Kerstin Becker: Zur Welt
Gedichte > Münchner Anthologie
						Kerstin Becker
ZUR WELT
unter Kabeln zwischen Nadeln
und Pappmachénierenschalen
und Anfeuerungsrufen von weit her
im Zustand
bevor Energie sich materialisiert
lag ich und schrie
in dieser Scham-Szenerie
jenseits von Stil und Hochsprache
in fremden desinfizierten Händen
während galaktische Geisterteilchen
unentwegt meinen Körper durchkreuzten
Infusion ab Infusion an
nicht wegtreten dableiben pressen
das wird schon
Frau
spritzen schneiden
in diesem Raum mit Stahltür
kam mein Kleines mit Urspurn
und Fell zur Welt
In: Kerstin Becker, Das gesamte hungrige Dunkel
						ringsum, Gedichte, Edition Azur, 2022
Ulrich Schäfer-Newiger
						
						Natalität, poetisch
						
						Es ist offenkundig, dass Gedichte über das Ende des Lebens,
						das Sterben, den Tod scheinbar so leicht und so notwendig zu schreiben sind,
						dass es schier unzählige von ihnen gibt. Das beginnt früh im klassischen
						Griechenland mit Sappho (Stirbst du, wird es zu Ende sein: / Keine Erinnrung
						mehr an dich, / kein Gedenken der Nachwelt mehr, / …) und reicht bis in die
						angstvoll-apokalyptische Gegenwart (Das Problem ist also, dass ich von mir
						wissen werde, / Jetzt stirbt er. Bald o.so. … - Alexandru Bulucz). Man wird
						nicht fehlgehen anzunehmen, dass das mit diesem zuletzt zitierten Vers genau beschriebene,
						die eigene, endliche Zukunft antizipierende, lebenspessimistische, subjektive
						Bewusstsein dazu führt, Gedichte zu schreiben. Um das für uns unbestimmbare Sterben doch
						irgendwie bestimmbar zu machen oder wenigstens die Perspektive darauf zu
						ertragen. Dann hieße dichten letztlich nichts anderes als: sterben lernen.
						Zugleich ist dieses Bewusstsein der eigenen Endlichkeit der Grund dafür, dass
						Gedichte, die sich mit dem Beginn des Lebens beschäftigen, äußerst selten sind.
						Gedichte über das Geboren-werden, Geboren-worden-sein, das Gebären, die
						Geburtlichkeit und den Anfang vom eigenen Anfang nennen will, sind äußerst rar.
						Das ist natürlich, wird eingewandt werden, denn niemand kann sich an die eigene
						Geburt erinnern. Im Unbewussten mag dieses Ereignis zwar ein Leben lang wirken,
						wie die Psychoanalytiker sagen. Aber auf der bewussten Ebene ist es so, als
						seien wir bei unserer eigenen Geburt nicht dabei gewesen. Keine Erinnerung also
						an den eigenen Anfang. Der Philosoph Sloterdijk hat das einmal
						„Geburtsvergessenheit“ genannt. Und nicht zu leugnen ist eben: Geboren worden
						sein, heißt unvermeidlich auch: sterben müssen. Warum also über die Geburt (den
						Anfang) dichten, wenn es doch nur die erste Stufe des Sterbens (des Endes) ist?
						Eben deswegen, weil die Geburt die conditio sine qua non des Sterbens ist. 
						
						Kerstin Becker hat ein solch seltenes Gedicht über die Geburt
						geschrieben. Und zwar, aus den eben genannten Gründen, ganz pragmatisch, aus
						der Sicht der Gebärenden. Und sie war so klug, sich auf die unendlichen
						metaphysisch-ontologischen Grübeleien und thanato-logischen Tautologien der seit
						zweitausendfünfhundert Jahren über dieses – statistisch gesehen – alltägliche Ereignis
						Nachgrübelnden gar nicht erst tiefer einzulassen. Sondern sich auf einige
						wenige symbolische Andeutungen zu beschränken.
						
						Sie nimmt die eigene Erfahrung als Gebärende und fokussiert
						das Ereignis auf die Schilderung des ‚zur- Welt-Kommens‘ eines neuen Menschen,
						auf das Erscheinen von etwas Neuem in der Welt also. Das Gedicht beginnt mit einer
						Aufzählung von Attributen dieser Welt, in die der geboren werdende Mensch
						kommt: Kabel, Nadeln, Pappmaché-nierenschalen, später eine Stahltür, auf
						die noch zurückzukommen sein wird, aber auch Infusion, spritzen, schneiden.
						Es ist eine rein technische Welt, die mit ihren Techniken bis in den Körper der
						Gebärenden hinein reicht, nichts ist da zunächst vorhanden, was von der Natur
						kommt, nur vom Menschen Gemachtes, nur künstlich-technische Artefakte und
						Handlungen, eine zweite Natur, die uns zur ersten geworden ist, bestimmt diese
						‚Welt‘. Wäre die Geburt ohne diese Technizität leichter, wäre sie schwerer,
						eine andere? Das bleibt offen. Es wird aber schnell deutlich, dass dieses
						Ereignis, das wir Geburt oder „zur Welt“ Kommen nennen, ein eminent soziales
						Ereignis ist: denn von Anfeuerungsrufen, wenn auch von weit her
						wird berichtet, von fremden, desinfizierten Händen. Ohne Hilfe von
						Menschen, die sich in diesem technischen Raum befinden, und sei dies allein die
						Mutter, die liegt und schreit, kommt kein Mensch „zur Welt“, weiß die Dichterin.
						Anders als Heidegger behauptet, so können wir die Szene verstehen, wird der
						Mensch nicht in die Welt „geworfen“, sondern geleitet (Hanna Arendt). 
						
						Ihre Schreie beschreibt die Gebärende als jenseits von
						Stil und Hochsprache, will heißen: Mit Worten kann dieses zur-Welt-Kommen
						nicht erfasst, begriffen oder ausgehalten werden. Schreie sind vorsprachlich,
						stammen aus dem Unverfügbaren, aus den Tiefen der Menschen, sind demnach
						Bestandteil seiner Ersten Natur. Es kommen weitere Attribute der
						nichttechnischen, also vom Menschen nicht beherrschten und beherrschbaren Welt
						hinzu: Galaktische Geisterteilchen, berichtet die Gebärende, durchkreuzten
						unentwegt ihren Körper. Und damit auch: den in die Welt kommenden Körper.
						Natürlich (!) kann es sich dabei um messbare Neutrinos handeln, die immer und
						überall widerstandslos alles durchdringen und die häufigsten Elementarteilchen
						im Universum sind. Die aber spüren und fühlen wir nicht. Die von der Gebärenden
						wahrgenommenen Geisterteilchen sind hingegen wohl mehr. Sie beschreiben,
						dass das Ereignis der Geburt einen nichtmateriellen (Geist) Anteil hat, dass
						jenseits rein körperlicher, naturwissenschaftlicher Erkenntnis hier etwas geschieht
						und vor sich geht. Ist es übertrieben, die Geisterteilchen als bildhafte
						Zeichen einer Art „Beseelung“ der gerade zur-Welt-Kommenden zu deuten, als eine
						Verbindung mit dem Kosmos? 
						
						Am Ende fasst die Dichterin zusammen: in diesem Raum mit
						Stahltür / kam mein Kleines mit Urspurn / und Fell zur Welt. Diese Zeilen
						sind der Kulminationspunkt des Gedichtes und geben Rätsel auf. Und die Stahltür
						veranlasst zu weiteren Assoziationen (Höhlenausgang, stählerner Schutz vor
						der Lebenswelt draußen, die das „Kleine“ nicht aus freier Entscheidung gewählt
						hat, in die es dennoch wird hineintreten müssen – „Das Dilemma der Höhle ist,
						dass sich zwar in ihr Leben, nicht aber Lebensunterhalt finden lässt.“ [Hans
						Blumenberg]), - demgegenüber bietet das Wort „Urspurn“ beim ersten Lesen nur
						die gedankliche Verbindung zu ‚Ursprung‘. Darüber hinaus stehen wir vor einem nicht
						aufklärbaren Rätsel. Der Verfasser dieser Zeilen hat jedenfalls nichts zu
						diesem Wort gefunden; im Internet gibt es den Verweis auf eben dieses Gedicht!
						(Und in einer ganz versteckten Stelle einen ganz offensichtlichen Verschreiber,
						wo es tatsächlich ‚Ursprung‘ hätte heißen müssen). Wie auch immer: Die Autorin verwendet
						ein neues Wort, das viel mehr bedeutet als ‚Ursprung‘. In ihm kann, wer will,
						alles zusammengefasst sehen: Den zu Beginn erwähnten, nicht erinnerbaren Anfang
						des eigenen Anfangs, die Einmaligkeit des Vorgangs, die Unverwechselbarkeit des
						neuen Menschen, die Kontingenz und Evidenz seines zur-Welt-Kommens usw. Und das
						Fell, in dem das Kleine schließlich zur Welt kommt, mag für das ganz
						Alte, Vormenschliche, Tierähnliche stehen, auch für Eigenschutz, für Wärme. Das
						Fell ist ein weiteres Attribut der ersten Natur des Menschen, die sich am Ende
						gegen die von uns geschaffene zweite, technische Natur behauptet. 
						
						So ist der Autorin eine spannende poetische Erzählung der Natalität
						gelungen, die angesichts des aktuellen Fertilitätsgeredes, des grassierenden
						Machbarkeitskultes, des Traumes transhumaner Entitäten und
						Übermaschinenmenschen, Anlass gibt, prinzipiell wieder nach der Geburt und damit
						wieder nach der unverwechselbaren Natur des Menschen zu fragen.
						
						 
 
