Kevin & Patrick Hattenberg: Nebel Leben
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Matthias Schramm
Kevin & Patrick Hattenberg: Nebel Leben. Gedichte. Berlin (PalmArtPress) 2025. 110 Seiten. 25,00 Euro
Aus dem Nebel heraus Leben entstehen lassen
Kevin und Patrick Hattenberg, geboren 1992 in Kiel, sind Zwillingsbrüder, Psychologen und Dichter, deren lyrisches Schaffen – insbesondere „Hirnherbst“ und der nur von Patrick Hattenberg geschriebene Band „Heimathaut“ – die Verbindung zwischen Seele und Sprache sucht. Nein, es ist nicht die Verbindung: die Sprache möchte mit der Seele amalgamieren.
In „Nebel Leben“, 2025 erschienen im Verlag PalmArtPress, treiben sie diese in Kunst gemeißelte Selbstreflexion weiter: Es ist keine Poesie über das Leiden, keine Deliranz, sondern ein Gang durch das Leiden hindurch, ein Wanderpfad durch alle Erfahrungen, das Unsagbare wird versucht, sagbar zu machen; stets mit der Aussicht auf Wachstum, aber auch auf das Scheitern vor oder nach dem Wachstum. Der Band hat keine Angst vor dem Scheitern, er spielt mit dieser Unsicherheit und dem Jetztzeitlichen, denn es kann jederzeit passieren, dass wir den Boden unter den Füßen verlieren. Die Brüder schreiben nicht übereinander, sondern mit sich – so entstehen Texte, die nicht heilen wollen, aber zeigen, wie Heilung beginnen kann. Indem sie den Nebel nicht vertreiben, sondern beschreiben und aus dem Nebel Leben schöpfen. Ein Wechselspiel zwischen Scheitern und Neuanfang. Der Band will eine Chance darstellen und ehrlich sein.
In „Nebel – Leben“ schaffen die Hattenberg-Brüder einen Lyrikzyklus, der weniger auf klassische Gedichtformen rekurriert als auf die Psychodynamik einfühlsamer, aber durchdringender Monologe. Die Texte wirken nicht geschrieben, sondern gehaucht, Schicht für Schicht auf-gebaut, mal verzweifelt, mal schreiend, dann rücksichts-voller, nahezu zärtlich flüsternd – sie sind leidensfähig aber laut im Ton und im Sturz festgehalten. Ihre Grundstruktur ist nicht poetischer Bau, sondern allmähliche Auflösung innerer Grenzen und das Abtragen von Barrieren. Eine Grat-wanderung. Gedichte wie „Haus aus Haut und Winter“ oder „Zappenduster“ operieren und gehen voran mit Verdichtung von Bildern und körperlicher Verunsicherung:
„mein Hals verstopft wie Überfälliges mich überfällt
wie leer ich mich in diesem vollen Raum doch fühle“

Die Text- und Versstruktur ist hier nicht bloß Medium,
sondern Symptomträger. Die Verse verhandeln Isolation, psychotrope Zustände,
Auflösung des Selbst, weniger als Metapher, sondern mehr als Manifest, das
sowohl die Zwänge sichtbar macht als auch Wege ihrer Überwindung aufzeigt.
Zentral ist die Wiederkehr des Topos „noch einmal um die
Sonne“ – eine zyklische Formel, die sowohl Zeitbeschreibung als auch
existenzieller Imperativ ist. Sie erscheint in variierenden Kontexten: als
resignative Resignation („im Papierflieger noch einmal um die Sonne“), als
selbstironische Hoffnung („geilstes Solarium“) oder als blinder
Wiederholungs-zwang. Diese Formel wird zur Konstante, die sich der Linearität
verweigert.
Der Band gliedert sich in Phasen, die sich jedoch nicht
explizit markieren lassen – stattdessen sind es motivische Cluster: das Licht
(oft als Kunstlicht, Neoneon, Künstlichkeit), der Körper (als Haut, als
Exkremententräger, als Spiegel), die Zeit (Tick Tack, 23:59, 00:00, 00:01). In
„Schattenjagd“ wird der Kreislauf beschrieben, aus dem kein Fortschritt
resultiert:
„im Kreis mit vollen und doch leeren Händen
[...] Tick Tack Tick Tack“
Der Rhythmus wird hier zum Taktgeber einer Zeit, die nicht
zu vergehen scheint, sondern sich sogar verdichtet. Das lyrische Ich existiert
in diesen Texten nicht als souveräner Sprecher, sondern als getriebene Figur –
immer am Rand, selten im Zentrum, fast nie im Besitz der Kontrolle. In „stell
dich nicht so an“ wird die frühkindliche Anrufung in ihre neurotische Endform
überführt:
„rede ich mit andren rede ich mit euch
[...] Bezugspersonen werden zu Entzugssymptomen“
Die lyrische Sprache ist dabei kein Ornament, sondern
Verwandlung und Bruch – man denke an „Kunstlichtgott III“, das typographisch
ausfranst und sprachlich in einen eruptiven, fast glossolalischen Zustand
übergeht. Das ist kein Spiel, sondern eine Notation: Hier spricht das
Nervensystem mit eigener Syntax.
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Reflexion über
Pathologisierung selbst. In „PräTBS“ und „chronisch“ wird nicht einfach ein
Zustand beschrieben, sondern seine epistemologische Einbettung:
„prätraumatische Belastung ich
werde verstört von den Bildern“
„eine internalisierte Religion
der Depression die chronisch glaubt
dass ich nicht an mich glaube“
Der psychologische Hintergrund der Autoren ist dabei nicht
nur Hintergrund, sondern ein lyrisches Prinzip: Der Text wird zur Praxis. Die
Gedichte therapieren nicht, sie exponieren. Sie machen den Raum auf, in dem
überhaupt eine Sprache für das Unaussprechbare entsteht.
Diese Sprache ist nicht affirmativ. Sie ist keine
Genesung, sondern ein Gehen über Geröll. Doch gerade im letzten Drittel des
Bandes verschieben sich die Vektoren: In „00:01“ wird aus der Dämmerung ein
Morgen. Aus dem „Haus aus Haut und Winter“ wird ein Ort des Aufbruchs:
„ich heiße endlich ich im Aufgang laut
zerfließe ich umarmt von meinem Namen“
Auch das ist kein Happy End, sondern eine Zäsur. Eine
Wendung, die nicht das Leid verneint, sondern dessen Richtung umkehrt.
Die Satzstrukturen sind häufig parataktisch, manchmal
nahezu agrammatisch, oft eruptiv unterbrochen. In „Fragezeichen“ zum Beispiel
zerfällt ein vollständiger Satz in seine Konjunktive, Modalpartikel und
Pronomina:
„vielleicht
und oder aber ob
wenn
überhaupt vielleicht
auch
nicht mein Hin und Her
kennt Für
und Wider [...]
warum
warum WARUM war
um warum
warum warum“
Der Text simuliert keinen Gedankenfluss, er ist einer:
zerlegt, tastend und bohrend. Die Syntax folgt keiner rhetorischen Zuordnung,
sondern dem affektiven Verlauf. Das Aufsplittern der Syntax verweigert sich der
Stabilität der Semantik und verweist stattdessen auf einen Zustand: die
Abwesenheit von Linearität, die Schwierigkeit, sich selbst klar zu begegnen und
die Herausforderungen, ein zusammenhängendes Selbstgefühl zu bewahren.
Zahlreiche Gedichte arbeiten mit Wiederholungen, sei es
klanglich, syntaktisch oder semantisch. Diese Redundanzen sind nicht emphatisch
zu verstehen, sondern markieren oder imitieren innerpsychische Zwänge. In
„Kunstlichtgott II“:
„an aus
an aus an aus an an an“
Und in „nichtig“ die maximal gesteigerte Form der
Verneinung – über dutzende Zeilen hinweg:
„nicht
nicht nicht nicht nicht nicht [...] ich nicht nicht nicht“
Diese Repetitivität imitiert nicht nur Zwänge, sondern
erzeugt Akustik, die Frage nach dem Sinn, das Wiederholen der immer gleichen
Muster, in denen Bedeutung in Rhythmus übergeht. Der Text wird zu einem
Klangsaal, dessen Funktion nicht nur Mitteilung, sondern auch Darstellung von
innerer Permanenz ist. Das Festklammern an vertraute Sicherheit.
Die Interpunktion ist inkonsistent, oft gänzlich abwesend,
gelegentlich absichtlich falsch oder umfunktioniert. Das semantische Gewicht
verschiebt sich dadurch auf Pausen, Zäsuren oder will Leerräume schaffen. In
„Statuen blicken gradeaus“ wird die visuelle Achse selbst Teil des Gedichts:
„du wirst
dich noch umgucken
wenn dein
Pfad aus Stein
wie Glas
zer
b
r
ich
t“
Das „Ich“ wird als Ganzes im Bruch ausgeschrieben. Es
zerfällt, bleibt aber standfest als Entität.
Die Verszeile zerbröselt um das „ich“ herum, der Text
performt, was er beschreibt. Die Typografie wird Semantik, zu einem Tool. Der
Bruch, das Zerbrechen, ist nicht Thema, sondern Vollzug. Die Schrift selbst
wird Figur, nicht Repräsentant, sondern Akt.
Die Metaphern sind körperlich, oft düster mit Rissen aus
Licht. Es sind Verse, die durch Verschiebung neue Funktion gewinnen: „Tick Tack
Tick Tack“, „Papierflieger“, „Haus aus Haut“, „Porzellanpupille“. Diese
Wortbildungen erzeugen Zwischenräume für Gefühle, die sich nur schwer
ausdrücken lassen – semantisch nicht fixierbar, aber affektiv eindeutig. In
„Kasernenrunde“ heißt es:
„wer
läuft der denkt nicht und wer
zu viel
denkt der läuft nicht schnell genug“
Hier übernimmt die Paradoxie eine strategische Funktion:
Sie entlarvt ein System (militärisch, gesellschaftlich, psychisch), das
Handlung über Reflexion stellt. Die Sprache hat keinen Abschluss, sondern ein
Echo. Diese Echohaftigkeit – formal wie semantisch – ist eine durchgängige
rhetorische Figur.
In vielen Gedichten tritt ein Stimmenwechsel auf – etwa
zwischen Kindheitssprache, autoritärem Ton, innerem Monolog und adressierter
Rede. „stell dich nicht so an“ enthält Passagen wie:
„rede ich
mit andren rede ich mit euch
[...] da
da da da da
gu gu
aua“
Der Text inszeniert eine regressiv gebrochene Stimme, eine
intensive Dialogizität, die nicht mehr zwischen Sprecher und Adressat
unterscheidet. Der Verlust der sprechenden Autorität wird nicht kaschiert,
sondern durch Sprache performativ geschaffen, regelrecht zwischen den Zeilen
herausgeschnitten.
Aufgefallen ist mir das latente Motiv des Papierfliegers
als eine Art heimliche Strukturachse. Der Papierflieger ist kein ordinäres Bild
unter anderen. Er erscheint mehrfach an ent-scheidenden Schnittstellen und
funktioniert als inhaltlich-strukturelle Chiffre des gesamten Bandes: für die
Ambivalenz zwischen Aufbruch und Absturz, zwischen Kindheit und
Kontrollverlust, zwischen Leichtigkeit und Zerfall. Die erste Nennung findet
sich im Gedicht „23:59“ auf Seite 12.
„im
Papierflieger noch einmal um die Sonne“
Hier ist der Papierflieger noch ein utopisches und recht
vages Bild: Bewegung, Leichtigkeit, Kindlichkeit; ein letzter Versuch vor
Mitternacht. Der Flug ist hier noch möglich, obwohl bereits ein „Blindflug“
angedeutet wird.
Auf Seite 40 folgt die zweite Erwähnung
im Gedicht „00:00“:
„im Papierflieger noch einmal
um die Sonne /
Absturz
in die Gräber meiner Narbengräben“
Nur eine Seite weiter folgt der semantische Kollaps: Der
Flugtraum scheitert. Der Papierflieger wird zur Chiffre für Wiederholung und
Unterordnung. Wiederholung wird zum Absturz. Es ist der Moment, in dem der
Zyklus kippt – von Sehnsucht zu Resignation. Die Uhr springt auf Null.
„...es
dauerte ein ganzes Leben um mein Leben zu beginnen /
im
Papierflieger noch einmal um die Sonne“
Der Flug wiederholt sich, doch jetzt im Modus der
Rückgewinnung. Der „Papierflieger“ ist nicht mehr Kindheitsmetapher oder
Fluchtmittel, nicht nur langsame Trägheit und Losgelöstheit, sondern eine
fragile Möglichkeit der Rückkehr: zur Sprache, zum Wort, zur Identität, zur
Autorenschaft. Es ist ein Flug, der anscheinend nicht richtig ankommen möchte,
sich aber weigert, endgültig zu stürzen.
Der Band spricht von der Entwicklung von Hoffnung, über
Absturz und darauffolgende Regeneration. Vielleicht ist der Flieger ein Symbol
für das Leben selbst, die Wege, die wir gehen, stets imperfekt, drohend
abzustürzen und doch immer in der Lage zu fliegen. Der Band ist erschöpfend und
erschöpfend ehrlich. Die Gedichte wirken, als hätten die Hattenberg-Brüder
einen direkten Zugang zu einer Sprache gefunden, die nicht nur auf kunstvolle
Weise die seelischen Sturzfluten beschreibt, sondern diese Gefühle erleben und
durchleben lässt. Manchmal fühlte es sich an, als spräche ich selbst, als würde
mir ein Spiegel vorgehalten, in dem ich meine eigenen Brüche und Hoffnungen
erkenne. Und das ist schmerzhaft, aber gleichzeitig befreiend. Es macht
deutlich, dass Leid kein isolierter Zustand ist, sondern eine Verbindung
schaffen kann.
Dieser Band ist nicht bequem! Ich musste mich den Texten
stellen, genauso wie ich mich mir selbst stellen musste. Doch genau das war es,
was mich am Ende tief berührt hat: die Ehrlichkeit, die Klarheit und die
Bereitschaft, aus dem Nebel heraus Leben entstehen zu lassen. Die Wiederkehr
des Papierfliegers hat mich besonders bewegt, als Bild einer fragilen Hoffnung,
die auch dann besteht, wenn alles um uns herum zerbricht. Gerade dieser Gedanke
hat mich nachhaltig beschäftigt und tröstet mich auch jetzt noch: Wir dürfen
zerfallen, wir dürfen zweifeln; es ist manchmal wichtig aufzugeben, und dennoch
können wir immer wieder aufbrechen und erneut versuchen zu fliegen. Er ist
unbequem, ja, er ist aber auch Hoffnung.