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Kerstin Becker: Das gesamte hungrige Dunkel ringsum

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Beate Tröger

Kerstin Becker: Das gesamte hungrige Dunkel ringsum. Gedichte. Dresden (Edition Azur) 2022. 72 Seiten. 18,00 Euro.

Oh wunderliche, widersprüchliche Welt

Kerstin Beckers Gedichtband „Das gesamte hungrige Dunkel ringsum“ vermisst ein beträchtliches Schmerz- und Schönheitsspektrum


Das Glück von Gedichten liegt auch im Ausmaß der präzisen Offenheit, in die sie ihre Leser:innen führen. Wie schwierig es ist, zwischen Genauigkeit und Vieldeutigkeit eine Balance zu finden, bemerkt, wer ein misslungenes Gedicht vor sich hat. Gelingen Gedichte dagegen, so ist es ein wenig, als würde man einem Seiltanz der Sprache beiwohnen: man sieht zu, wie sich das Gedicht Wort für Wort über einem Abgrund vorwärtsbewegt, gespannt, konzentriert und zugleich voller Leichtigkeit.
      Der Titel des Bandes „Das gesamte hungrige Dunkel ringsum“ legt auch eine Deutung nahe, die um genau diese Spannung weiß. Er lässt sich aber auch umgekehrt lesen, gleichsam wie eine Antwort auf Paul Celans berühmte Verszeile: „Ein Stern hat wohl noch Licht“, aus dem Gedicht „Engführung“. Gegen das gesamte hungrige Dunkel ringsum in Beckers Gedichten leuchtet das sprechende Ich an, seine Stimme glimmt wie eine brennende Kerze, lebendig, auch manchmal zart flackernd. Gleich Lichtern einer Kerze erhellen diese Gedichte etwas, und sie weisen noch manches Mal hin auf Celans Werk. Schon das Motto, das aus „Die große Frage“ des Kinderbuchautors Wolf Erlbruch entnommen ist, das lautet „Sagt der Stein: Du bist da um zu sein“ kann auch wie ein Meridian, wie eine immaterielle Verbindungslinie sowohl zu Celans Gedicht „Zuversicht“ mit dem Vers „als gäb es, weil Stein ist, noch Brüder », wie auch zu dem Vers „Es wird Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt“ aus Celans „Corona“ gelesen werden. Ein weiteres Echo auf „Corona“ wäre auch in Kerstin Beckers Gedicht „der erste Abend in der Außenwelt fließt“ auszumachen, das endet mit den auf den aus „Corona“ bekannten Versen „aus der Hand frißt der Herbst uns sein Blatt, wir sind Freunde“.
 
Bei Becker wird daraus

Maria schließt den Lebensmittelladen ab und er zerfällt
sie ist entfernt mit uns verwandt
solang sie lebt schaut sie stark an
der Flasche hängend war
aus uns wird Zeit
frisst uns
aus der Hand          

Und mit diesen Versen sind wir nicht nur inmitten ganz bestimmter Winkel der Welt, die Kerstin Beckers Band auch erkundet, nämlich dem Winkel einer kleinen Ladenfrau, oder der Putztruppe, die in dem Gedicht „Chor“ auftaucht, nach dem der zweite der insgesamt vier Teile des Bandes benannt ist: „unscheinbar ist unsere Art / wir atmen feinsten Staub auf den Verwaltungsfluren“, oder dem Winkel der den Maschinenarbeitern, die für die Norm sorgen, aber auch den Winkel der durch Behinderung oder psychische Labilität von herrschenden Normen Abweichenden.

Wir bemerken mit den hier zitierten Versen aber auch die weit gespannte Polyvalenz der Gedichte, die diese innere Span-nung durch Enjambements und mehrfache Bezüglichkeiten aufbauen. Diskret setzen die Gedichte im Formalen auch den Reim ein, wie etwa in „verwandt“ und „Hand“, und erweisen sich dabei als sehr geschickt. Bei aller Konventionalitäts-vorwürfe, die sich Reime im 21. Jahrhundert gefallen lassen müssen, und bei allem, was an gereimtem Material in einem Gedicht allzu vertraut wirken könnte, vermögen Beckers Gedichte auch hier die Balance gegen die Gefahr des Absturzes ins Abgegriffene behaupten.

Gegliedert ist „Das ganze hungrige Dunkel rundum“ mit seinen insgesamt 51 Gedichten in vier Abschnitte: „Flaum“, der bereits erwähnte „Chor“, „Minne“ und „Wolle“. Und während in „Flaum“ vom positiven Schwangerschaftstest („Evatest“), einem Geburtsszenario in einer „Schamszenerie jenseits von Stil und Hochsprache“ in „Zur Welt“ die Rede ist, schließt sich mit „Wolle“ nicht nur ein Bogen zum „Flaum“ des Anfangs. Es rundet sich auch traurig mit dem Tod und Sterben der Mutter des lyrischen Ichs in den beiden letzten, zärtlichen, intimen, von Schmerz und Liebe gesättigten Gedichten „Watte Wolle“ und „als Mutter in den Morgenstunden stirbt“ der Kreislauf nicht nur eines ganz bestimmten Lebens, sondern im Kontext des Bandes auch das Unabänderliche von Werden und Vergehen jedes Menschen.

Und dazwischen? Zwischen Geburt und Tod liegt bekanntlich die ganze Fülle des Lebens, und so finden sich auch in diesem Band so gleichermaßen lebens- und liebensdurchpulste, lebens- und liebensrichtungszögernde Gedichte wie „Minne“ oder „Gefüge“ oder das im Spätsommer situierte „Verlangen“. Es endet mit „und wir wollen so brennend / und wissen nicht was nicht wohin“. Es finden sich Gedichte über den facettenreichen Wahnsinn einer „Scardanella“. Zu lesen sind auch liebevoll naturmagische Verse auf den „Holunder“ in seiner physischen Fülle wie auch der Fülle der kulturgeschichtlichen Zuschreibungen oder ein Loblieb auf das „Mittjunilicht“.

Bleibt man beim Bild der brennenden Kerze, die das gesamte hungrige Dunkel um sich herum kennt, kann man auch sagen: Viele dieser Verse lodern beim Lesen jäh auf, eines der Gedichte trägt auch diesen Titel „Jäh“. Die Stimme, die in diesem Band spricht, findet Worte für vieles von dem, was weh tut, was wütend macht, was wahr ist und was unabänderlich. In ihrer Komik sind die Gedichte hin und wieder grell leuchtend wie in dem Gedicht „Revue“ über ein Besäufnis von Arbeitern nach Schichtende, in ihrer Zugewandtheit sind sie geradezu verlässlich zärtlich. Der Band wurde unter die Lyrikempfehlungen des Jahres 2022 aufgenommen. Eine sehr verdiente Entscheidung.


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