrers Nacht-lied“, die „Nachtgesänge“ Hölderlins, vielleicht sogar den „Nachtgesang“ von Jakob von Hoddis. Es verwundert daher nicht, dass sich auch heutige Dichter:innen in diese Tradition einordnen, etwa Augusta Laar mit ihren letzten Veröffentlichungen „Mitteilungen gegen den Schlaf“ und „Nocturnes“ sowie Klaus Anders mit seinem aktuellen, bislang neunten Lyrikband Nachtgesang einer Zitrone. Es ist dies die erste Publikation des neu gegründeten Verlags Ginster Press. Verleger Frank Wierke ist Filmemacher, hat u.a. 2017 den essayistischen Dokumentarfilm „Solreven – Sonnenfuchs“ über den norwegischen Dichter Kjartan Hatløy realisiert. Klaus Anders wiederum hat sich als Übersetzer intensiv mit diesem Autor beschäftigt, der unter norwegischen Kritiker:innen als „bester Naturlyriker“ und „einer der brillantesten Poeten Norwegens“ gilt. 2016 legte Anders seine Übertragungen von Hatløys Texten im Auswahlband „Die Lippen verlangen nach Ocker“ vor.

Was nun die beiden Gedichtbände zumindest auf den ersten Blick eint, ist deren Beschäftigung mit der Endlichkeit jedes Lebens, die zugewandte und kundige Beobachtung von Naturphänomenen sowie der Einsatz eines lyrischen Ichs, bei Hatløy meist im Sinn eines autobiografischen Ichs, bei Anders hingegen eines wechselnden, sich maskierenden Ichs, das manchmal biografische Züge trägt, dann wieder in verschiedene Rollen schlüpft.
       Nachtgesang einer Zitrone könnte man salopp als „Gedichte eines Unvollkommenen“ übersetzen. Es sind Texte eines lebensweisen Denkers, der mit hellwachen Sinnen immer wieder neu nach einer möglichen Vervollkommnung strebt, sich gelegentlich als Scheiternden erlebt und nun am letzten Abschnitt seines Lebens angekommen ist, von dem er, wie wir alle, nicht ahnen kann, wie lange er währen wird. Er ist ein Wissender, aber er stellt nicht aus, protzt nicht mit seinem Wissen, sondern lässt es wie nebenbei einfließen und vermittelt dabei den Eindruck, dass er ganz bei sich bleibt und sein „scio nescio“ verinnerlicht hat, das Bewusstsein, dass er angesichts der Fülle möglichen Wissens nichts weiß, sich auch der eigenen Kleinheit bewusst ist, während er achtsam auf die Welt blickt.

Grundstimmung der Gedichte ist die Melancholie, die Fragen des Lebens und damit der Philosophie färbt, nämlich was war?, was ist? und was wird sein? Der letzte Text des Bands scheint ein Schlüsseltext zu sein. Erzählt wird in „BINSENWEISHEIT“ die Geschichte einer Malerin, die sich in ein einfaches Haus auf dem Land zurückzog, um sich weltabgewandt ihrer Kunst widmen zu können, und nun in einem Gespräch ihr Lebensfazit zieht:

„Du hast eine Wahl. Gehst du die Wege, welche die Netze, die Erwartungen, die Angst der Leute vorbereiten? Oder gehst du den Weg, den deine Füße einschlagen, quer durch Stechginster, durch Sumpflöcher, über Klippen, und immer in schlechten Sandalen? Mit der ersten Wahl ist dir Beifall fast sicher. Bei der zweiten bist du allein. Und niemand wird dir danken, dass du einen Pfad gefunden hast, der nirgendwo hinführt.“
Drei Zeilen später ist die Frau tot und es bleibt offen, ob sie durch einen Unfall oder durch Suizid starb. Erstaunlich ist die Erwartung eines Danks für die eigene Lebenswahl und die damit einhergehende Frage, wer denn mögliche Dankende sein könnten. Die Annahme wiederum, dass man für erstere Wahl „fast sicher“ Beifall erhielte, entspringt der Sehnsucht nach einem Akzeptiert- und Angenommen-werden, musste sich in der Realität aber nie bewahrheiten. Es ist vielmehr eine Entscheidung zwischen Skylla und Charybdis. Denn wie auch immer die Entscheidung getroffen wird, wird sie am Ende (vielleicht) falsch sein und zieht Einsamkeit nach sich.
Auch Klaus Anders blickt zurück, doch den Gedichten ist die Annäherung an ein Ende, an Zerstörung, an das Verschwinden und den Tod inhärent, mal mehr, mal weniger explizit gezeichnet. Schon im zweiten Gedicht begegnen wir der Unschuld eines Kinds, das in der Natur „selig spielt“ und „ein himbeerrotes Halsbonbon lutscht“. Wenige Verse zuvor lesen wir jedoch von Flechten, die „mit winzigen Zähnen den Granit zerkauen“, auch der Sand, mit dem das Kind spielt, ist Endprodukt einer Verwitterung. Im dritten der fünf Kapitel wiederum fällt ein Taubennest von einem Baum und mit ihm ein Junges, das „nackt und noch blind“ ist. Die Macht des Schicksals waltet:

„Da kriecht es umher, wird schwächer,
dämmert zuletzt in den Tod.“

Von einem anderen Verschwinden erzählt Anders im Gedicht „IM ALLENTEJO“, als eine Keramikfabrik wegen erdrückender Konkurrenz aus China und Vietnam schließen muss. Das lyrische Ich erinnert mit leiser Wehmut an die Tradition seiner töpfernden Vorfahren und sitzt ohne Fabrik wieder an der Töpferscheibe, weil es nichts anders kann und will, denn: „Mein Herz ist aus Ton.“
        Dass weitaus größere, über das Persönliche hinausgehende Gefahren drohen, wird jedoch schon im ersten Gedicht des Bands mit dem Titel „WOLKEN“ deutlich. Es ist ein Stimmungsbild in acht Versen, das mit „Wolken wie brennende / Ballen Stroh rollen hin“ beginnt, eine Welt in Flammen zeichnet und damit ihr mögliches Ende:

„Mittags hinter dem Waldland Rauch,
nachts Feuerschein über Städten.“

Klaus Anders steht im Dialog mit Stimmen aus verschiedenen Jahrhunderten, die er als lyrische Ichs oder in Zitierungen zu Wort kommen lässt oder denen er Texte widmet, etwa Du Fu (712-770), einen Dichter der chinesischen Tang-Dynastie, den japanischen Dichter und Zen-Meister Ikkyū Sōjun (1394-1481) und Lyriker der Gegenwart wie Yu-Sheng Tsou und Yevgeniy Breyger. Formal fallen die Texte durch Variationsreichtum auf, der von Haikus bis zum Langgedicht reicht. Anders fängt Momentaufnahmen ein, breitet philosophische Gedanken und Zweifel vor uns aus, etwa über „ein fliehendes Eins von Willkommen und Abschied“, das Leben oder Möglichkeit eines Seins nach dem Tod sowie über die Existenz eines Gottes. Zahlreiche Motive sind mit der Endlichkeit konnotiert, weisen gelegentlich auch ins Mystische, allen voran der Wind, von dem es u.a. heißt: „das letzte Wort hat der Wind“. Da ist die Nacht als Zeit des Übergangs, Sinnbild des Todes oder der Erholung. Da sind die Kraniche, das Feuer, die Wolken. In und über allem liegen Trauer und Schwermut angesichts erlittener und drohender Verluste.

Was bleibt ist manchmal
ein Glück, oft aber Geschmack von Pappe.
Die Augen, in die du hättest schauen wollen,
sind lange schon Erde.

Nicht zuletzt liest man einen Appell für mehr Achtsamkeit im Umgang mit der Natur und den Lebewesen, mehr Wertschätzung und die Achtung der Verschiedenheit, aber auch Selbstachtsamkeit angesichts des eigenen Alterns. „Denn vielgestaltig verwoben ist alles“. Und am Ende werden wir „fallen und sterben in Staub und Schmerzen.“ Welchen Sinn hat da die Poesie? „Poesie ist die Kunst derer, / die scheitern“, heißt es einmal, an anderer Stelle: „Was mich trägt und durchströmt, passt nicht in Worte“, dann wieder „Gott hat mich verflucht, als er mir Worte gab, säckeweis / taube Nüsse.“ Anders weiß, angesichts des Todes werden wir scheitern, aber zuvor gibt es Leben und Hoffnungen ... oder wie es im Gedicht zum peruanischen Dichter Martín Adán heißt:

„Und das Zerfallende
rafft sich auf, gürtet sich
mit Alexandrinern – aus vierzehn
Atemzügen fließt ein Sonett“


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