Keston Sutherland: Thesen gegen das anti-subjektivistische Dogma
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Keston Sutherland:
Thesen gegen das anti-subjektivistische Dogma
übersetzt von Vincent Sauer
1. Alle Argumente, die sich gegen die Vorherrschaft des
Subjekts oder der „Subjektivität“ in der Kunst richten, sind so alt wie die mit
ihnen abgelehnte Kunst selbst. „Anti-subjektivistische“ Kunstauffassungen sind
ihrem Ursprung nach „romantisch“ und wurden zur gleichen Zeit erstmals geltend
gemacht wie jene „subjektivistischen“ Auffassungen, die für gewöhnlich den
Anspruch erheben, sie abzulösen.
2. Die Verdrängungs-, Überfluss-, Obsoleszenz-Logik,
diejenige Logik, die besagt, x könne man heutzutage einfach nicht mehr machen,
leitet sich von ästhetischen und wirtschaftlichen Diskursen ab, die die
französische Malerei in den Dunstkreisen der Salons des 19. Jahrhunderts
umgaben. Die Art und Weise, wie sie Dichter gegenwärtig adaptieren, ist in
wesentlichen Aspekten unkritisch und unreflektiert: Erstens wird diese „Logik“
ihres spezifischen historischen Kontexts beraubt. Den bildete eine Geschichte
revolutionärer Gewalt während der Französischen Revolution, das anhaltende Drohen
eine Revolution, eine politische Restauration und die frühkapitalistische
Transformation der Gesellschaft. Die Logik der französischen Kunstgeschichte im
19. Jahrhundert wird
von ihren realen historischen Kontexten abstrahiert, aufs Äußerste
verflacht, sodass sie kaum noch mehr ist, als eine Parodie des Profitmotivs. Zweitens sind die
Vertreter dieser oberflächlichen kunstgeschichtlichen (eigentlich zutiefst
unhistorischen) Logik nicht die damaligen Refusés, sondern stellten in den
maßgeblichen Salons aus.
3. Der wichtigste Anstoß für Antisubjektivismus in der
Theorie des 20. Jahrhunderts gab Louis Althusser mit seinem Begriff des
"Antihumanismus". Wie Jacques Rancière in seinem ersten Buch schrieb
– in dem er genau diese Tendenz in
Althussers Denken als reaktionäre Verdunstung der Kämpfe von 1968
angriff –, ist Althussers Verbot eines
„linken Subjektivismus“ (subjectivisme gauchiste) ein Mittel gewesen, seinen
„epistemologischen Bruch“ (coupure épistemologique) zu legitimieren, der im
Grunde nichts anderes war, als die intellektualistische Rechtfertigung eines
Intellektuellen, die, wie üblich, auf Kosten des Rechts der Arbeiter ging, für
sich selbst mit eigener Stimme zu sprechen. Althussers Subjektivismus-Verbot
ist nichts anderes als ein Verbot proletarischer Selbstdarstellung. Dasselbe
Verbot hallt in aufgefrischter und verfeinerter Form im gegenwärtigen
Subjektivitätsverbot der Poesie nach.
4. Keiner der Dichter, die behaupten, sie hätten das Subjekt
aus ihrer Arbeit vertrieben oder ausgemerzt, hat je eine auch nur im
Entferntesten kohärente oder überzeugende Darstellung des „Subjekts“ geliefert.
5. Bereits in einem frühen Beethoven-Essay von 1937 kann man
bei Adorno vernehmen, wie es ihn auslaugt, auf das „cliché subjective“ Bezug nehmen
zu müssen, das während des Dritten Reichs als Ausdruck von Missbilligung
genauso weit verbreitet war wie heute. Künstler und Kritiker lehnten das „Subjektive“
seit Jahrhunderten ab, üblicherweise mit dem nächstbesten, ungenauen,
skelettierten, ungeprüften Begriff. Der von zeitgenössischen Dichtern heute
fortgesetzte Antisubjektivismus bietet nichts Neues und bezieht sich nicht
ernsthaft auf seine Geschichte.
6. Es sagt viel über die sogenannten „konzeptuellen“ Dichter
aus, dass sie sich weigern, einen begrifflichen, konzeptuellen Zugang zu jenem „Subjekt“ zu
liefern, dessen Ablehnung das Schema ihrer Kunst ausmacht: Offenkundig findet
darin ihre Verachtung für die Arbeit am Begriff selbst Ausdruck. Konzeptuelle
Poesie verrichtet keine Arbeit am Begriff, um dadurch das „Subjekt“ zu fassen,
dessen Ablehnung ihr prinzipielles Dogma ist. Poesie, die von konzeptuellen
Dichtern als romantisch, subjektiv, expressiv usw. abgetan wird, leistet oft in
erheblichem Maße mehr Arbeit am Begriff als die konzeptuelle Poesie.
7. Es gibt keine traditionelle Lyrik und es gibt kein
lyrisches Ich. Der Gebrauch des Pronomens der ersten Person Singular in der
Poesie ist so vielseitig und komplex wie der Gebrauch von Sprache überhaupt.
8. Den Antisubjektivismus mit der Behauptung zu
rechtfertigen, er würde Leser oder Verbraucher eines Texts befreien, ist
dogmatisch und formalistisch. Es ist wieder wie bei Althusser: Kapier halt den
Text und die Revolution wird schon folgen. In Wahrheit bedingen tausende
unberechenbare Faktoren, die kein Dichter jemals kontrollieren oder konzipieren
könnte, wie aktiv oder passiv, frei oder unfrei Leser in ihrem Gebrauch von
Texten sind. Die Verachtung für die Arbeit am Subjektbegriff wächst sich aus zu
der paternalistischen Fantasie, Fremde zu befreien, deren unendlich komplexe
Leben – geprägt von unterschiedlichen
Formen unkalkulierbarer Unfreiheiten und Unterdrückungen – man routiniert
zugunsten einer stumpf-sinnigen, hochtrabenden Abstraktion ignoriert.
9. Konzeptuelle Dichter und Antisubjektivisten jeden
poetischen Schlags fühlen sich auf sicherem Boden, wenn sie nominalistische
Fiktionen wie das „lyrische Ich“, die „lyrische Poesie“, die „traditionelle
Lyrik“ usw. verhandeln, weil die Geschichte der poetischen Technik ihnen
gleichgültig oder unbekannt ist. Bereits oberflächliche Kenntnisse dieser
Technik reichen aus, um die gesamte Polemik der Lüge zu überführen. Tiefere
Kenntnisse lassen sie schlichtweg banal erscheinen.
10. Die Unkenntnis poetischer Verfahren impliziert eine
gleichgültige und verächtliche Sicht auf die Geschichte der Arbeit. Aus der Perspektive des antisubjektivistischen Dogmas ist
nur die ironische Theoretisierung des Werts möglich; ihre Auswirkungen auf eine
Theorie der Arbeit sind vollends reaktionär. Marxens Auffassung von der
Unmenschlichkeit der Lohnarbeit bestand exakt darin, dass sie das individuelle
Subjekt ausradiert, es zu einem bloßen Maß an „gesellschaftlich- notwendiger
Arbeit“ und letztlich zu „Gallerte“ reduziert. Das Kapital ist selbst die
grundlegende „antisubjektive“ Triebkraft in der Welt und das Modell für alle
anderen. In revolutionärer marxistischer Theorie geht es darum, das
gesellschaftliche Subjekt wiederherzustellen und den Zwang abzuschaffen, der
die Arbeiter in der materiellen Realität entsubjektiviert. Konzeptuelle und sonstige
antisubjektivistische Poesie könnte tatsächlich das Kapital hintergehen und
das, was es tut – das Leben des Einzelnen unterdrücken
– schärfer in den Fokus rücken und so
bei den Lesern, die mit ihrer Unterdrückung konfrontiert werden, Unruhe erzeugen
oder sie Ekel empfinden lassen. Aber selbst dann ist dieser Betrug bei weitem
nicht ironisch genug: Wer solche Texte liest, wird nicht zum Kampf gegen das
Kapital agitiert, sondern stattdessen dazu
gedrängt, über konzeptuelle Dichtung zu jammern. Konzeptuelle Dichter wissen
das und sind damit zufrieden, berühmt zu werden, weil man über sie
jammert.
11. In jedem Medium sind die besten konzeptuellen Kunstwerke
solche, in denen das Konzeptuelle als abgelehnte
Souveränität immer weiter vom Subjektiven angefochten wird. Deshalb gibt
es keine „großen“ Konzeptgedichte, im Sinne der derzeitigen Konjunktur dieser
generischen Vorstellung — ungeachtet all der Selbstverherrlichungen, bei denen
wir uns den Kopf über die Frage zerbrechen sollen, ob es sich doch nur um
ausgeklügelte Witze handelt. Konzeptuelle Poesie hat heutzutage die Dialektik
von Schema und Instinkt schlichtweg zugunsten einer gemütlichen und
unbekümmerten Übereinkunft mit dem Schema aufgegeben. Es spielt keine Rolle wie
aufwieglerisch oder aggressiv das Material ist, das man in das Schema
einspeist; solange man es gedankenlos als Material betrachtet und solange das
Subjekt nur eine bequeme Fiktion darstellt, die theoretisch verboten sein
sollte, wird diese Poesie nicht auf radikale Weise konzeptuell sein.
(Original 2013)