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Kenah Cusanit: aus Papier

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Mario Osterland


Von oben sieht alles größer aus



Es scheint so als gehe Kenah Cusanit mit ihrem Debut erst einmal einen Schritt zurück. Heute, da fast alle von der Digitalisierung der Kunst, vom E-Book und der Internetliteratur sprechen, wirkt der Titel ihres Bandes aus Papier anachronistisch. Doch dieser Eindruck bestätigt sich nur, wenn man die 27 Gedichte auf so leichte Art und Weise liest, wie sie mitunter daherkommen. Denn es geht in ihnen immer wieder um das Flüchtige, den Wind, den Himmel und die Wolken. Der Fokus liegt meist auf der Natur, ohne dass Cusanits Texte auch nur ansatzweise als Naturlyrik zu verstehen wären. Vielmehr stellt sich die Frage, was Natur und Kultur sind. In welchem Verhältnis beide zueinander stehen, welche Verbindungen sie eingehen und was für Orte dabei geschaffen werden.

So zum Beispiel in dem Gedicht dein Haus:


Engt die Natur hier ein, zwingt sie zur Anpassung oder ermöglicht sie eine Weiterentwicklung? Die Bäume streben zur Sonne, das „Du“ verzweigt sich, wird vielschichtiger. Ob die Natur Bedrohung, Voraussetzung oder Chance ist, hängt vom Standpunkt ab. Um die Frage endgültig zu beantworten, was utopisch erscheint, müsste man sich einen Überblick verschaffen. Vielleicht ist das der Grund, warum vieles in diesen Gedichten nach oben drängt. „es gibt jetzt nur noch, das weißt du ganz genau, die Möglichkeit, nach oben zu springen auf diesem Weg, sozusagen, uns durch die Luft zu bringen. […] wer wollte, dieser Welt, nicht auffangen, was als Gold  v o m   H i m m e l fällt.“

Der Himmel ist bei Cusanit ein Ort der Verheißung, ohne die kleinste religiöse Verklärung. Er scheint schlichtweg der einzige Ort, die einzige Sphäre zu sein, der man sich sicher sein kann. Doch wie kann man sie erreichen? In vom Himmel ist es Don Quixotes Rosinante, die den Sprung nach oben wagen soll. Ein Hinweis darauf, dass die Welt der Fiktion ein Schlüssel zum Verständnis bzw. zur Handhabung dessen sein kann, was man gemeinhin als „Realität“ bezeichnet. Es scheint zumindest eine Möglichkeit zu sein. Und doch ist das Blatt Papier, das im heimlichen Titelgedicht und noch eins über den Baumkronen in den Himmel aufschwebt, leer.


Vielleicht lässt sich das Geheimnis lüften, indem man das Blatt beschriftet. Vielleicht lässt sich die Natur mit der Kulturtechnik Schrift erklären, sich ausschmücken zur Fiktion, um ihr so habhaft zu werden.

Kenah Cusanits Gedichte lassen viel Raum zur Interpretation und zum Weiterdenken ihrer Ideenwelt. Der leichte, prosaische Duktus, der die Poesie der Texte manchmal erst auf den zweiten Blick freigibt, unterstreicht den Kontrast zwischen dem Gewachsenen und dem Geformten.  Sie regen dazu an, das Verhältnis beider mit eigenen Erfahrungen zu überprüfen, abzuwägen, welche Kategorien das Leben prägen oder prägen sollen.



Kenah Cusanit: aus Papier. Gedichte. Berlin (hochroth Verlag) 2014. 36 Seiten. 6,00 Euro.

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