Katharina Kohm: Mary McLane - das herrliche Spiegelkabinett oder Die Schönheit weiblichen Sprechens
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Mary MacLane
Das herrliche Spiegelkabinett oder
Die Schönheit weiblichen Sprechens
von
Katharina Kohm
Mary MacLane - ein Name, der in
der kanonisierten Literaturlandschaft bis dato im deutschsprachigen Raum noch
nahezu unbekannt und auch nicht übersetzt war.
Die Wiederentdeckung weiblicher
Autorschaft und deren literarische Erzeugnisse, gerade um 1900, hat schon in den
letzten Jahren die literarische Landschaft bereichert. Mary MacLanes tagebuchartiges
Selbstzeugnis wurde 1902 in Chicago unter dem Titel »The story of Mary MacLane«
publiziert und war ein Überraschungserfolg.
Bis dato liegen nun im
Reclam-Verlag drei Bände Mary MacLane vor, beginnend mit dem 2020 erschienenen
Band: »Ich erwarte die Ankunft des Teufels«. Diesen Titel hatte Mary MacLane
eigentlich für ihr Debut vorgesehen. Übersetzt wurde er von Ann Cotten. Die beiden Folgebände: »Meine
Freundin Annabel Lee« und »Ich« kamen 2021 in der Übersetzung von Mirko Bonné,
der u.a. auch John Keats, den Lieblingsdichter der Autorin, ins Deutsche
übertragen hat, heraus.
Der Überraschungserfolg des Debuts
der damals 19-jährigen Mary MacLane, die in einer Bergbau-Kleinstadt namens
Butte in Montana lebte, begründete ihr Leben als Bohemienne, Schriftstellerin
und Schauspielerin. Es folgte u.a. der Roman »Meine Freundin Annabel Lee« und
der selbstreflexive Tagebuchroman »Ich«, im Alter von 36 Jahren, in dem sie
bewusst ihren Lebensweg reflektiert, sodass man bei dem bisher ins Deutsche
übersetzten und erschienenen Werk auch von einer Trilogie reden kann, einer
Existenz, bei dem sich Poesie und Leben vermischen, eine Art Akkord der
Autofiktion, um von dem negativ konnotierten Begriff des »Tagebuchs« Abstand zu
nehmen.
Hier geht es nicht um ein
weibliches Zeugnis als Belegliteratur zum Spiegel einer Epoche und wie diese
mit Frauen umgeht, oder ähnlichem. Es geht auch nicht um ein amerikanisches
Fräuleinwunder oder ähnliche Separationsversuche.
Es geht um Literatur. Und darum,
wie der Kanon sich jahrzehntelang selbst um herrliche Zeugnisse von ganz
eigener, eigenwilliger Literarizität gebracht hat, einen Aspekt im Schreiben,
für den Mary MacLane zusammen mit Virginia Woolf, mit Hedwig Dohm, Franziska zu
Reventlow und anderen Autorinnen am Beginn des 20. Jahrhunderts steht.
Emanzipation, Gleichziehen und als
Autorin wahrgenommen werden. Es geht um das Selbstbewusstsein, sich den Luxus
und die Notwendigkeit des eigenen Schreibens zuzugestehen.
Dass es sich um ein
tagebuchartiges Schreiben handelt, weist in diesem Zusammenhang auf den Mut
Mary MacLanes hin, auf ihrer Betonung auf ein dezidiert weibliches Sprechen zu
beharren.
Die einzelnen Sequenzen in ihrem
Debut »Ich erwarte die Ankunft des Teufels« werden zwar jeweils mit Datum
überschrieben, dennoch sind es geschlossene Betrachtungen, die nicht
aus-fransen, die geschlossene gedankliche Einheiten bilden und die jeweils unter
einem Kern subsumierbar sind: Mary MacLane selbst. Ein Mikrouniversum, das in der Tat
faszinierender ist als so manche literarische Erzählung über äußere
Begebenheiten und Beziehungskonstellationen.
Mit dem Genre des Tagebuchs setzt
sich Mary MacLane an einer Stelle selbst auseinander und positioniert sich
eindeutig dazu:
»Das hier ist kein Tagebuch. Es ist eine Schilderung. Sie zeigt mein inneres Leben in seiner ganzen Nacktheit. Ich bemühe mich aufs Äußerste, alles darzulegen - jede kleinliche Eitelkeit und Schwäche zu enthüllen, jede Phase des Gefühls, jedes Begehren.«(Ich erwarte die Ankunft des Teufels, S. 47)
Die Beziehung eines Individuums zu
seiner Morgentoilette, zu einer Olive, die auf beinahe oder ganz dezidiert
offen erotische Art und Weise gegessen wird, darauf, aus dem kleinen isolierten
Leben ein Fest zu machen, erinnert an Hemingways berühmte autobiografische
Beschreibung von Paris, nur mit weniger name-dropping, mit weniger
Gewichtigkeit im kulturpolitischen Leben und deren Vernetzung, aber dafür mit
noch mehr ästhetischem Reiz, mit mehr wuchtigem sprachlichem Sex-Appeal, mit
mehr Sinn fürs Detail. Das kleine intime Leben als Fest und als Quälerei. Die
Kunst, Schönheit wahrzunehmen, scheint in allen drei Bänden Triebfeder des
Schreibens zu sein. Eine Ode und Hymne an das Kleine, Verspielte, das kemenatenartig
die Türen öffnet zum Intimsten eines Menschen. Dieses kleine Schloss wird hier
Tür für Tür und Zimmer für Zimmer ausgebreitet.
Stets ist sich Mary MacLane der
Schwierigkeit dieser Betrachtung des kleinen aber auch Vagen und Flüchtigen in dieser
Art des Schreibens bewusst, ihrer eigenen Sprachkrise, da, wo es wirklich
individuell wird, wie an der berühmten Stelle aus Hofmannsthals Brief, dem die
Beschreibung einer Gießkanne nicht gelingt und ihm die Worte »wie Pilze im Mund
zerfallen«.
»Es ist eine bemerkenswert schwierige Sache, finde ich, meine Seele bis in die Tiefen zu erkunden, ihre Schatten und Zwielichtigkeiten ans Licht zu bringen. […] es gibt Elemente in der eigenen Gedankenwelt, die so vage sind, so undurchsichtig, so undeutlich - wie soll man sie erfassen? […] Es ist, als wären sie [Gefühle] in einer unbekannten Sprache an die Wände meiner Seelenkammer geschrieben. Meine Seele geht blind umher, suchend, suchend, fragend.«(Ebd., S. 47f.)
Was sie vor allem selbst
auszeichnet, beschreibt sie schon auf Seite eins. Ihre Fähigkeit zur
Empfindung. Sie betont zwar auch immer ihre gnadenlose Analysefähigkeit, aber
es ist dieser Kontakt zwischen Körper und Welt, der fragile Seismograph des
weiblichen Ichs, den sie hervorhebt und darin ihr Genie entdeckt.
Das erste Wort sagt »Ich« und
setzt einen Punkt dahinter.
Ein Standing, das bemerkenswert
selbstbewusst, forsch und eigen ist, passend zu einer 19jährigen,
außergewöhnlich in ihrer Präsenz und Wortwahl. Im weiteren Verlauf des ersten
Eintrags setzt sie noch einen drauf:
»Ich
habe eine wunderbare Fähigkeit zu Elend und zum Glück.
Ich bin gedanklich offen.
Ich bin ein Genie.«
Wie eine Statue sind diese Sätze
gebaut – und wie ein sich aufstellendes, in Stellung bringendes Ich wird das
Subjekt auffällig an jeden Satzanfang gestellt. »Ich bin ein Genie« bringt
gleichzeitig alle Debatten über ein weibliches Genie zum Verstummen, ob das
überhaupt sein kann, hier behauptet es sich einfach.
Von der Kunst, eine Olive zu
essen
Die bemerkenswerte Beschreibung
des Verzehrens einer Olive wird hier zur Kunst und auch zur Sprachkunst,
beinahe lyrisch.
Zelebriert wird der Geschmack, das
Gefühl im Mund und die intime, grenzenlose Freude, am Leben zu sein. Sie
vergleicht ihr Verhalten zu dieser Tätigkeit des Essens, das sie sich erworben
hat, mit der Philosophie des Epikur. Die Autorin ist also nicht nur stets mit
ihrer Sprache voll und ganz in der Synästhesie der Eindrücke, sondern immer
auch in der Reflexion über dieses Erleben.
»Das Olivenstückchen rutscht meinen roten Schlund hinunter und in meinen Magen. Dort wird es freudig begrüßt. Magensäfte springen aus den Wänden und umfangen es in liebender Umarmung. Mein Magen liebt Bitteres und Salziges. Er überschüttet die Olive verschwenderisch mit Schmeichelei und Liebe. Er lacht in stillem Vergnügen. […] Die Philosophie meines Magens ist ganz und gar die von Epikur. Gibt man ihm nur ein ein winziges Stückchen Olive, schon kümmert ihn weder morgen noch gestern. Sinnlich lebt er im Jetzt. Er ist zufrieden. Er ist im Paradies. […] Ich erlebe ein Gefühl heißer Freude darüber, dass ich ein weibliches, lebendiges Geschöpf bin und dass ich eine Zunge und ein paar Zähne habe und Speicheldrüsen.«
(Ebd.,
S. 52)
Die Betonung des Körperlichen, dem
gerade die Fähigkeit zugesprochen wird, das Unendliche zu fühlen widerspricht
dem Leib-Seele-Dualismus aufs Entschiedenste. Statt einen kränklichen Körper
auszubreiten, von dem sich die Seele im Schreiben befreit, wie
motivgeschichtlich um 1900 nicht unüblich, wird hier gerade ein kräftiger,
junger Frauenkörper und seine Fähigkeiten in den Mittelpunkt gerückt, der mit
dem Geistigen im Verbund steht, nicht etwa entgegengesetzt.
Der Teufel als Liebhaber
Der Verbund mit dem Teufel dieses
weiblichen Ichs greift ein altes misogynes Klischee auf, und anstatt es zu
dekonstruieren, wird es bewusst gefeiert, der Teufel als Liebhaber. Denn einen
realen Liebhaber hat das Ich gerade nicht. Mit keinem anderen Menschen
freundschaftlich oder in Liebe verbunden, hält sie sich an die Dinge, an die
Landschaft, an den Teufel, an ihre Sprache, die sie ausstaffiert. Es fällt
schwer, sie dabei zu bemitleiden, denn darin tritt auch eine köstliche
Eigenbetrachtung und Fähigkeit zum egoistischen Genuss zutage, der die andere
Seite der Einsamkeit manifestiert und hier festhält.
»Regelmäßig verliebe ich mich vollends und wahnsinnig in den Teufel. Er ist so faszinierend, so stark - so stark, genau die Art von Mann, die mein hölzernes Herz erwartet. Ich möchte mich ihm an den Kopf werfen. Ich würde eine süße kleine Frau für ihn abgeben. Er würde mich lieben - er würde mich lieben. Ich wäre in Ekstase. Und ich würde ihn lieben, ach, wahnsinnig, wahnsinnig! […] Die Tage sind lang - lang und sehr träge, während ich darauf warte, dass der Teufel endlich kommt.«(Ebd., S. 58ff.)
Alles wird von der Erotik des
Verschmelzens, Vertilgens, Verarbeitens durchwoben. Dabei sind die
Betrachtungen weit entfernt von naiver, jugendlicher Schwärmerei. Sie machen
immer wieder die eigentliche Unmöglichkeit deutlich, zu heiraten, mit einem Menschen
zu leben, auch der Teufel ist am Ende abwesend.
All diese kleine Opulenz lenkt von
der Ödnis der Kleinstadt, deren Kargheit und der einsamen Kindheit ab, die sie
ebenfalls eindrücklich beschreibt und sich dazu in Stellung bringt. An der
Betrachtung der Zahnbürsten im Bad wird diese ganze Isolation im Elternhaus
deutlich.
»Einmal nahm ich meine eigene Zahnbürste mit dem Silbergriff vom Badezimmersims und bewahrte sie ein paar Tage lang bei mir im Zimmer auf. Ich dachte, das könnte den Effekt der sechs lindern. Ich habe sie wieder zurückgestellt. Die Abwesenheit der einen betonte nur die verfluchte Sinnfälligkeit der anderen.«(Ebd., S. 73)
An sich selbst das Böse,
Abseitige, Maskenhafte zu erkennen und zu analysieren, sich mit dem Teufel
verbinden zu wollen und das Leben sensualistisch im Höchsten und Tiefsten
wahr-zunehmen, ist ein Zustand, in dem sich ein junger Mensch durchaus
wiedererkennen kann, der sich an das faustische Dilemma erinnert – auch eine
Lektüre der Jugend.
Mary MacLane ist Narziss und
Goldmund in einem.
Die Intensität der Beschreibung
und die schonungslose, einsame Analyse daran erinnert an das ebenfalls zu ihren
Zeiten berühmt gewordenen Tagebuch der in Paris lebenden Malerin Marie
Bashkirtseff, auch eine Ikone ihrer Zeit, mit der sich die Protagonistin
mehrmals vergleicht, und von der zwei Bilder in ihrem Zimmer hängen.
Hier wird eine zweifach vergessene
Frauentradition von Analyse deutlich, nämlich ein durch die Zeiten hindurch
vergessen Werden, sich aber gegenseitig wieder an sich Erinnern.
Ihr ist die reine Intellektualität
zuwider, das Verneinen des Sinnlichen, die »schwachen Mägen«, wie sie schreibt.
Dies entfaltet sich in einem erneuten Dialog mit dem Teufel, der sie dafür
lobt. Der nietzscheanische Ton ist dabei unübersehbar. Zum Ende ist Mary
MacLane wieder allein mit ihrem Schreiben, ihrem Kunstwerk und mit sich, nicht
zu trennen voneinander.
Wer ist Annabel Lee?
In dem danach entstandenen Roman
»Meine Freundin Annabel Lee«, MacLane war damals Anfang 20, geht es, wie der
Titel schon verrät, um ein Zwiegespräch, um Mary MacLane und Annabel Lee,
benannt nach der Figur aus der berühmten Ballade von Edgar Allan Poe.
Hatte sie im vorherigen schon einige Beobachtungen zu Brontës
Jane Eyre gemacht, so wird der Bezug zur Literatur in diesem zweiten Band
offensichtlicher.
Inzwischen lebt die junge Frau in
Boston. Sie blickt immer wieder auf ihr voriges Leben in Butte zurück, und so
wird es auch im dritten Band sein.
Der Rückblick und die
Beschreibungen konzentrieren sich wieder auf das Kleine, auf da Alltägliche,
das Detail, das intime Format. Die Kemenate wird noch immer mit sich
herum-getragen wie eine Schleppe.
War schon die erste Seite des
vorigen Bandes ein Statement des eigenen Ichs, so wird schon auf der ersten
Seite ihres Folgewerks die Erwartung einer Schilderung ihrer zwischenmenschlichen
Beziehung ins Interieur, ins eigentlich Einsame gezogen.
Denn nicht nur ist »Poes Annabel
Lee nie so berückend gewesen wie diese Annabel Lee« (Meine Freundin Annabel
Lee, S. 9), sondern sie ist eine kleine japanische Puppe, die auf einem Bord in
ihrem Zimmer steht. Sie schildert, wie sie die Puppe erworben hat, in einem
Trödelladen in Boston, wo sie inzwischen lebt.
Annabel Lee analysiert Mary
MacLane und bezeichnet diese als »sich halb bewusste Seele«. Sie besprechen und
rezitieren Literatur, erzählen Märchen, sprechen über Lyrik und Wahrnehmung.
Sie besprechen sogar an einer Stelle das Gedicht »Annabel Lee« von Edgar Allan
Poe. Sie essen auch zusammen und schreiben sich Briefe, was die erste,
eigentlich eindeutige Beschreibung der Puppe unterwandert und es nicht sicher
scheint, ob Annabel Lee nicht doch ein Mensch, ein Alter Ego, eine romantische
Doppelgängerfigur ist, eine zum Leben erwachte Geliebte, ein Pygmalion-Motiv. In
das Ensemble einer Kemenate der sprechenden Dinge findet sich eine japanische
Puppe als exotisches sprechendes und essendes, Briefe schreibendes Wesen gut
wieder.
Am Ende ist es nicht so wichtig,
ob sie ein lebendiges Wesen ist, denn eine andere Figur als Mary MacLane selber
kann es im Grunde in ihrem Schreiben nicht geben. Das ist die Kehrseite von
diesem eigenen Kosmos, der so weit wächst, auch über sich selbst hinaus; es
kann überall nur ihn selber geben, sich selber spiegeln.
Annabel Lee hat keine eigene
Stimme, keinen Ideolekt, sie klingt wie Mary MacLane, aber das klingt auch gut
so. Man könnte auch sagen: Der Teufel, von dem überhaupt nicht mehr die Rede
ist in diesem Band, hat sich in eine sprechende japanische Puppe verwandelt,
denn auch in sie scheint Mary MacLane verliebt zu sein. In ihre wunderbare
Freundin, die sie fasziniert.
Wieder wird ein mit dem Weiblichen
assoziiertes Klischee nicht dekonstruiert, sondern ihm wird ein Leben
eingehaucht, es wird gefeiert und somit literarisch aufgewertet, zur Literatur
erhoben aus einer bis dato kaum gehörten Perspektive, die sich ihrer selbst
bewusst ist, bzw. halb bewusst, wie Annabel Lee Mary MacLane in einem Kapitel
klassifiziert:
»Die sich halb bewusste Seele weiß um ihre Liebe - und fragt sich, wieso sie überhaupt liebt, fragt sich, ob sie wirklich jemanden außer sich selbst lieben kann, und wundert sich, dass Liebe sie überhaupt kümmert; die sich halb bewusste Seele weiß um ihren Kummer — und rätselt, warum sie denn Kummer hat, weil sie die Wahrheit nicht erfassen kann; […]«(Meine Freundin Annabel Lee, S. 28)
Die Zeit und der Ortswechsel haben
im Grunde nichts geändert, sondern zementiert und verfeinert. Die angespielten
und versteckten Zitate englischer Dichter wie Shakespeare, Tennyson oder
Wordsworth in den Betrachtungen setzen sich fort, und auch die Eigenbetrachtung
setzt sich anhand anderer Gegenstände und Figuren, zum Beispiel einer
Schauspielern als Maria Magdalena, fort. Es sind weibliche Figuren, die in Mary
MacLanes Beschreibungen strahlen und sich verlebendigen. So scheint es kein
Zufall, dass auch die biblische Figur der Lilith und die monströse Figur der
Gorgone hier rehabilitiert werden.
Auch wird der Lieblingsdichter der
Autorin, John Keats zitiert. Sein berühmtes Versepos »Endymion«
beginnt mit den Versen: »A thing of beauty is a joy forever«.
Diese übernimmt Mary Mac Lane in
dem Kapitel »Die Botschaft einer zarten Seele« und macht sie zum Ausgangspunkt
des gesamten Kapitels, legt die Worte Annabel Lee in den Mund.
Beide kommen jeweils und
beieinander nicht über sich hinaus; dies wird am Ende deutlich; die sichtbare
und bewusste Begrenzung der eigenen Lebenswege und Areale wird durch ein
goldenes Kräuseln gelindert, das auftaucht, wann es will. Das Wunder von
Schönheit, das kurz über das Begrenzte hinwegtäuscht, hinwegtröstet; eine
Analogie für den Band selbst, flüchtige Schönheit diesseits der Grenze
wahrzunehmen.
Ich
Dramaturgisch, sofern man die drei
Bände als Trilogie liest, was im Grunde hier mehr der eigenen Leseerfahrung
geschuldet ist als korrekter philologischer Untersuchung des Gesamtwerks,
bildet »Ich«, im Englischen noch eindrucksvoller: »I«, den sprachpoetischen
Höhepunkt der Bände.
Durch Jahre hindurchgegangen,
reflektiert die Protagonistin die Reflexion ihrer Jugendjahre. Die mehrfach
destillierte, kulminierte und noch immer im Jetzt und der Miniatur und
Synästhesie verschriebene Sprache zieht hier noch einmal Kreise in die
Kleinstatt der Jugend, in die Kargheit der Landschaften von Butte, in das Essen
von Kartoffeln, in die Beschreibung der eigenen Schuhe und Handschuhe, der Cold
Cream, die sie umhüllt. Das treue Ensemble begleitet sie noch immer, und
diesmal spricht sie weder mit dem Teufel noch mit einer japanischen Puppe; sie
spricht mit sich selbst und mit Gott, dem sie einen Spalt breit die Tür
offenlässt. Die Kapitel sind betitelt und gleichzeitig mit den Tageszeiten
datiert, eine Mischung aus den Sequenzierungen der Abschnitte aus den ersten
beiden Bänden.
Hier setzt sich auch die bewusste
Auseinandersetzung mit weiblichen Urgestalten fort. Setzt sie sich schon auf
Seite eins in die Tradition von Eva: »Kann sein, dass das auch einen Typus
zutage fördert, etwas generell Weibliches, so alt wie Eva.« (Ich, S. 8), so
denkt sie sich für Lots Frau, die übrigens keinen Namen hat, einfach einen aus
und dazu noch einen Grund, weshalb sie auf die zerstörte Stadt zurückblickt:
ein jüngerer Liebhaber, da der alte Patriarch ja unmöglich attraktiv für sie
sein könnte. »Kein Mensch bei gesundem Verstand kann zu dem Ergebnis kommen,
dass sie diesen unangenehmen alten Mann, Lot, geliebt haben kann« (Ich, S.
112).
Das Kapitel beginnt schon auf
diese wunderbar ironische Art:
»Heute Nachmittag manikürte ich mir an meinen goldblauen Fenster flott die Fingernägel und dachte über Lots Frau nach. […] Die Bibel gibt ihr in der kurzen Episode keinen Namen, also taufte ich sie gleich zu Anfang Bella […] Arme Bella, dachte ich, als ich meine Nägel färbte und polierte.«
Sie übernimmt hier das Namen-Geben
ganz selbstverständlich, wie es Adam aufgetragen war. Das alles in einer
kokett-ironischen Beiläufigkeit, eines Gedankenspiels beim Nägellackieren.
Diese Szene zeugt von der feinen Ironie, die immer wieder in den Bänden
aufblitzt.
Sie macht sich Bella außerdem zu
Eigen, zu einem Spiegelbild ihrer selbst. Sie füllt die Lücke der Geschichte,
da über eine Biografie der Frau Lots überhaupt nichts bekannt ist, außer dass
sie für etwas bestraft wird, für eine Regelübertretung. Wie so oft. Diese Lücke
wird mit Mary MacLane gefüllt, mit der Spekulation, was sie dazu bewogen hätte,
sich umzudrehen. Leidenschaft. Und Liebe um jeden Preis.
Sie dagegen betont immer wieder,
wie auch zuvor schon, dass sie keinen Liebhaber hätte, aber immer wieder auch,
was für eine leidenschaftliche Liebhaberin oder auch großartige Haus- und
Ehefrau sie potentiell wäre. Immer aber unter synästhetischen Eindrücken
überkommt sie eine Ekstase, in die sie sich gekonnt hineinschreibt, explizit ohne
Anzeichen für ein reales Erleben mit einem Gegenüber:
»Ein Dunst von der Farbe dunkler Sahne, durchsetzt von erregtem Veilchenblau, erschien aus dem Nirgendwo und hing über dem Boden.Mit einem Mal kam das Gefühl einer verwirrenden geheimnisvollen Schönheit über mich.Sie enthielt eine in Wellen spürbare Wärme, die mir in Fleisch-und-Knochen fuhr - von Kopf bis Fuß, von den Schläfen bis zu den Sohlen, vom Schädel bis in die Zehenspitzen.Langsam und erstickend rann sie dahin wie magisches Chloroform.[…] Ich begehre meinen Liebhaber wie die Leopardin den ihren. Aber ich bin keine Leopardin, sondern eine weibliche Person […] Geschlecht ist eine seltsame Eigenschaft. Auf mich wirkt es wie eine gesegnete Behinderung und eine himmlische Last und ein glänzender Fluch. —»
(Ich,
S. 53f.)
Sie berichtet nie von realen
Erfahrungen mit Menschen. Die Grandiosität bezieht sich immer auf ein
Potential, dass nicht dazu gedacht ist, Zukunft zu perspektivieren oder von der
Realität abzuhängen. So bezeichnet sie sich an einer Stelle als Stute, die ein
Fohlen trägt, ohne zu fohlen. Sie bedauert und feiert diesen Mangel und dieses
Geschenk.
Es zeigt sich, wie sehr sie noch
immer in kindlichen Betrachtungen mit einer ursprünglichen, ungetrübten
Begeisterungsfähigkeit die kleinsten Vorgänge und gegenständlichen Ensembles
beschreibt. Auch ein Insignum des alten Genie-Konstrukts.
Eine Frau um 1900 erlaubt sich
selber, sich auf ähnliche Weise in sich selbst zurückzuziehen und daraus Kunst
zu machen, ungeachtet der Erwartung des Sich-Kümmerns, Aufopferns, Pflegens Anderer,
obgleich sie sich auch zeitweise danach sehnt und an ihrer Einsamkeit leidet.
Von einer bestimmten Form des
Erwachsen-Werdens, des real Werdens, weltlich Werdens entzieht sie sich immer
wieder kunstvoll, eine echte Romantikerin. Und sie ist und bleibt eine
Anbeterin der Schönheit, und eine Liebhaberin von John Keats, der für sie der
Dichter ebenjenes Leidens und der Schönheit ist.
In allen Sequenzen geht eine
radikale Selbstanalyse mit einer ästhetischen Erlösung einher. Das Bewusstsein,
sich selbst wie ein Zimmer zu beschreiben, sich die Gegenstände um sich herum
so zu eigen zu machen, dass sie von sich selbst aus abstrahlen und in dieser
Auf-sich-selbst-Geworfenheit nicht etwa zu verzweifeln, sondern wie eine
Bettlerin oder Königin darin umherzuwandern, fällt jetzt hier auf einen
seltsamen Zeitpunkt der Veröffentlichung. Zufällig während der Pandemie
erschienen, hat es das Leseerlebnis zu einer sehr essenziellen einsamen, aber
feierlichen Zeit gemacht. Um hier auch einmal das Wagnis einzugehen, persönlich
zu werden: Danke, Mary MacLane, dass ich das Involutive auch durch diese
Ästhetik des Kleinen mit mehr Liebe ansehen konnte.
»Deswegen sprüht eine kleine Flamme, fahl zwar, doch urtümlich, aus den flachsten Einzelheiten des Lebens, in so einem Stimmungsabenteuer erstrahlt ein Fensterladen: eine Haarbürste erglüht: ein schmutziger Fußboden schimmert. Diese verwirrend furchtbaren Schönheiten in diesem Leben —.«(Ich, S. 233)
Mary MacLane: Ich erwarte die Ankunft des Teufels. Übersetzt von Ann Cotten. Ditzingen (Reclam) 2020. 206 Seiten. 18,00 Euro.
Mary MacLane: Meine Freundin Annabel Lee. Übersetzt von Mirko
Bonné. Ditzingen (Reclam) 2021. 153 Seiten. 18,00 Euro.
Mary MacLane: Ich. Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben.
Übersetzt von Mirko Bonné und Ulrike Draesner. Ditzingen (Reclam) 2021. 303
Seiten. 20,00 Euro.