Kaveh Akbar: Den Wolf einen Wolf nennen
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Stefan Hölscher
Kaveh Akbar: Den Wolf
einen Wolf nennen. Gedichte. Englisch / Deutsch. Übersetzt von Jürgen Brôcan. Berlin (Hanser Berlin) 2021. 192 Seiten. 20,00 Euro.
Leidenschaft mit
Dissonanzaroma
Pirschen wir uns langsam heran und beginnen
beim Deskriptiven: Der jetzt in der Übersetzung von Jürgen
Brôcan bei Hanser Berlin publizierte Lyrikband „Den Wolf einen Wolf nennen“
ist das Debüt des 1989 im Iran geborenen und in den USA lebenden Dichters Kaveh
Akbar. Im Original ist der Band schon 2017 erschienen. Er enthält die Kapitel I. Toter Punkt (Terminal), II. Hunger
(Hunger) und III. Eisen (Irons),
die sich in der zweisprachigen Hanser Ausgabe auf knapp 180 Seiten erstrecken.
Bevor die Lesenden in die Lektüre einsteigen,
können sie auf der Coverrückseite erfahren, dass John Green die Gedichte Akbars
„schlichtweg brillant“ nennt und Roxane Gay über das Buch sagt: „Ein
herausragender Gedichtband. Unverkennbar eigen und von großer Schönheit.“ Flankiert
werden derlei Lobeshymnen durch den „Waschzettel“ zum Buch, in dem der Verlag
angibt: „Wenn Kaveh Akbar über Liebe und Begehren schreibt, über Herkunft und
Identität und immer wieder über den qualvollen Kampf mit der eigenen
Alkoholsucht, entsteht leidenschaftliche Lyrik von fast ungebremster
emotionaler Wucht, gefasst in einer vollkommen eigenen Sprache. Gedichte eines mit
sich, Gott und der Welt Ringenden, der die Finsternis kennt und die Schönheit
leuchten lässt.“
Das Podest, auf dem die
Gedichte den Lesenden begegnen, ist also kein ganz niedriges, sodass man/frau
sich gut überlegen wird, bei der Lektüre zu einem weniger überschwänglichen
Urteil zu kommen. Und liebe Leser*innen, wenn Sie nun denken: Hier kommts jetzt
aber gleich, das andere Urteil, das kritische, vielleicht sogar der kühne Verriss:
so muss ich Sie gleich enttäuschen. Er kommt nicht. Was aber kommt, sind ein
paar Fragen oder Zweifel. Wie wir Psycholog*innen sagen: kognitive
Dissonanzphänomene, die mich bei der Lektüre der Texte begleiten und mit denen
ich auch nach getaner Lektüre zurückbleibe.
Gerade deshalb möchte ich aber noch einmal zum eher
Deskriptiven zurückkehren. Was kann man, ohne sich primär wertend weit aus
irgendwelchen Fenstern zu hängen, über das Buch und die darin enthaltenen
Gedichte sagen?
Ganz sicher kann man
Akbar eine schonungslose Offenheit attestieren: gegenüber seinem Alkoholismus,
schuldhaften Verstrickungen, Selbstzweifeln, autoaggressiven Handlungen und
vielem mehr, was das eigene Innenleben betrifft. Und ganz sicher sind Akbars
Gedichte weder larmoyant, noch exhibitionistisch, noch sonst irgendwie
psychologisch verquast. Und sie sind auch nicht in irgendeiner Weise
abgegriffen. Im Gegenteil: Akbar findet für das, was er ausdrückt, eine
ausgeprägt eigene Sprache, eine Sprache, die einerseits sehr nah an
gesprochener Umgangssprache liegt, die aber gleichzeitig einem stark
assoziativen Fluss folgt und geprägt ist von einer schier überquellenden Fülle
kraftvoller und eigensinniger Bilder, deren Wurzeln ebenso in den Traditionen
arabischer und persischer Lyrik wie auch im mutigen Zugang zum Unterschwellig-,
Vor- und Unter-Bewussten liegen. Es sind dabei immer wieder ähnliche
Bildbereiche, aus denen Akbar schöpft und aus denen er ebenso
normal-umgangssprachliche wie auch höchst ungewöhnliche Wendungen in Szene
setzt. Zum Beispiel:
Wasser:
„Meeresbrocken“, „schlickbraunes Wasser“,
„Tinte in unserem Fluss“, „schwarzes Wasser“ oder
Steine:
„Lapislazuli“, „Diamanten“, “Haufen
Edelsteine“, „Steinatem“, „Quarz“, „Mühlstein“ oder
Körperteile:
„Kiefer“, „Pupillen“, „Münder“,
„bleichgeblähter Bauch“, „Flüssigkeit in deinem Schädel“, „der Knochen in der
Luftröhre eines Kindes“, „Gesichtsmuskel lehmverschmiert“, „Hörner die sich aus
meinem Schädel schrauben“, „gekochte Oberschenkelknochen“, „der Schoß ein
kalter Brei aus geschredderten Zungen“, „ein verprügelter Kiefer“ oder
Zähne:
„Reißzähne“, „stopfte mir Glühwürmchen träge
zwischen die Zähne“ etc.
Es sind immer wieder aber auch Verbindungen dieser
Bildbereiche, die Akbar herstellt: „eine einzelne Zunge in einem Sack voller
Zähne zu sein“, „möchte alle meine Zähne ausreißen um sie durch Edelsteine zu
ersetzen“, „eine Pastille aus geschmolzenem Erz auf deiner Zunge“, „wie ein
Fisch der plötzlich Luft durch seine Augen atmet“, „meine juwelenbesetzten
Hörner“ etc.
So wie eine eigene Bildersprache zeichnet Akbars
Gedichte auch ein ganz eigener Ton aus, ein Ton, der zwischen Selbstgespräch,
Bekenntnis, Gebet, Dialog und metaphysisch-poetischer Reflexion changiert. In
den Texten äußert sich zwar permanent das dem Ich des Autors offensichtlich
sehr nahe lyrische Ich, und die Texte sprechen auch permanent über dieses Ich,
sein Begehren, sein Phantasieren, seine Suchtexzesse, seine Selbstvorwürfe,
Selbstberuhigungen und Identitätsfragen; sie sprechen aber zugleich auch über
Gott, die Welt, den Menschen schlechthin und die Natur. Man könnte also sagen:
über das ganze Themenfeld von Philosophie und Religion. Und all dies auf sehr
besondere Weise:
Hör zu, treue Stille: irgendwie sind wirzu Fremden geworden. Als ich heranwuchs,hielt ich eine Hausfliege an einem Faden an der Lampe.Ich fütterte sie mit nassen Tic Tacs und glaubte vergeblich,sie würde mich überleben. Als sie starb,öffnete ich mich dem Tod, wie ein umgestürzter Baumsich der Wildnis öffnet. Jetzt trocknetmein Blut auf dem Kissen. Jetzt ist der Mann,der das Messer hielt, fort, anderswound ungestillt. Ich kann mich kaum an ihnerinnern
Listen to me, faithful silence: somehow / we’ve become strangers. Growing up // kept a housefly tied to a string tied to a lamp./ I fed him wet Tic Tacs and idly assumed // he would outlive me. When he died / I opened myself to death, the way a fallen tree // opens itself to the wild. Now my blood / is drying on the pillow. Now the man // who held the knife is gone, elsewhere / and undiminished. I can hardly remember // anything about him.
Immer sprechen diese Texte von Schmerz:
Vorgeführter Schmerz bleibt Schmerz
Performed pain is still pain.
Sie sprechen aber auch von Schönheit:
EIN JUNGE GEHT INS WASSERund natürlich ist er wunderschönGänsehaut auf den Rippen wiekleine Fäuste unterm dünnen Laken das Lakenschlammfeucht und mit Walnussgeschmack
A BOY STEPS INTO THE WATER and of course he’s beautiful / goosebumps over his ribs / like tiny fists under a thin sheet the sheet / all mudwet and taste of walnut
Sie sprechen von einem dem Alkohol zutiefst verfallenen
Ich:
DEN WOLF EINEN WOLF NENNEN (STATIONÄR)ich bin nicht so schrecklich wie ich’s sein könnte ich habe nie ein Haus in Brand gesteckt habe nie ein Erstgeborenes von der Brücke geworfen schon mein ganzes Leben lang habe ich jeden Hilfeschrei mit einem Schluck beantwortet mit einem Abwenden ich gab dieser Kälte viele Namen dachte wenn sie einen Namen hat gäbe es eine Lösung dachte wenn ich den Wolf einen Wolf nenne könnte ich dadurch seine Reißzähne stumpf machen jahrelang trug ich die Kälte wie einen Diamanten herum hielt sie dicht bei mir so nahe wie das Blut bis ich eines Tages erwachte und sie vollständig in mir war wir beide zerstört und unkenntlich zwei Münzen auf einem Gleis vom Zug zerquetscht zu einer
I am less horrible than I could be I’ve never set a house on fire never thrown a firstborn off a bridge still my whole life I answered every cry for help with a pour with a turning away I’ve given this coldness many names thinking if it had a name it would have a solution thinking if I called a wolf a wolf I might dull its fangs I carried the coldness like a diamond for years holding it close near as blood until one day I woke and it was fully inside me both of us ruined and unrecognizable two coins on a train track the train crushed into one
Und sie sprechen von dem, was die Zuflucht des
Ichs ist, von der Jürgen Brôcan in seinem kundigen Nachwort sagt: „Denn die
Sprache ist der Rettungsanker, und sie beginnt mit der Namensgebung der Dinge.“
Vor allem will ich Buchstaben sein – nichtihr Klang, sondern ihre Gestaltauf einer Seite. Es muss beglückend sein,wenn man sofort ein Symbol für alles istder Knochen in der Luftröhre eines Kindes
Mostly I want to be letters – not // their sounds, but their shapes / on a page. It must be exhilarating // to be a symbol for everything at once: / the bone caught in a child’s windpipe
All dies ist unbestreitbar sprachlich extraordinär:
im amerikanischen Original ebenso wie in den trefflichen Übersetzungen Brôcans.
Man kann es, um den „Waschzettel“ noch einmal zu zitieren als „leidenschaftliche
Lyrik von fast ungebremster emotionaler Wucht, gefasst in einer vollkommen
eigenen Sprache“ betrachten. Ja, man kann. Und trotz und alledem muss ich
leider sagen, dass mich persönlich diese Gedichte emotional nur recht wenig
erreicht haben, sodass auch ich als Lesender mit mir gerungen habe, nicht so
existenziell wie das lyrische Ich in den Texten, aber doch auch kontinuierlich.
Ich habe mich gefragt: Sind es mir einfach zu viele Worte, die Akbar da immer
wieder fabriziert? Stört es mich, dass die Gedichte irgendwie immer wieder
dasselbe umkreisen? Stolpere ich über die Vielzahl der „Portraits eines
Alkoholikers“ in dem Buch? Fehlt mir hier etwas von strengerer Form als
Gegenpol zu dem zum Teil geradezu ruppig freien Fließen assoziierter
Bildgefüge? Gehe ich vielleicht nicht tief genug in diese Texte rein?
Ich weiß es letztlich nicht. Vielleicht ist es
ein Bisschen von allem. Und natürlich ist es vor allem mal eines: subjektiv.
Das Gefühl, dass der Funke nicht recht rüberkommt, obwohl da so viel Besonderes
für den lyrisch geschulten Verstand erkennbar ist. Das ist Dissonanz, die
Menschen im Allgemeinen recht schnell und einseitig aufzulösen geneigt sind.
Ein Kennzeichen von Akbar ist, dass er all die extremen Spannungen, über die er
schreibt, in gewisser Weise friedlich neben- und miteinander bestehen lässt. Er
löst sie definitiv nicht auf. Und das werde ich mit meinen Dissonanzen
bezüglich der Lektüre jetzt hier auch nicht tun. Wozu gibt es denn all die
Universen diverser Perspektiven diverser Rezipient*innen?