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Katharina Kohm: In Melanin

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Beate Tröger

Katharina Kohm: In Melanin. Gedichte. Bebilderung: Michael Wagener. Frankfurt a.M. (gutleut verlag – reihe licht) 2021. 70 Seiten. 22,00 Euro.


Einen Essay anlässlich des 100. Geburtstags von Paul Celan begann die 1985 in Frankfurt am Main geborene Lyrikerin und Sprachwissenschaftlerin Katharina Kohm, eine intensive Kennerin von Celans Dichtung, mit der folgenden Einlassung:

Um dem Anfang einer Stauung, einer Sprachlosigkeit zu entkommen, ist ein Sprung nötig, ein Satz über eine kleine Verblüffung und eine Zögerlichkeit hinweg. Hin zu einer Skizzierung, ein Umschreiben dessen, was durch Umschreibung vielleicht umfahren wird, immer in Gefahr, es umzufahren, ihm über den Mund, dem zu sagenden.
Die Hoffnung ist, an der Naht entlang, dass sich durch das Umschreiben das Gemeinte als Leeres im Haus der Sprache, als Umriss in seiner Negativität über dieses dennoch hinweg abhebt; es ist sein Positiv oder Negativ, aber es ist es doch noch immer. Kumi ori. In seinem negativen Schatten, seiner Lücke, die so voll ist, des dunklen Lichtes voll – man zackert, immer zackert einer; Hölderlin an Pindar, Celan an Hölderlin, und viele an Celan.
Ohne Celan wäre der rezente Bezug zur Sprache ein anderer. Das ist eine verallgemeinernde Behauptung, die ich nicht verifizieren kann, von der ich aber fest ausgehe. „Du bist in den Worten zuhause“.

Sind Katharina Kohms Gedichte in den Worten zuhause? Ganz sicher wissen sie davon, dass Sprache bewohnbar ist, dass sie körperlich, sogar nahrhaft und tast- und fühlbar werden, dass im Begriff des Textkörpers eine sinnliche Dimension von Sprache mitgemeint sein kann. Es sind somatische Gedichte, die Kohm in ihrem Band „in melanin“ versammelt, wobei der Titel auf das Pigment verweist, das menschlicher Haut und den Haaren die Farbe verleiht, das aber auch Insekten vor Feinden schützt und auf Bananen braune Flecken verursacht. Die körperliche Seite der Sprache klingt also bereits im Titel des Bandes an. Den Gedichten voranstehend, sehr mutig am Größten, was die deutschsprachige Dichtung überhaupt hervorgebracht hat, sich orientierend, oder „zackernd“, zitiert Kohm auch Friedrich Hölderlins Verse: „Und immer / Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist / Zu behalten“ aus Mnemosyne.
         Aufgegriffen wird eben dieses Zitat dann von dem Prosatext „Es gibt keine Hälfte“, dessen Titel nicht zuletzt durch das Motto sofort als Anspielung auf Hölderlins „Hälfte des Lebens“ gelesen werden kann, die Vorstellung des Gedichts von einer bestimmbaren Lebensmitte durchkreuzend, aber auch die Vorstellung durchkreuzend, dass etwas nur halb ist. Tutto es aqui, es immer alles schon da, oder alle Teile können für sich stehen.
   Wer sich „in melanin“ also nähert, sollte sich nicht abschrecken lassen von einer unübersehbaren Traditions- und Reflexionswucht. Denn in den Texten federt die Autorin diese Wucht geschickt durch ein hohes Maß an Anschaulichkeit und Leichtigkeit ab. Der Einstiegstext „Es gibt keine Hälfte“ etwa lässt sich lesen als ein Text über das „Immer-wieder-neu-in-die-Welt-Gelangen“ am Morgen, eine Situation, der alle Tag für Tag ausgesetzt sind:

                                                                  „Frühes Aufwachen
an Peripherie: Vögel rufen -- durch das Kippfenster quetschen
sich Geräusche“

heißt es, und später:

„Aufstehen, sich abbinden, abtrennen von Laken, gehängt an
den Kleiderhaken, sich hochziehen, wenn man morgens nach
dem Wachrufen der Vögel nochmal eingeschlafen ist, geträumt
hat- Abrissträume, Ausreißträume voller Heimweh.

In die Welt gelangen, das heißt auch in die Sprache gelangen, die Wahrnehmung in diesem Prosatext streckt sich dem Tag halb entgegen, halb drängt er sich auf, um den Zustand des Traums mit der Wirklichkeit zu überblenden. Und man weiß: Es ist nicht immer einfach, aus der Horizontalen in die Vertikale zu gelangen, den Zustand des Außersprachlichen, Vorbabyloni-schen – im Traum kann man potenziell alle Sprachen sprechen und verstehen –, des Unbewussten zu verlassen.
    Walter Benjamin bemerkte dazu in einem Notat der „Einbahnstraße“:

Wer die Berührung mit dem Tage, sei es aus Menschenfurcht, sei es um innerer Sammlung willen, scheut, der will nicht essen und verschmäht das Frühstück. Derart vermeidet er den Bruch zwischen Nacht- und Tagwelt. Eine Behutsamkeit, die nur durch die Verbrennung des Traumes in konzentrierte Morgenarbeit, wenn nicht im Gebet, sich rechtfertigt, anders aber zu einer Vermengung der Lebensrhythmen führt.

Katharina Kohms Text weiß um all das, und findet eine Antwort auf die Frage, wie man in Berührung mit dem Tag kommen kann, indem in ihrem Text metaphorisch gefrühstückt wird:

Ich hoffe, die quälende Zeit der Wiederholungen setzt sich auf
Steine. Ein Stündchen. Nur ein Stückchen Kuchen der Welt.
Essbare Songs.

Die lebendige und sättigende Verschränkung von Sprache und Körper, die im Bild der „essbaren Songs“, wie in vielen Gedichten von „in melanin“ immer wieder programmatisch aufscheint, lässt sich auch anhand eines weiteren Gedichts unter dem Titel „das menzel-dach“ nachvollziehen. Es ist der 1951 geborenen Künstlerin und Professorin Ruth Tesmar gewidmet, die im Zuge nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1992 das Seminar für künstlerisch-ästhetische Praxis unter dem Titel „Menzel-Dach“ an der Berliner Humboldt-Universität neu begründete und die Tradition einer kunstpraktischen Auseinandersetzung an deutschen Universitäten fortschrieb, Tesmar leitete das „Menzel-Dach“ seit seiner Gründung bis zu ihrem Ruhestand 2015. In Kohms Gedicht, das den Abschied der Künstlerin von diesem lebendigen Ort reflektiert, erscheint hier der reale Raum als Frei-Raum, als „zimmer für sich allein“, als kollektiver Ort, der sicherlich gut in das diesjährige Konzept auch von „ruangrupa“ den Kuratoren der Kasseler documenta passen würde. Und indem Kunst als kollektive Praxis realisiert werden soll, wird der Raum der künstlerischen Praxis zu etwas, das von vielen fast rituell geteilt werden kann, zu etwas Belebendem, der Prozess der künstlerischen (Selbst-)wahrnehmung zur produktiven (Selbst-)begegnung:

feuer in papiertonnen machen
die nacht
erwärmte gespräche löffeln wir auf
geben ihn weiter
tauschen nahrungswerkzeug in taschen
immer griffbereite pinsel, stifte, griffel
verlängerte hand
geschirr
wir schleifen
am andern den stein

unter deinem dach
im wieder aufgehobenen löffel
erinnerst du dich an dich
                          
Figuren der Spiegelung, der Verdoppelung, des Zögerns und erneuten Ansetzens, des Um-Bauens, Um-Brechens, des „Ende neu“ (Blixa Bargeld), der Momente, in denen etwas beginnt, gerade weil etwas vorbei ist, begegnen einem in Katharina Kohms Gedichten immer wieder. Sie bilden emotionale und intellektuelle Ambivalenzen und Spannungsverhältnisse auch dadurch ab, dass sie die Mehrdeutigkeit einzelner Worte gezielt einsetzen, um diese Spannung auf ihre Leser oder Zuhörer zu übertragen, indem sie Worte mit ihren semantischen oder homophonen Ähnlich-keitsbeziehungen exponiert, wie etwa in dem Gedicht „Das Tor“, wo auf den „Kanon“ der „Kanonenwahnsinn“ folgt. Spannung entsteht in Katharina Kohms Gedichten auch dadurch, dass sie Alltags- und Traum- bzw. Mythen- bzw. Märchenmomente zueinander ins Verhältnis setzen, bisweilen auch Elemente verschiedener Märchen in einem Gedicht zusammenschießen lässt.
      Das Vokabular von Katharina Kohms Gedichten ist durchzogen von Worten, die aufs Hören abzielen, von Worten, die wir aus der Musik kennen: In „Das Blesshuhn“ hören wir das Watscheln und Ratschen, das Knacken dieses Vogels, es plätschert und scheppert, wir hören Blätter fallen, ist von Harmonien die Rede; die Gedichte sind hochkonzentrierte, visuell-akustische, manchmal asiatisch inspirierte Miniaturen, die manchmal auch an Scherenschnitte oder die wunderbar feinziselierten Märchen-Stummfilme einer Lotte Reiniger erinnern. Auch hier also Körperliches, Sinnliches, Verweise auf das Unteilbare von Sprechen und Körper.
    Die Gedichte Katharina Kohms behaupten, gleichsam postromantisch-reflektiert, damit eine Sehnsucht nach einem Umherschweifen in Zuständen des Traums, des Traumhaften, des Unbewussten, nach dem Ungebrochenen, das neu zusammengesetzt wieder ganz wird.

Hauptsache wieder
gebrochener Vers
soll an der Stelle, diesmal
sprechen.

„Es gibt keine Hälfte“ -- ein weiterer Prosatext unter dieser Überschrift beschließt den Band „in melanin“ und führt damit, paradoxerweise, die Behauptung des ersten Textes ad absurdum. Denn der Abschlusstext, in dem es Abend wird, erscheint als Komplement des ersten Textes, und so gibt es eben doch zwei Hälften, die sich zu einem neuen Ganzen zusammenfügen. Und zugleich stehen noch immer die Hälften für sich. Diese Schwebe ist möglich, und folglich scheint das sprechende Ich im letzten Text des Bandes im Sprechen für den Moment des Vollzugs ganz bei sich angekommen, im Tag jenseits des Tages, im möglichen unmöglichen Raum des Gedichts, in der Zeit entstanden, außerhalb der Zeit zur Ruhe kommend.

                                             Ich zahle keine Preise, ich bin
anwesend. Das, was ich suche, finde ich im Klang und im
Wasser, immer: ich treffe mich jenseits der Uhr. Es gibt keine
Hälfte von 365.


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