Kim de l'Horizon: Blutbuch
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Mit dem schrecklichsten Monster unter einer Decke
Eindrücke zum vielfach ausgezeichneten „Blutbuch“ nach dem ersten Rummel
Stefan Hölscher
Der Rummel, der entsteht, wenn Bücher oder Filme mit Preisen überschüttet werden, ist mir immer etwas suspekt, nicht nur, weil ich generell keinen Rummel liebe, sondern auch deshalb, weil ich zu oft fand, dass die preisüberhäuften Opera buchstäblich viel zu hoch gepriesen worden sind und andere, nach meinem Dafürhalten ganz wunderbare Werke gänzlich beim Bepreisen übersehen wurden. Aus diesen Gründen habe ich um das „Blutbuch“, das nach schon diversen Würdigungen zuvor im Herbst 2022 mit dem „Deutschen Buchpreis“ und etwas später auch noch dem „Schweizer Buchpreis“ ausgezeichnet wurde, zunächst einen größeren Bogen gemacht. Es gab ja auch keinen Mangel an Rezensionen dazu. Ganz im Gegenteil: Während viele, auch viele hochwertige Werke heutzutage in Feuilletons faktisch keinerlei Aufmerksamkeit mehr kriegen, mussten über das „Blutbuch“ offenbar alle, die überhaupt meinen, etwas zu Literatur zu sagen zu haben, auch einen Beitrag bringen. Selbst wenn die Beiträge untereinander durch nicht zu geringe Einschätzungsähnlichkeit, zum Teil bis in die Wortwahl hinein auffielen.
Nachdem nun aber ein paar Monate ins Land gezogen sind und sich der
mediale Rummel um das „Blutbuch“ wieder gelegt hat, überwog nun doch meine
besonders durch den Umstand der Queerness des Buches entfachte Neugierde. Und
so habe ich es nun schließlich auch gelesen.
Da sich nicht voraussetzen lässt, dass alle Leser*innen hier das Buch
und/oder diverse Rezensionen dazu bereits intensiv studiert haben, werde ich hier
zunächst ein paar Dinge zu Merkmalen und Besonderheiten des Buchs sagen, die
sich in vergleichbarer Form auch in anderen Rezensionen finden; danach möchte
ich dann aber auf ein paar Aspekte näher zu sprechen kommen, die in den anderen
mir bisher bekannten Artikeln zum „Blutbuch“ nicht oder nur marginal zur
Sprache gekommen sind.
Die Suche nach dem Ich
getrieben durch Tabus
Das „Blutbuch“ bewegt sich vom Genre her in einem Trend, der in den
letzten Jahren immer stärker die Szenerie in Literatur, Film und darstellender
Kunst geprägt hat: es handelt sich um ein autofiktionales Werk, also eine Mischung
aus Autobiographischem und Fiktionalem. Das namenlose, Ich-erzählende Subjekt
ist wie seine Schöpfer*in Kim de l’Horizon non-binär, fühlt sich also weder als
Mann noch als Frau. Es stammt wie auch Kim aus dem Bernerland, wo durch
Einflüsse des Französischen das Wort „Meer“ auch für „Mutter“ und das Wort „Peer“
auch für „Vater“ steht. Gerichtet ist das Buch an die Großmeer des
Ich-Erzählenden, die an einer Demenz erkrankt ist. Das schreibende Ich gerät dabei
im Laufe des Buches immer tiefer, auch historisch tiefer in die Familien- und
die eigene Geschichte hinein, während die Großmeer immer stärker im dementen
Vergessen versinkt.
Auf einen Prolog folgen im „Blutbuch“ vier Teile der „Suche“, 1 Die
Suche nach Schwemmgut, 2 Die Suche nach der Kindheit, 3 Die Suche nach der
Mutterblutbuche und 4 Die Suche nach Rosmarie. Der fünfte Teil, „Coming full
spiral“ besteht aus Briefen des Ich an Meer und Großmeer, die aber in Englisch
geschrieben sind und damit in einer Sprache, die weder Meer noch Großmeer
verstehen (eine deutsche Übersetzung der Briefe ist im Buch angefügt).
Getrieben wird die Suche des Ich durch Rätsel, Vermiedenes und
Tabuisiertes in seiner Familie, wie etwa das plötzliche Verschwinden der
15jährigen Irma, der jüngeren Schwester der Großmeer; die auffallende
Verbundenheit der Großmeer Rosmarie zu ihrer namensgleichen verstorbenen
älteren Schwester; die Obsession der Meer für die Schicksale von für Hexen
gehaltenen Frauen innerhalb und jenseits ihrer Familie und das Pflanzen der
Blutbuche in Urgroßpeers Garten.
Das Unterlaufen aller
Festlegungen als Stilprinzip
Es gibt allerdings keinen klassisch-linearen Erzählaufbau im
„Blutbuch“. Ganz im Gegenteil: Kennzeichnend für die Struktur des Buches ist
gerade seine scheinbare Strukturlosigkeit: das Springen und Vermischen
verschiedenster Form- und Stilebenen. So finden sich Ereignis-schilderungen,
Dialoge, Briefelemente, persönliche Reflexionen, Listen, philosophische
Einsprengsel, metatheoretische Betrachtungen und anderes in ständigem Wechsel.
Und ebenso wie die Formen wechseln auch die Stilebenen zwischen persönlicher
Ernsthaftigkeit, krasser Direktheit, spielerischem Witz, poetischem Pathos, temporeichem
Pop, akademischem Duktus etc. Das Buch lässt sich also
formal-stilistisch-inhaltlich so wenig auf den Punkt einer herkömmlichen
Kategorie bringen wie Kim oder die erzählende Ich-Person auf ein Geschlecht
innerhalb des binären Systems. Es unterläuft beständig (fast) jede Festlegung
und erzeugt damit eine Queerness, ein Gegen-jeden-Strich-gebürstet-Sein, das
wie ein konstantes Fließen ist, wie Wasser, womit sich das Ich öfter vergleicht
und woraus es seine ursprüngliche Kraft zu gewinnen glaubt:
Das Hinhören, auf das Kräscheln der Kiesel, das Trinken des Lichts, das Reden mit den Steinen, das Abschrauben der Haut, damit die Welt hineinkann, das heisst, damit das Wasser in das, was landläufig das »Innen« genannt wird, hineinströmen kann und die Pflanzen tränken, die im Kind wachsen, und das Kind spürte jetzt klar, was es vorher dumpf gewusst hatte: woher seine Kraft kommt. Dass das nämlich eine Wassermagie ist, ein Strömen, ein Fliessen.
Der eigene Körper als
schreckliches Monster
Dieses Fliessen, der Versuch des Unterlaufens aller festgefügten Formen
ist gleichsam die Antwort auf die unablässige Suche nach der eigenen Identität
in einem Körper, der sich fremd anfühlt und im Rahmen der
binär-männlich-weiblich-aufgeteilten Welt wie ein unüberwindlicher Fremdkörper
bleibt:
Ich wollte dir meine konstante Angst vor meinem Körper erzählen: Mit dem schrecklichsten Monster unterm Bett unter einer Decke zu stecken. Nur ist das keine Decke, sondern meine Haut. Eine Angst, wie wenn mensch in einer lotterigen Hütte lebt und ein Sturm kommt. Bloss kommt der Sturm nicht, sondern ist da: immer, überall, ausweglos. Manchmal das Gefühl, dass es okay ist, in dieser Hütte zu wohnen. Und manchmal, phasenweise, das Gefühl, falsch zu sein – das abgrundtiefe, alles zersetzende Grauen, bis in die hinterletzte Faser falsch zu sein in mir. Der Wunsch, mit einer sehr feinen Pinzette jede Zelle einzeln aus mir herauszuklauben und in Säure aufzulösen.
Ob das „Blutbuch“, das in zahlreichen Rezensionen als Roman einer
„Selbstermächtigung“, einer „Befreiung“, einer „Emanzipation“ gerühmt worden
ist, all seine Bepreisungen verdient, vermag ich schon angesichts mangelnder
Kenntnis der alternativen Werke nicht zu sagen. Anschließen kann ich mich aber
all denen, die betonen, dass dieses Buch durch das sprachlich innovative,
handwerklich gekonnte und Grenzen überschreitende Zusammenfließen von Inhalt
und Form eine wuchtige und besondere Leseerfahrung ist; und von daher
Aufmerksamkeit allemal verdient.
Sexualität und Macht
Thematisieren möchte ich gleichwohl nun noch ein paar Aspekte, die mir
in den mir bekannten Rezensionen und Diskussionen zu kurz gekommen sind. Zu
einem Aspekt kann uns das Phänomen der Sexszenen im „Blutbuch“ führen, die von nicht
wenigen Rezensent*innen als (zu) roh oder drastisch bezeichnet wurden, wie etwa
von Christoph Schröder in ZEIT Online, der übrigens ohne den Hauch von Beleg oder Begründung urteilt:
„offenbar kalkuliert drastische, dadurch aber nicht minder schlecht
geschriebene Sexszenen.“[1]
Nun weiß ich nicht wirklich, wie die
Missionars-Blümchen-Sex-Phantasien mutmaßlich heterosexueller Cis-Mann-Romanrezensenten
mutmaßlich gut-bürgerlicher deutschsprachiger Zeitungen aussehen; ich persönlich
fand allerdings die Sexszenen im „Blutbuch“ weder zu drastisch (Jahrzehnte nach
Romanen wie denen von Jean Genet sowieso nicht) noch gar „schlecht
geschrieben“. Im Gegenteil: in ihrer unverfrorenen Mischung aus Direktheit,
schamloser Obszönität, gleichzeitig aber auch Tempo, Witz, (Selbst-)Ironie und
Überraschungsmoment fand ich sie durchaus erfrischend. Allerdings – schon im
ersten Kapitel berichtet das Ich:
Kann sein, dass ich so geil darauf bin, fremdes Material in mir aufzunehmen, weil ich es schon immer geübt habe. Kann sein, dass ich schon in meiner Kindheit trainiert habe, mir möglichst viel, möglichst Fremdes einzuverleiben. Es bereitet mir auf jeden Fall die grösste vorstellbare Lust, als reine Abladestation benutzt zu werden. Ich liebe die Erniedrigung, ich werde so richtig feucht, wenn man mich wie die billigste Nutte behandelt. Und noch viel mehr geilt es mich auf, wenn ich sehe, wie sehr man mich erniedrigen muss, wie sehr ich in meiner physischen Machtlosigkeit die gesamte psychische Kontrolle über ihre Geilheit habe. Nichts macht mich williger, als zu spüren, wie sehr sie von meiner slutiness abhängig sind, um ihre Schwänze hochzukriegen. Sie sagen: ICH BESORGE ES DIR, aber in Tat und Wahrheit besorge ich es ihnen; ich besorge ihnen einen Körper, an dem sie sich ihre Männlichkeit besorgen können. Und nichts geilt sie mehr auf als ihre eigene Männlichkeit. Ich schenke ihnen während unseres Zusammenstosses das wichtigste Attribut ihres Geschlechts: die Macht über Anderes.
Die Gleichsetzung von
„männlich“ mit „faschistoid“
In ausgeprägt paternalistischen Gesellschaften muss die Frau
fundamental abgewertet werden, um das für den Mann sonst unheimliche und
unkontrollierbare Begehren nach ihr in seinem Selbstwertgefühl zu kompensieren.
In Stellen wie der zitierten geschieht nun etwas anderes: Das non-binäre Ich,
das sich möglichst weitgehend von Männern als Objekt benutzen und erniedrigen
lassen will, beschreibt sich gleichzeitig als Strippenzieher der Ermöglichung
des Männlichkeitsgefühls seiner Sexpartner. Damit dreht es einerseits das
vermeintliche Machtverhältnis (wer „besorgt“ es hier wem?) wieder um, bleibt
aber gleichzeitig der archaischen Grundlogik eines quasi klaren Über- und Unterordnungs-Verhältnisses
(einer „besorgt“ es, dem anderen wird es „besorgt“) verhaftet. Nur dass eben
hier jetzt der Mann als scheinbar dominanter Part zum eigentlich abhängigen
wird.
Zum Konzept des „Blutbuchs“ gehört die Fokussierung der weiblichen
Seite. Im vierten Kapitel stößt das Protagonisten-Ich auf eine Fülle von
Biographien der Familienhistorie der letzten 600 Jahre, alle geschrieben von
der „Meer“ und alle ausnahmslos bezogen auf Frauen. Männer und ihre Schicksale
kommen dabei höchstens als Randphänomen vor, was angesichts der den Frauen in
paternalistischen Umfeldern immer wieder angetanen Gewalt wie der Versuch einer
Art ausgleichenden Gerechtigkeit erscheint. Die starke In-Szene-Setzung des
Weiblichen, die schon bei der Widmung „Für meine Meere“ beginnt, ist der im Buch
durchaus konstanten Anklage eines dominant-aggressiven Paternalismus
geschuldet. Dass dabei dann auch die männlichen Figuren in dem Buch, wie etwa
der „Peer“ des Ichs oder die recht schnell wechselnden Liebhaber in ihrer
Persönlichkeit ausgesprochen blass bleiben, kann man dann entweder als Teil des
Konzepts oder als dramaturgische Schwäche des Romans betrachten.
Ich tendiere dazu, beides für relevant zu halten, insbesondere wenn ich
Sätze wie den folgenden hinzunehme: „Ich schlage das Erbe der protofaschistoiden
Sexualität schwuler Männlichkeiten aus.“ Auch wenn sich im Untergraben und
Hinterfragen scheinbar fester Ebenen, die das „Blutbuch“ ja ständig vornimmt,
solche Aussagen sofort wieder mit einem Fragezeichen versehen ließen, scheint
mir die hier vorgenommene Gleichsetzung von „faschistoid“ mit „männlich“, in
diesem Fall „schwuler Männlichkeit“, doch eine recht stabile Rahmensetzung im
„Blutbuch“ zu sein, zumal das Patriarchat als alleinige Ursache des, wie Kim / Ich sagt, „Binaritäts-Faschismus“
ausgemacht wird. Und diese, wie ich finde, sehr globale und wenig
differenzierte und schon gar nicht fließende Generalabwertung des Männlichen
geht mir persönlich denn doch zu weit. Ich finde sie weder literarisch
übermäßig pfiffig, noch gesellschaftlich irgendwie hilfreich, auch wenn ich natürlich
sehe, dass sich das non-binäre Ich in einer maßgeblich binär geprägten
Geschlechterwelt seine Befreiung durch markige Abgrenzung hart erkämpfen muss.
Nichts-destotrotz: aus der pauschalen Verurteilung etwa der Hälfte der
Menschheit qua ihres Geschlechts wird aller Wahrscheinlichkeit nach kein
besserer Zustand der Welt resultieren. Was mich zu meinem abschließenden Punkt
führt.
Magische Verbindungen und eine egozentrische Weltsicht
In einem Gespräch in der
Reihe „Sternstunde Philosophie“ in srf Kultur [2] spricht Kim de l’Horizon sinngemäß davon, dass wir als Individuen eigentlich
Knotenpunkte in einem schier unendlichen Seinsgeflecht seien. In der Dimension
des Gegenwärtigen bedeutet das, dass wir uns statt in linearen Kausalbezügen in
unauflösbaren Wechselwirkungen mit Menschen und Dingen befinden. In der
Dimension des Historischen bedeutet es, dass wir unauflösbar in einer
jahrhunderte- oder jahrtausendelangen Reihe unserer Vorfahren eingebettet und
verwurzelt sind – ein Umstand, der auch die akribische (und durchaus mühsam zu
lesende) Biographiearbeit im vierten Kapitel des „Blutbuchs“ funktional werden
lässt und der das Protagonisten-Ich bei seiner Suche nach Identität und
Herkunft flapsig gesprochen auf Trapp hält. Und der auch uns Übrige auf Trapp
halten könnte, scheinbare Klarheiten immer wieder zu hinterfragen und multiple Verknüpfungen
zu spüren, statt künstliche Trennungen herzustellen. Ein Ansatz, den ich nicht
nur literarisch verfolgenswert finde.
Auch hier kommt nun aber
noch ein – allerdings: Wenn wir die Knotenpunktidee ernstnehmen wollen, geht es
auch um den Versuch, die von den anderen Knotenpunkten ausgehenden Aktivitäten
als aus ihrem Platz heraus sinnvoll und berechtigt wahrzunehmen. Es geht
gleichsam um den Versuch einer möglichst unvoreingenommenen Multiperspektivität.
Tatsächlich versucht das Protagonisten-Ich im „Blutbuch“ immer wieder mit
großem Aufwand und mit beeindruckender Sensitivität die anderen Perspektiven zu
beschreiben. Es bleibt dabei aber – so mein recht durchgängiges Empfinden – in
einer ganz schön egozentrischen Sichtweise stecken. Es begibt sich in die Weiten
und Tiefen der familiären Welt; es betrachtet die ‚große‘ Welt wie einen
animistischen Kosmos, in dem alles mit allem lebendig zusammenhängt; zuletzt kreist
es bei alledem aber doch immer wieder um sich selbst. Es eröffnet uns
hoch-eloquent eine extrem fein gefächerte Sicht auf die Dinge; aber diese Sicht
reduziert sich letzten Endes immer wieder auf die eigene, so als gäbe es die
Welt nur in den Brechungswinkeln dieses Ichs. Was grundsätzlich kein Problem wäre,
eher eine Art von sich mit einem magischen Panpsychismus verwechselnden Solipsismus.
Die hier durchschimmernde emotionale Egozentrik ist aber zugleich einer der
Gründe, warum ich sagen würde, dass ich das „Blutbuch“ zwar literarisch hoch
interessant und durchaus inspirierend finde; es mich aber gleichzeitig nur
bedingt tief berührt.
[1] https://www.zeit.de/kultur/literatur/2022-10/kim-d-le-horizon-blutbuch-buchpreis-kritik
[2] https://www.srf.ch/play/tv/sternstunde-philosophie/video/kim-de-lhorizon---befreit-eure-koerper?urn=urn:srf:video:86aa5f1b-8646-4c25-a95d-142595c9305d
Kim de l`Horizon: Blutbuch
Köln (DuMont Buchverlag) 2022. 336 Seiten. 24,00 Euro.
Wir danken queer.de für die
freundliche Erlaubnis der Zweitverwertung dieses Beitrags.