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Katharina Kohm: Heliotropen - Beobachtungen zur Anthologie japanischer Dichtung der Gegenwart

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Im Lyrik Kabinett am 26.06.2023, v.l.n.r., Yoko Tawada,
Elena Giannoulis,
Marion Poschmann
Foto: Uli Neumann-Cosel


Katharina Kohm

Heliotropen
Beobachtungen zur Anthologie japanischer Dichtung der Gegenwart


           Solange keine Blüte zu erken-
           en ist, bleibt die Pflanze gat-
           ungslos, verweilt in der Nackt-
           heit ihres Namens. (S. 33)

Das typografisch eingevierte Miniaturgedicht der japanischen Gegenwartslyrikerin Sekiguchi Ryōko (Nachnamen werden zuerst genannt), übersetzt von der Lyrikerin Daniela Danz, wurde als Schlussgedicht bei der Präsentation der jüngst erschienen Anthologie japanischer Gegen-wartslyrik von der Mitherausgeberin und Autorin Marion Poschmann am Montag, den 26. Juni 2023 im Lyrik Kabinett, intoniert.
       Dieses an Botanik und Benennung orientierte Gedicht könnte die Besonderheit und auch die kanonisierende Leistung des Bandes beschreiben, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die hierzulande und auch innerhalb der akademischen Kreise Japans weitgehend unbekannte Generation der Gegenwartslyriker*innen aus Japan sichtbar zu machen.

Das Gedicht ist innerhalb des Buches der Sammlung „Heliotropes“ entnommen. Die botanische Analogie macht das Bild des heimlichen Wachsens, Wucherns, Experimentierens und Entdeckens deutlich, das auf den Abend im Lyrik Kabinett und die Atmosphäre, die dabei entstand, übertragen werden kann, wobei die Gedichte aus „Heliotropes“ gerade durch ihre typografische Symmetrie wie in Ordnung gebrachte Beete angeordnet sind.  

Zunächst sprach Marion Poschmann von der bisherigen Leerstelle innerhalb der deutschen Rezeption gegenwartslyrischer Positionen aus Japan, jedoch auch über die bisher kaum sichtbare Lyrikszene Japans im eigenen Land. Ganz im Gegensatz zur Prosa, aber auch zu Manga und Filmkunst ist die Lyrik kaum verbreitet und bei uns in ihrer Ästhetik beinahe unbekannt.
       Im Rahmen eines Stipendiums in Japan 2014 sei ihr diese Lücke als erstaunlich und eklatant aufgefallen, sagte Poschmann. Diese Lücke zu schließen und darüber hinaus japanische Gegenwartslyriker*innen mit bekannten Sprachkünstler*innen des deutschsprachigen Raumes in den Austausch zu bringen, war die Idee des Projekts. Gemeinsam mit Japanolog*innen entstand ein Übersetzungsprojekt, das aufgrund der Besonderheiten der japanischen Sprache einerseits und der besonders experimentellen Formen der Gegenwartslyrik Japans andererseits ein besonders anspruchsvolles war.

»Eine raffinierte Grenze aus Licht«, so lautet nicht nur der Titel der Anthologie, die bei Wallstein erschienen und von der Dichterin und Prosaautorin Yoko Tawada und Marion Poschmann herausgegeben wurde, sondern er ist auch einer Übertragung des Lyrikers Ulf Stolterfoht aus dem Gedicht »Ein riesiges Auge« von Akegata Misei (S. 28) entliehen.

Der Titel soll aber auch auf die poetologische Dimension der Übersetzung anspielen:
     Grenzen zwischen den Sprachen ausloten, durchlichten – Yoko Tawada schreibt in ihrer Einleitung, und sie betonte dies auch während des Einblicks in die handwerkliche Arbeit der Übersetzung, dass die entstehenden Leerstellen und dunklen Passagen im zu übersetzenden bzw. zu übertragenden Gedicht mit einem Ausatmen gefüllt werden, bzw. auf diese Weise auf das Schweigen hin reagiert werden könne.
      Dabei geht es darum, dem Opaken seine Irritation und Seltsamkeit zu lassen und sie nicht künstlich glätten oder ausbügeln zu wollen. Die Leerstelle mit dem eigenen Ausatmen zu füllen und somit gelten und schweigen zu lassen, erscheint als wichtiger Hinweis zur Lesart dieser Gedichte.

Insa Wilke, die beim gerade zu Ende gegangenen Ingeborg Bachmann-Preis bei textherme-neutischen Fragen einen bestimmten Modus des Zugangs einforderte, bezog sich dabei auf Tawada, bei der die entscheidende Frage die jeweilige Haltung zum und im Text sei, die den Unterschied ausmache. Die Diskussion über eine Nachdichtung oder lineare Übersetzung ist eine Entscheidung, die sich damit sekundär stellt und die zugunsten von Abwägung in einem Modus der Zugewandtheit zum jeweiligen Gedicht entsteht, demnach also als eine graduelle, weniger polare Position beschrieben werden kann.

In Bezug auf die Besonderheiten der japanischen Grammatik führte Tawada beispielhaft die im Gedicht häufig gesetzten Verben als Infinitiv an; d.h. die fehlenden Merkmale des jeweiligen Tempus oder auch einer Bezogenheit auf Aktanten – beides für das westliche Denken zentral, und so innerhalb der deutschen Grammatik als Spiegelung dieses Denkens zentral – dies gibt eine ungefähre Ahnung davon, wie spannend dieser Prozess der Übertragung gewesen sein muss und wie viele Denkanstöße die Auseinandersetzung mit diesem anderen Zugang und Ausdruck in der Sprache bereithält.

Ohne diese Angaben einer Zeit und Bezogenheit zum Agens fehlt unseren Lesegewohnheiten die Orientierung, der Haltepunkt einer Kartierung der Texte. Diese fundamentalen Unterschiede wurden für die poetische Auseinandersetzung besonders intensiv. Der Prozess der Übersetzung war für die Anthologie aufgrund dessen zweigeteilt. Den deutschsprachigen Lyrikerinnen und Lyrikern wurde eine »Pro-Übersetzung« zur Verfügung gestellt. Aus diesem »Rohmaterial« formten sie dann das Gedicht.
      Leider ist in der Anthologie die Pro-Übersetzung bzw. das Original jeweils nicht zu sehen. Es wäre spannend gewesen, diese Schritte auch als sprachaffine Leserin bzw. Leser nachzuvollziehen und sich Gedanken über genau jenen mehrstufigen Gestaltungsprozess zu machen. Die Japanologin Elena Giannoulis, die ebenfalls an diesem Abend im Lyrik Kabinett anwesend war, hatte dabei einen besonders hohen Anteil an den Übertragungen der Gedichte und dem Gelingen des Bandes.  

Wenn man vom japanischen Gedicht der Gegenwart spricht, erscheint es zudem ungewohnt und entgegen der westlichen Publikumserwartung, dass es sich dabei um freie Formen der ästhetischen Gestaltung des Textes handelt und gerade nicht um die populären und traditionsreichen Formen von Haiku oder Tanka.
     Affinität und Begeisterung für japanische Ästhetik erinnern auch an den Japonismus um 1900, ohne den der Jugendstil aber auch der Impressionismus wahrscheinlich anders ausgesehen hätte.
Die gegenseitige Begeisterung, der Austausch gerade zwischen Frankreich und Japan wirkt in den aktuellen Gedichten fort, weil sich einige der aktuellen Dichterinnen und Dichter Japans an Rimbaud oder Verlaine orientieren. Auch der Surrealismus mag eine Inspirationsquelle sein, da der Bildreichtum und das Ineinanderblenden verschiedenster Bildbereiche Merkmale darstellen, die das aktuelle japanische Gedicht kennzeichnen und die es auch von der strengen Form des Haikus wegführen. So wie hierzulande Poetry-Slam-Szene und Lyrikszene wenig Berührungspunkte miteinander haben, so erscheint auch in Japan die Szene der Haikudichtenden und die moderne japanische Lyrik nebeneinander zu laufen.

Der berühmteste Haiku-Dichter, Basho, der im 17. Jahrhundert in Japan lebte, war auch wegen seines einsamen und zurückgezogenen, wandernden und eremitischen Lebensstils bekannt.
      Was Isolation, Innerlichkeit und Rückzug im Japan der Gegenwart betrifft, ließe sich in Bezug auf jene Haltung zu und in der Sprache dann doch eine Parallele zu dieser Tradition ästhetischer Sprachverwendung ziehen. Denn auch die Sprachkünstler*innen Japans schreiben aus einer gewissen Isoliertheit, einem Eremitendasein heraus. Es ist eine eigene Sprachwelt, die bis dato hier ungesehen entstanden ist. Die Gedichte wirken häufig zeitlos, verwuchert, experimentell, was sie gerade so spannend macht.

Marion Poschmann las zu Anfang auch das, wie sie findet, kryptischste Gedicht des Bandes, »Foton« der Dichterin Fujiwara Akiko, und schaffte somit eine Atmosphäre von Offenheit für Bilder, den Eindruck hinterlassend, dass ein Gedicht im Raum einfach wirken darf, ohne gleich auf seine Aussage hin geprüft werden zu müssen.

           Foton
           […]
           Ich hebe den Blick, beim Wort Kokoro – Herz, das ich auswendig lernte
           und aussprechen wollte, hab ich die Reihenfolge der Os vertauscht.

*

           Ich sammele bunte Blätter, ich laufe und laufe, der Erde nahe zu kommen.
           Solang ich geleitet werde vom Klang, so lang wie mein Schritt,
           lasse ich Licht leuchten, folge der Sehkraft.

*

           Auch die gealterten Engel hielten sich
           unter zählbaren Dingen auf, ruhten sich aus inmitten der Blätter.
           Um uns zu vergeben, sangen sie mit dem Rest ihrer Stimmen
           alle zum selben Baum.
           Jenseits des Auges
           geht ein Jugendlicher mit Stock,
           spielen Kinder Schattentreten,
           sie versiegeln ihre Herzen mit erfundenen Symbolen,
           auf dass das Pochen nicht ende.
           […]
           Ich poche darauf
           und mein Pochen wird Schrift.

*

           Um nichtsdestotrotz
           den Gesang, der erklang,
           noch vor der Grenze
           einzuholen,
           läuft der Stein los.

*
          
           Könnte ich so viele Hände verflossener Freunde
           halten wie aufgesammelte Steine,
           liefe ich los,
           den Gesang, der erklang,
           noch vor der Grenze einzuholen.« (S. 59f.)

Der größere Zusammenhang, der hier als solcher auch beispielhaft gezeigt werden muss, macht klar, wie wichtig Variation und partielle Wiederaufnahmen als rhythmische und semantische Strukturelemente sind und inwiefern fremde Beschreibungen innerhalb des Textes partiell wieder aufgegriffen werden und so eine dichte Wirkung entfaltet wird wie ein Stein, der in Wasser Wellen schlägt.
     Steine kamen zumal häufig in den Gedichten vor, die an diesem Abend gelesen wurden. Mineralien und Pflanzen, sowie Sinneswahrnehmungen und Metamorphosen. Zudem reflektiert das vorliegende Gedicht Sprache und Poetologie und zeugt von Ironie, wenn es heißt, man habe die Os von Kokoro vertauscht. Es geht nicht, und es geht eben doch, das zu vertauschen.  
        Mit einem Stock, mit der Wünschelrute, um es auf westliche Traditionen zu übertragen, geht man in den Texten umher und spürt Resonanz auf, wo Logik und Folgerichtigkeit nur im Weg stünden. Foton bezeichnet das typische japanische niedrige Bett, das auch heutzutage in Europa im Zuge minimalistischer Wohnkultur wieder sehr stark nachgefragt wird. Ursprünglich sind diese Betten aber Tagesbetten, die über den Tag zusammengerollt werden, also ein temporärer Schlafplatz.

Ein weiteres wichtiges Motiv, das sich durch mehrere Gedichte zieht, betrifft das Element Wasser. Von Meeresungeheuern bis zum Wellengott werden polyphone Stimmen laut und im Gedicht »Der Wellengott. Ein Gedicht, vorgetragen vom Gott des Meeresfunkelns« von Oikawa Shun’ya, übertragen von Marion Poschmann und Till Weingärtner, werden Zerstörungskraft und Schönheit des Meeres besungen und onomatopoetisch geräuschvoll inszeniert. Auch hier kommt der Stein an prominenter Stelle vor, nämlich an der es um den Tod der Menschen im Meer geht, um Verlust und Trauer:

           Beim Steinesammeln am Strand finde ich einen Stein mit Antlitz.
           Denke ich an die Liebsten, die treiben im Meer, denke ich an die Liebsten im
                                                                                                                                     eisigen Meer,
           ist es, als würde auch mein Körper erkalten.
           Den Stein, den ich fand, presse ich fest in den Händen, reibe ihn an meiner Brust,
           ihm Wärme zu geben. (S. 108)

Die Ambivalenz zwischen Ursprung des Lebens und Zerstörung, zwischen Größe und Schönheit findet beim Meer keine Auflösung, existiert vielmehr nebeneinander, ohne sich für eine Seite zu entscheiden. In einem anderen Gedicht heißt es: „Schlaf ist eine Menge Wasser.“ (S. 180) Über solche Verse könnte man lange nachdenken.

Die Vielfalt der Stimmen und Bilder der Anthologie wurde an diesem Abend erlebbar und stellte einmal mehr die Wichtigkeit heraus, sich Türen zu bisher unbekannten sprachlichen Ausdrücken und Zugängen zeigen zu lassen, sich überraschen und auch irritieren zu lassen. Der unge-wöhnliche Sprachschatz, der hier gehoben und behutsam bearbeitet und in die deutsche Sprache hinübergetragen wurde, lädt ein zum langsamen Lesen und sich nicht von einer zunächst wahrgenommenen Fremdheit irritieren zu lassen, sondern vielmehr nicht nur die irritierenden und leeren Stellen leer sein zu lassen, sondern die Worte auch in ihrer seltsamen Schönheit an- und wahrzunehmen, die sich gerade gegen den Gebrauch zu wehren scheinen.

Die Anthologie ist eine Entdeckungsreise und eine Einladung, aufmerksam auf die Texte zu reagieren, die Tempel aus gesprochener Sprache sind (im Japanischen besteht das Wort für Gedicht aus zwei Zeichen, dem Ideogramm für „Tempel“ und dem Zeichen für „sagen“).
Ans Herz gelegt sei in diesem Zusammenhang der folgende Passus von Saihate Tahi, übertragen von Lutz Seiler:

           auf der offenen hand
           geschmolzene bonbons
           geschmolzene schokolade
                       & den geschmolzenen regenschirm
           so hat es seine hand zur faust geballt und nachmirgeworfen nachmirgeworfen
           nachmirgeworfenworfenworfenworfen

           du ……
                                                          ich fang an, etwas zu sprechen
           während                     ich abwasch
           spür ich nicht, wie zerrissen meine hände sind
                       wenn die zündhölzer das zimmer besuchen
                       fürchtet du dich
                                   ich verstecke mich
                       im kleiderschrank
                                   auch die zündhölzer
                                   flohen sie nicht vor sonne & licht (S. 82)


(Marion Poschmann, Yoko Tawada:) Eine raffinierte Grenze aus Licht. Japanische Dichtung der Gegenwart. Göttingen (Wallstein Verlag) 2023. 208 Seiten. 22,00 Euro.
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