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Klaus Anders: Im Schatten des Sängers

Gedichte > Gedichte der Woche

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Klaus Anders

Im Schatten des Sängers


I

Bin aus meinem Tod erwacht,
ich war so lange tot. Bis eines Morgens
Tropfen fielen aus dem Gestein, die Decke meiner Höhle begann
zu weinen. Und alles, was erstarrt war, löste sich, geriet in Fluss,
atmete, richtete sich auf, wie gebogene Anemonenstängel
den Harsch durchbrechen mit sanfter Kraft, bis wieder
Blut durch Vorhof und Kammer strömte, warm, klebrig, mit
Salz und Eisen das Geström bis in die letzte Zelle.
Und das Erwachen: Was war, was sein wird, eng
verflochten in einem Punkt, entfaltete nach langem Schlaf
sein Rankenwerk, erste grüne Blätter, der Mund bewegt sich,
lautlos ertönt ein O.

II

Käm ich mit Händen,
flammenden, die Arme Feuer, das Herz ein
wilder Brand, komme
mit flammenden Händen, die Bäume verbrennen, ein Prasseln,
ein Fauchen und Grollen, die Linden im Sturm,
Zypressen das Brüllen der Brunst und endlich
fliegende Asche, zerfallen zu Asche, zu Grund – doch
das Feuer der Jugend hat mich verlassen, nein, nicht verlassen,
gewandelt in stetem Brand, sei stad, es verzehrt
nur noch langsam und lässt, was es lässt, als ausgeglühte
Gestalt, die noch lange, sehr lange die Wärme behält. Mit schwarzem Schnee
in Wirbeln und Wellen begann es. Dann verschwanden die Dinge und
Schatten blieben wie Nachklang von Nordlicht in Winternächten.

III

Es begann mit Flocken von schwarzem Schnee,
die Dinge wurden zu Schatten, die einander verschlangen,
sich wandelten in immer tieferes Dunkel. Zugleich reift mein Gehör,
von einem plumpen Keim, als ich noch sah,
zu einem Gewächs mit feinsten Tentakeln, Fühlern, die mir
die Finsternis hellen wie einem Blindkrebs die Höhle, worin er lebt.
Ich höre das Summen
von Plasma, Heulen der Stürme über der Sonne. Von ihr,
der ich blind bin, spüre ich schwach ein Glimmen,
spüre in einer eisigen Nacht, das Buch der Steine aufgeschlagen,
die Liebe, die ich früher in deinen Augen sah, und höre
einen Gesang, der mir die Angst nimmt, mich einwiegt wie an hohen
Tagen im Lindenschatten das Kind.

IV

Unsere alten Götter sprechen nicht mehr zu uns,
die neuen haben sich abgewandt. Für die Herren
sind wir nur Sklaven und Vieh, sie schänden uns,
zwingen uns zu gebären.
Den letzten Flachs aus der Darre geholt,
für ein Totenhemd reicht er noch,
ein Hemd für fünf, eins für hundert, selbst den Tag
haben die Schlächter verdorben. Wer
stirbt noch in Würde, in seinem Bett?
Im Dreck, unter Trümmern und dem Schrott
der Raketen blähen sich unsere Kadaver, blähen
sich auf bis sie platzen, die schwarze Brühe
zerläuft und Scharen von Fliegen bedecken die Feuchte,
ein Gewand, grünes Schillern, sie kriechen in
unsere Leiber, legen Eier, Maden wachsen heran.

V

Ging wie einst gekommen
in Stille und einsam. Eine Fliegenplage im Haus,
dann, der alle erschreckte, Geruch.
Hatte nur langsam gelernt. Um gehen zu lernen,
mussten die Schuhe verschwinden.
Um sehen zu können,
mussten die Bilder verschwinden.
Damit die Fülle ans Licht kam,
mussten die Worte sich leeren.
Aus Scherben, Wasser und Wind
erklang erste Musik.
Nähte Lieder wie Balenciega Kleider:
nicht mehr Stiche als nötig.
Das Gezänk erreicht sie nicht.
Sie fliegen durch Feuer, bleiben unversehrt.
Als Engel kommen sie, trösten.
Wer nicht wusste wohin,
ist nun da und ganz ruhig.


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