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Keith Waldrop: gravitationen 1

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Armin Steigenberger

Ich denke, ja ich / denke, dieser / Maschinenkram ist unserer


In Kürze erscheint gravitationen 2, deshalb sei hier noch einmal auf den Band gravitationen 1 hingewiesen, der Gedichte des amerikanische Dichters Keith Waldrop aus den Jahren 1968 bis 1997 versammelt. Der Band 11 der reihe staben, der wie immer sehr reizvoll gemachten Ausgabe aus dem gutleut verlag, Dezember 2017 erschienen, ist eine Sammlung von Gedichten Keith Waldrops, der in Deutschland bislang nur wenig Beachtung fand. Der Umschlag hat eine angenehm rostrote Farbe, das Buch liegt gut in der Hand. Auf dem aufgeklappten Umschlag sehe ich ein Sich-Überkreuzen von Rhomben und ähnlichen Strukturen. Es könnte eine Anspielung auf Waldrops Band Several Gravities (2009)¹ sein, der auch vom Titel her dieser Anthologie ähnelt.

Gravity

disappearing, you
complete the night


Schwerkraft

verschwindend, du
vollbringe die nacht

Dieser Text schmückt in „harten“ Versalien den oberen Rand des gefalteten Posters, mit dem die gutleut-Bücher eingeschlagen sind, und ist zugleich der Eingangstext des Bandes. Auf der Innenseite des Posters findet sich eine Reflexion von Keith Waldrop zur Entstehung seiner Bücher. Dieser Text, den ich erst nach der Buchlektüre las, gibt einige Hinweise, inwiefern auch bildnerisch tätige Künstler wie Max Ernst und Kurt Schwitters Einflüsse auf Keith Waldrop hatten.

Den heißeren Teil des Frühjahrs und den ganzen beginnenden Sommer lang habe ich, meist im Schatten von Pappel- und Kastanienbäumen, Gedichte aus gravitationen 1 auf mich wirken lassen, einige immer wieder von neuem – und war unterm Strich sehr angetan. Nie zuvor hatte ich Keith Waldrop gelesen, und meine Erwartung war dementsprechend hoch. Ich war sehr gespannt, denn immerhin hatte ich einiges darüber gehört. Im Idealfall wachsen mir neue Antennen.

Vor allem die früheren Texte leben vom mehrmals Lesen, sind geradezu mantraartig und lassen sich erst durch mehrfache Lektüre (sagen wir:) aneignen – auch im Kontext der anderen Gedichte aus denselben Zyklen. So entstehen nach und nach größere, komplexere Gesamtbilder. Einige von ihnen sind haikuartig kurz und reiben sich (wie der Zyklus Hatful of Flood / Ein Hut voll Flut), da, wo die Texte sich in drei Verszeilen organisieren, auch an diesem Format. Es gibt auch lange Texte, die – so scheint es – noch während der Lektüre sich umentscheiden, was sie werden wollen, laufen woanders hin, schlagen Haken, bringen plaudernd Einschübe, winden sich schlangenartig in langen Sätzen und werden an anderer Stelle wieder atemberaubend kurz und lakonisch.

Die Anthologie, herausgegeben von Jan Kuhlbrodt und David Frühauf, zeigt sehr greifbar, wie heterogen und gleichzeitig komplex Keith Waldrops Dichtung ist.

Aus Muskel über dem Verstand:

These I

Sonnenlicht – ja. Ja,
es ist
da.

Dinge
fallen auseinander. Meine
Augen brennen.

Dunkelheit. Undeutlich
klingend.                       

Zwei
Erkenntnisse: (1) nicht
stolpern, (2) nicht
bewegen.

Schau auf Zehen-
spitzen. Höre
im Liegen,
mit angehaltenem Atem.

Unter 60 Watt. Schreib:

Was
kann ich hier
locken?
Eingänge

Ich bin
überholt worden
von
Meinem.

Eine mögliche Interpretation.

Gerichtet an
ein bestimmtes
Verhalten.

Folgen
gelingt.

Diese Worte auf
Bewährung.
                                                                 
Immer sind Waldrops Dichtungen einen Tick experimenteller und laufen in weiten Teilen woanders hin als man anfangs erwartet.
 
Ab den späten 1970er Jahren haben die Gedichte zunehmend sehr spontane Elemente, fallen sich selbst ins Wort, werden korrigiert, wirken auch tagebuchhaft und sehr persönlich. Florian Kessler sagte kürzlich über Elke Erb, sie mache „genau das Gegenteil, lullt eben gerade nicht ein, sondern reißt die Bettdecke von den Texten weg, fällt sich selbst ins Wort“ und zeige damit eine „politisch wache Einstellung zu Lyrik“. All das trifft auch auf Keith Waldrop zu.
 
Es scheinen sich z.B. im Gedicht Kommunikation Essaypartikel und Reflexionen über den eigenen Schreibakt beständig zu durchkreuzen. Einiges wirkt, wie bei der Erwähnung der Teesorte Earl Grey, wider besseres Wissen aufgeschrieben². Und dennoch reizvoll.
 
Kommunikation

Kaum ist der Tee in meiner Teetasse
und Rosmarie hat es sich auf der anderen Seite
des Raums in Prousts Welt bequem
gemacht, beginne ich auf dem Papier herumzukratzen
auf der Suche nach so etwas wie Eleganz

(…)

wie man auch bei Earl Grey, wer auch immer
das war, davon ausgehen kann, dass er
eine herbe, doch aromatische Mischung schätzte

(…)

Ansonsten gibt es, im Moment, nichts
mitzuteilen

1975 passierte eine Art Anverwandlung. Die Texte werden kürzer, sentenzenhaft prosaisch, andere „in Spaghettistruktur“, die uns heute zu barock und gleichzeitig zu schwammig weil sehr allgemein vorkommen und die mit einem Riesenanspruch teils (zu) große Interpretationsräume öffnen – bis hin zum Universum, damals ein sehr vertrauter und gern genommener Topos – auch hier könnte man Anklänge und Parallelen herstellen zu Texten von Kerouac, wie z.B. aus den 66 Prosagedichten (= durchnummerierte Prosasentenzen, die den Geist des Buddhismus für die westliche Welt transportieren möchten), veröffentlicht unter dem Titel The Scripture of the Golden Eternity³ (1960), wo Sätze wie „all is bliss“ usw. eine ganze Verszeile füllen. Die Nummerierung von Einzelpassagen wird auch in späteren Gedichten beibehalten.

Sehr ähnlich ist Waldrops Gedicht The Cake He Typed strukturiert. Hier ausnahmsweise der englische Part:

1
also in supernatural like

2
close out and dimension

3
cosmic whatever was eaten

4
eagle ultra
 
5
electricity his bride agrees

6
in the  leave

7
Jezebel systems

8
medical fallen thinking

In diesem zyklischen Text aber scheint genau das, was bei Kerouac noch schwärmerisch im „Flowerpowermode“ besungen wird, schon am Beginn der Auflösung zu sein.

Die teils sehr subjektiven Momentaufnahmen, die spontan und impressiv sind, drehen sich meistens um ein Ich, das dahinter oft verwundert, auch über sich selbst verwundert, spontan und geradezu sprunghaft agiert und sich, sagen wir, beim Denken ertappt, was wiederum neue Gedankenbewegungen auslöst.

Aus dem englischen Original, Motion Discomfort:

(...)
And I am thinking over, in my
vague way, some of the possible relations
between this body, those clouds, that
ocean down there.

I‘m a bit uncomfortable, but not
really scared. Nothing, in a realm so
purely conjectural, can actually hurt.
(…)

In den meisten Texten gibt es dennoch ein durchgängig starkes Ich, das sich auch in den Texten von 1997 kaum zurücknimmt, so wie es heute gang und gäbe ist. Wo heute häufig ein starkes und polarisierendes Wir in den Gedichten vorherrscht oder ein Chor lyrischer Personen oder überhaupt kein Personalpronomen sichtbar bzw. spürbar ist, gibt es in fast allen Gedichten Waldrops ein dominantes Ich, auch in den Prosatexten in der Sammlung als „inneres“ Zentrum, um das sich alles dreht. Es bringt sich immer ins Spiel, relativiert, hinterfragt, umspielt und konterkariert seine Umwelt und sich selbst, ganz als wisse es immer (und ganz authentisch während des Schreibakts) um seine mehrstimmigen Instanzen. Ausnahmen wie The Cake He Typed bestätigen die Regel.

Die Übertragung ins Deutsche – hier war ein Team am Werk, das tolle Arbeit geleistet hat: David Frühauf, Tim Holland, Jan Kuhlbrodt, Swantje Lichtenstein, Peggy Neidel, und Barbara Tax – holen für meine Begriffe das beste heraus, gerade da, wo es um vielschichtige Konnotationen und Vielstimmigkeit geht. Vieles wird von Waldrop nur angerissen und gestreift, und manche dieser Sprachspiele sind einfach genuin und unübersetzbar. An ein paar Stellen habe ich gestutzt, da ich immer erst links das Original las, bevor ich mich erwartungsvoll (und -froh) auf die deutsche Übersetzung stürzte. In einigen wenigen Fällen war ich dennoch etwas irritiert. Z.B. im Gedicht An Rosmarie in Bad Kissingen scheint mir der Subtext, dass hier mit Krautfresser-Quasimodos auf die Krauts, also den Schimpfnamen der Deutschen, angespielt wird, gerade in Kombination mit den nachfolgenden Glockenspielen nicht so recht eingefangen zu sein. Zumal Keith Waldrop durch seine Frau Rosmarie, die deutsch-amerikanische Dichterin, immer einen Bezug zum Deutschen (und dessen historisch problematischen Aspekten) hat.

Sprachspiele wie My Nodebook - auch das ist im Deutschen schwer wiederzugeben, da in „node“ auch „nude“ steckt, ein Notizbuch also, mit dem sich der Autor „nackig“ macht. Was ja dann auch tatsächlich stimmt, sofern er mimetisch über sein Schreiben reflektiert. Es scheint mir insgesamt ein wesentlicher Bestandteil von Waldrops Gedichten zu sein, dass oft „auf der Rückseite“ seiner Wortspiele noch andere Konnotationen mitschwingen, die sich sehr schwer mitübersetzen lassen. So z.B. beim Zyklustitel Hatful of Flood vermisse ich in der Übersetzung Ein Hut voll Flut das mitschwingende hateful, das man eingangs versehentlich liest, und empfinde den von Waldrop tatsächlich nicht intendierten Reim (Hut/Flut), der sich allerdings auch schwer „umschiffen lässt“, als irritierend.

Je kürzer ein Text, desto mehr Möglichkeiten gibt es, ihn zu interpretieren. Hier besteht eine Bandbreite an Interpretationen; die Übersetzung wird in einigen Fällen knifflig.

Still on the surface.

Oberflächlich ruhig.

Bei diesem Einzeiler inmitten eines Zyklus, wie diesem hier, auch wegen des am Versanfang betonten still, kam ich ins Wanken. Google beispielsweise übersetzt den Vers kompromisslos mit „Immer noch an der Oberfläche” - was sich auch eher mit meiner Wahrnehmung deckt, obwohl Waldrop die Oberfläche bewusst schillern lässt. Es ist still. Es ist noch alles unbewegt, bislang. Jede „Sentenz“ steht im Zusammenhang zu den vorausgehenden und den nachfolgenden. Und bringt auch hier noch weitere Konnotationen hinzu. Je verkürzter es ist, desto schwerer wird die Übertragung.

Bei Keith Waldrop kommt einiges zusammen. Er beherrscht viele poetische Sprechweisen, es scheint, als habe er Lyrik „mal so richtig durchdekliniert“, in all ihren Spielarten gezeigt, was da möglich ist, auch formal zeigt er die knappestmögliche Form neben eloquentem Parlando. Und ist dennoch nie – wie diejenigen gerne sagen, die mit allzu experimentellen Literaturen nichts anfangen können – „inkommensurabel“. Man könnte auch sagen: Das Sprachgenerierte steht nicht allzu sehr im Vordergrund.

Sehr eingenommen war ich von den prosaischen Texten in Hegel‘s Family von 1989, die oft in einem Zweizeiler in wörtlicher bzw. schriftlich festgehaltener Rede enden.

VII

Nach einem heftigen Streit, der in Handgreiflichkeiten endete, verließ
eine Frau ihren Liebhaber. Nach nur wenigen Tagen kehrte sie jedoch
zu ihm zurück, und etwas später schrieb sie diese Zeilen:

„Der Aufstieg so schwierig, schwor ich, nicht weiter zu gehen,
Doch wegen des Nebels war der Rückweg schon nicht mehr zu sehen.“
 
Auch wenn es im Grunde zu Keith Waldrop nichts einschneidend Neues zu sagen gibt, war die Sammlung für mich doch eine reiche, ergiebige Lektüre. Sie zeigt einen Querschnitt und kann vielleicht sogar mehr als ein einzelner Waldrop-Band. Es kommt darauf an, wie man einen Gedichtband beiseitelegt ... irritiert, verstört, angenehm überrascht, euphorisiert –  oder von allem ein bisschen etwas? Mir sind bei der Lektüre ein paar neue Antennen gewachsen. Ich freue mich sehr auf den zweiten Band.

¹  https://books.google.de/books/about/Several_Gravities.html?id=gnRVPgAACAAJ&source=kp_cover&redir_esc=y
² Die Teesorte Earl Grey ist, wie behauptet wird, durch versehentliches Auskippen von Bergamottefässern in der Nähe von Teesäcken als Zufallsprodukt entstanden. https://de.wikipedia.org/wiki/Earl_Grey_(Tee)
³ http://www.prahlad.org/disciples/scripture_of_the_golden_eternity.htm
 Übersetzt mit: Und ich denke nach, in meiner ungenauen Art, / über einige der möglichen Beziehungen / zwischen diesem Körper, diesen Wolken / und dem Meer da unten. // ich fühle mich ein bisschen unwohl, aber habe nicht wirklich Angst. Nichts kann an diesem Ort / reiner Vermutungen wirklich verletzen. (...)
 Ubersetzt mit Mein Knotenbuch.

Keith Waldrop: gravitationen 1. Ausgewählte Gedichte (1968 – 1997). Frankfurt a.M. (gutleut verlag – reihe staben) 2017. 156 Seiten. 23,00 Euro.
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