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Kathrin Niemela: wenn ich asche bin, lerne ich kanji

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Andreas Hutt

Kathrin Niemela: wenn ich asche bin, lerne ich kanji. Köln (Parasitenpresse) 2021. 88 S. 12,00 Euro.  

Menschmosaik
Kathrin Niemelas Gedichtband „wenn ich asche bin, lerne ich kanji“


Mutter Sprache

Ich habe mich
in mich verwandelt
von Augenblick zu Augenblick

in Stücke zersplittert
auf dem Wortweg

Mutter Sprache
setzt mich zusammen

Menschmosaik
Rose Ausländer (zitiert nach www.lyrikline.org)

Wenn man Kathrin Niemelas Debütband liest, hat man den Eindruck, dass die Autorin auf eine ähnliche Art und Weise arbeitet, wie es in Rose Ausländers Gedicht „Mutter Sprache“ thematisiert wird. Ein wahrnehmendes Ich zerfällt und setzt sich in der Sprache wieder zusammen. Was dabei entsteht, ist „Menschmosaik“, ein lyrisches Ich, das sprachlich gebrochen gespiegelt wird.
      Am deutlichsten scheint dieses poetische Verfahren im ersten Gedichtzyklus des Bandes „die süße unterm marmeladenschimmel“ sichtbar zu sein, der eine Beziehung des lyrischen Ichs von der ersten Verliebtheit über die Alltagsroutine bis zu Trennung begleitet. Dass diese oft dagewesene Thematik nicht in Klischees versinkt, ist der Sprache Niemelas zu verdanken, die mittels Leerstellen, Metaphern („wir sitzen unverlinkt“ – Gedicht 14 oder „du fällst aus dem gras/ in die handlung“ – Gedicht 1), Neologismen (sperrangelnah, lollipoptagen, des überliebens) und Auflösung des Dargestellten in Details die gängigen Stereotype genügend bricht, um dem Sujet Neues hinzuzufügen. Dabei unterliegen Niemelas Gedichte einer permanenten sprachlicher Gegenwärtigkeit. Ihr lyrisches Ich bzw. Wir bewegt sich im hier und jetzt, scrollt zum Beispiel „am sommer“ (Gedicht 8) und sucht Gesichter auf Instagram (Gedicht 9). Die Bestandsaufnahme der Beziehung erfolgt retrospektiv.      

fahren weiter,
verfahren uns um ein haar und
irgendwo biegst du in losigkeit ab,
während ich weiterwate, warte,
und plötzlich warst du diese kleine
wölbung in der mitte, acrilfossil,
ich mache einen screenshot von dir,
das blau ist aus, mir wird ganz zinn,
nicht mehr ortbar, wohin wir driften,
spezieswechsel, schmelzgebiete,
du steckst in meinen
passwords und links.
                       

Die Gedichte in den beiden Kapiteln „die kanne von balzac“ und „anspielen gegen flächenfraß“, die von der Stadt Paris bzw. Orten auf der ganzen Welt angeregt sind, wirken klarer als die Texte des ersten Kapitels. Das lyrische Ich nimmt sich zurück und tritt in erster Linie mosaikhaft durch die Auswahl dessen in Erscheinung, was es interessiert und was vom Wahrgenommenen Eingang in die Gedichte findet, so in ATEMWEGE der Terroranschlag im Bataclan, in AUGUST-SONNTAG MIT BALZAC ein selbtzerstörerisches Verhalten, aber auch die PONT DES ARTS oder VITRINEN von Restaurants bzw. Feinkostgeschäften. Schade, dass manchmal allzu erwartbare Attribute des Landes genutzt werden, das Inspirationsquelle für das Gedicht war (so die SAUDADE, HAFENNAH im Portugal-Gedicht oder Samba, Fußball und Favelas im Brasilien-Gedicht ANFLUG), dass manchmal allzu exzessives Name-Dropping von Lokalkolorit aufgesetzt wirkt (Jobim, Farofa, Kusama, Ch’ung Ch’ing Shih).  
     Im letzten Kapitel ihres Bandes „kuckuckswunden“ setzt sich die Autorin mit der ostpreußischen Herkunft ihrer Familie auseinander. Die vorgenommene VERORTUNG ist so offensichtlich, dass sie zum Gedichttitel erhoben wird. Das lyrische Ich versucht zwischen sich und den Herkunftsorten der Großeltern eine Beziehung herzustellen, indem es das Gesehene interpretiert und mit spärlichen Erzählungen der Familie verknüpft, eine Brücke vom Heutigen zum Vergangenen schlägt.
    Über das Gesagte hinaus ist Schreiben immer eine Standortbestimmung. Diese Selbstpositionierung des lyrischen Ichs in der Sprache und damit verbunden der Autorin ist im gesamten Band „wenn ich asche bin, lerne ich kanji“ spürbar. Wenn diese Standortbestimmung mit einer genügend großen Distanz der Schriftstellerin zum Gedichtgegenstand und formal stimmig vorgenommen wird, wie es Kathrin Niemela gelingt, sind die Gedichte auch gewinn-bringend für die Leserin bzw. den Leser.

AUGUSTSONNTAG MIT BALZAC

wie schläfrig alles wirkt,
als ich in la muette den zug verlasse, paris steht träge
wie ein karpfen im wasser, rührt sich nicht, wartet sich
von fressen zu fressen durchs leben, zuweilen gassigang,
gras rar wie schlaf bei balzac, der sich tot gesoffen hat,
sagt man, fünfzig kaffee lang die arbeitsnacht im
mönchsgewand, aus den augenhöhlen floss tinte,
die cafetière in der vitrine, das also war die
kanne von balzac, der gehstock, die bibliothek

niemand weiß genau, wie spät es ist, wenn es zu spät ist,
in der m9 war es chaussée d’antin – la fayette,
als sich die fixerin auf den boden legte,
rote augen unter schwarzen lidern,
boots mit eisenspitze, kapuze wie die kutte von balzac,
kaputte nebenumstände, die uhren abgetragen

in der kaffeekanne gespiegelt: familien und objektive,
die menschliche komödie spielt in gedachten kathedralen
aus steinen, die beim berühren zerfallen und
sich in starbucksbechern sammeln.


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