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Katharina Kohm: Held:innen auf Probe

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Held:innen auf Probe
Bericht von Katharina Kohm

Abschluss der Trilogie-Reihe im Lyrik Kabinett
Die Klassiker des Mittelalters neu gelesen mit Adolf Muschg,
Ulrike Draesner und Tristan Marquardt


Nach den beiden vorigen Veranstaltungen der Reihe »Held:innen auf Probe« wurde die Trias dreier großer mittelhochdeutscher Epen, nach den Gesprächen über »Das Nibelungenlied« und »Tristan« von Gottfried von Straßburg, mit dem »Parzival« von Wolfram von Eschenbach beschlossen. Initiiert, moduliert und moderiert wurde diese Aktualisierung der Klassiker mittelhochdeutscher Literatur – und somit die Auslotung heutiger Herangehensweisen und Zugänge an den Stoff der Epen – von Ulrike Draesner und Tristan Marquardt.

Durch den Umstand, dass das zunächst als Scharnierveranstaltung mittig geplante Gespräch über den »Parzival« mit dem Literaturwissenschaftler und Dichter Adolf Muschg auf den 9.3.2023 verschoben werden musste, beschloss das Werk Wolfram von Eschenbachs die Reihe.

Die Aktualisierung eines Stoffs, der, wie es Ulrike Draesner stilfigürlich fasste, datiert um 1200 zu unserem Jahrhundert anagrammatisch in Beziehung stehe, macht die Annäherung und gleichzeitig das Bewusstsein der Grenze auch der Sprachstufen und der gesellschaftlichen Wandlungen aus. Von 1200, als Datierung der »klassischen« mittelhochdeutschen Literatur, bis ins aktuelle Jahrzehnt reichen Wiederaufnahme, Neu-Interpretation und ein Wieder-Finden und sich dazu Verhalten zu einem Stoff, der Zeitloses und Zeitgedingtes gleichermaßen birgt und der – neu kontextualisiert – verhandelt, berührt und entdeckt werden kann, auch jenseits einer universitären Beschäftigung, dem angeblichen Eulenturm der Mediävistik.

Foto: Katharina Kohm

Dass die Geschichte bzw. die aventure des Ritters, der alles richtig machen will und doch alles falsch macht, wie es Tristan Marquardt nur scheinbar anachronistisch beschreibt, keineswegs nur in germanistischen Hauptseminaren und wie eine Orchidee ein Schattendasein fristet, zeigte das breite Interesse an diesem Abend seitens des Publikums an Wolfram von Eschenbachs Epos »Parzival« und dem Gespräch Ulrike Draesners und Tristan Marquardts mit Adolf Muschg, der vor dreißig Jahren, 1993, eine Neuerzählung des Parzival bei Suhrkamp unter dem Titel »Der rote Ritter« publiziert hatte.

Und jetzt, 30 Jahre später, nochmals zurück, aber auch in die Gegenwart zu blicken, die Aspekte von Sinnsuche, Gralssuche und Ritterlichkeit auszuloten und neu zu vergegenwärtigen, klang im Gespräch wie ein roter Faden unter dem Narrenkleid von Humor und Selbstironie immer wieder an: Jede Generation erschließe sich den Parzival von neuem. Und deshalb stellte der Lyriker und Mediävist Tristan Marquardt seine lexikalisch-einzelwortsemantische und poetische Bestands-aufnahme einiger Begriffe vor, die im Parzival Schlüsselbedeutungen haben und die je nach Kontext, wie der Held selbst, sich wandeln können, verschieden akzentuiert und metamorphisiert. Wer sich einmal mit einem mittelhochdeutschen Text auseinandergesetzt hat, weiß um die Polysemie mittelhochdeutscher Begriffe, um die rückgewandte Bedeutungserweiterung eines Wortes. Das Interesse dieses Zugangs ist so ein an Machart und Wortsemantik anknüpfendes, wenn es bei Marquardt über die Bedeutung des gewichtigen Substantivs diu wilde bei Wolfram heißt: »Das Innovative; was ich erfinde, ist, so sagt der Erzähler, wie ich das, was ich vorfinde, erzähle; eine Geschichte, wie passiert, was passiert.« So ist Marquardts Wortaufschlüsselung immer auch metapoetisch und ironisch aufgebrochen, sowohl Dekonstruktion als auch Verbergen und zwischen den Zeilen mit den Augen Zwinkern in einem. Erschienen ist dieser Beitrag 2020 in dem von Georg Baselitz und Alexander Kluge als Dialog zwischen den Künsten gestalteten Buch »Parsifal Kontainer« bei Spector Books.

Alfred Muschg wurde vorgestellt als Person und ein Ort, an dem der »Parzival« stattfinde. Diese ungewöhnliche Formulierung betont in besonderer Weise die Lebendigkeit von Literatur, die sich in einer Person manifestiert, die aktiv liest, dadurch verwandelt und neu interpretiert und erzählt werden kann, was Muschg sowohl literarisch als auch wissenschaftlich seit seiner Studienzeit, wie er erzählt, begleitet. Die Verquickung von Biografie und Literatur, ein sich gegenseitiges Bedingen im Bild dieser Suche nach dem richtigen Leben, nach Bestimmung, nach dem Selbst und einer ironischen Verkettung von Fehlern, die erst einen Progress provozieren, machten im Dialog die Verschränkung und Lebendigkeit des »Stoffs«, aus dem auch unser Leben besteht, aus.
Die von vornherein unmögliche Herausforderung, den Inhalt des Epos von rund 25 000 Versen in zehn Minuten zusammenzufassen, gelang Tristan Marquardt aber doch erstaunlich gut, obgleich die Besonderheit der Erzählstruktur des Werks alles andere als gerade ist, vielmehr verworren, umweghaft, wie der Held selber seinen Weg beschreitet, scheitert, neu versucht.

Spannend erscheint an diesem Helden, und das wurde von Marquardt auch besonders hervorgehoben, sein Geworfensein in die Welt, um einen Begriff Heideggers einzuwerfen. Diese „Geworfenheit“, die im Grunde jedem Menschen mitgegeben ist, verstärkt sich bei Parzival durch eine Verschleierung seiner Herkunft und das Aufwachsen bei seiner Mutter, fernab von höfischer Kultur, an einem »künstlichen Nicht-Ort«, denn die Mutter will unbedingt verhindern, dass Parzival Ritter wird, wie es sein Vater gewesen ist, der Mutter und Sohn verlassen hat. Wie so oft geschieht aber genau das dem Plan Entgegengesetzte: Parzival wird Ritter, ohne zu wissen, wie ein Ritter sich verhält, ohne in seinen Platz in der Welt hineingewachsen zu sein. Man könnte auch sagen, hier aktualisiert sich der alte Ödipus-Stoff oder, um es mit Hofmannsthal zu sagen: »Keiner wird, was er nicht ist«.

Parzival scheint es zwar bestimmt zu sein, Ritter zu werden und auf besondere Weise sein Schicksal zu erfüllen, jedoch ist er durch seine Isolation »tumb«, d.h. unwissend über seine Herkunft. Unter seiner späteren roten Rüstung steckt er in einem Narrenkostüm. Man muss unweigerlich an Don Quichotte denken, und auch dort spiegelt sich ein ungeheurer Humor über gerade diese unbeholfene Geworfenheit in ein Regelwerk, das man nicht versteht, mit durchaus edlen Anlagen, die an die Kanten dieser Regeln stoßen, wenn man nicht gelernt hat, diese abzuwägen und ihren Sinn zu begreifen. Parzival stößt im weiteren Verlauf die ritterliche Gesellschaft vor den Kopf und erfüllt durch sein Unterlassen einer entscheidenden Frage vor der Gralsgesellschaft sein Schicksal, Gralskönig zu werden, zunächst gerade nicht. Aufgrund dessen, durch das Verschweigen der Frage, begibt er sich unweigerlich auf Umwege, muss den krummen, beschwerlichen Weg gehen, den Weg des Zweifels als Verfluchter, Ortloser und Ausgestoßener. Als demütig und innerlich gewandelt kehrt er schließlich zur Gralsgesellschaft zurück und wird zum neuen Gralskönig berufen. Er löst seinen Onkel ab. Die Erfüllung des Schicksals ist zugleich eine Familienzusammenführung, eine Wiedererlangung und Erringung des Platzes in einer Ordnung, aus der er herausgelöst war und vielleicht gerade durch das Herausgelöst-Worden-Sein sein Schicksal erst wirklich erfüllen kann.


Von Hunde- und Katzenmenschen

Die spezifische Erzählweise und der feinsinnige Humor sind es, die den Parzival von dem aus Ernsthaftigkeit und Liebesethik geprägten Ton des »Tristan« von Gottfried von Straßburg unterscheidet. Wie es Katzen- und Hundemenschen gebe, so gebe es unter den Mediävisten, Tristan- und Parzival-Menschen, Gottfrieds oder Wolframs. Wer dabei welches Tier repräsentiert, wurde leider nicht aufgelöst, man könnte sich Argumentationen dazu ausdenken. Adolf Muschg erwähnte noch seine Antipathie gegen Wagners musikalischen und sakralen Ernst, die Humorlosigkeit der Tondichtungen, die Wagner aus den mittelalterlichen literarischen Stoffen zog. Seine den Humor besonders betonende Nachdichtung »Der rote Ritter« setzt Muschg dagegen.  


Von der Elster und der Tragödie des Dialogs mit der Mutter

Die erste Passage, die Muschg aus seinem Parzival-Roman »Der rote Ritter« an diesem Abend vorliest, bezieht sich auf das Verhältnis des jungen Parzival zu seiner Mutter, auf eine scheiternde Kommunikation, ein tiefes Missverstehen und eine Entfremdung, die nicht intendiert ist, die dennoch geschieht, obwohl es die Beiden miteinander gut meinen. Die Tragödie vollzieht sich anhand einer äußerst symbolischen Handlung Parzivals, der Konfrontation mit dem Tod durch eigene Schuld, nämlich anhand des Tötens von Vögeln aus »Tumbheit«, bzw. aus Unwissenheit über die Wirkung von Waffen. Parzival baut in Nachahmung, auf dem Hof in der Einöde, eine Armbrust und schickt die Pfeile den Vögeln hinterher, nicht um sie zu töten, sondern, um sie zu begleiten. Als die Elster tot vom Himmel fällt, ist der Junge ob der unbeabsichtigten Brutalität völlig schockiert. Mit Tod und Schuld konfrontiert, wendet er sich an die Mutter, die das unschuldige Schuldigwerden und den Anblick des Todes als unveränderliche Konsequenz und als Ende des Lebens, dem man nur nahe sein wollte, übergeht, indem sie ihn als »guten Schützen« lobt, was natürlich das Leiden noch verstärkt. Dieser Dialog der Entfremdung zwischen Mutter und Sohn und das gleichzeitige Bewusstsein über den Tod scheinen Initialstellen zu sein, die das bittere auf sich geworfene Alleinsein im Prozess des Nicht-mehr-ganz-Kind-Seins initiieren. Muschgs Sprachsensibilität und ein dialogisches Hindurchführen durch diesen schmerzhaften Prozess, bei dem das Missverstehen sich nicht nur symptomatisch an einem, sondern an mehreren Wortwechseln zeigt, gleichzeitig durch die Eindringlichkeit der Symbolik des Abschießens von Vögeln, zeichnen die allegorische Stärke des »roten Ritters« aus.

Dieser symbolische Blick auf Erzählungen und Episoden prägte seine Herangehensweise und Lesart des »Parzivals« schon als junger Student, erzählt Muschg. Er interessierte sich im Rahmen einer Seminararbeit für die Farbsymbolik und die Wiederholungsstrukturen von Farbmustern zu bestimmten Themenkomplexen im Epos. Da sich die Gralsthemen häufig mit den Farben schwarz und weiß verbinden, ist der »Gralsvogel« im »roten Ritter« konsequenterweise eine Elster, auch beziehbar auf das Elster-Gleichnis im Prolog von Wolfram, bei dem der Vogel den Zweifel verkörpert bzw. die Zwiespältigkeit des Menschen. Dabei werden einige Motive und Handlungsstränge des Parzival verdichtet und neu kombiniert. Die dabei als Farbmuster und -maserung auftauchende Symbolik lässt sich neben dem Gralsthema auch zum Minnethema in den Farben Rot/Weiß finden, wie die berühmten drei Blutstropfen im Schnee.

Auch stellte sich bei dem fachlich und in angenehmer Weise persönlich lockeren Gespräch ein von der eigenen Biografie maßgeblich mitgeformtes Interesse an bestimmten Themen heraus, am Suchen und Finden von Parallelen, Spiegelungen, Gleichnissen, die zum Verstehen und Erkennen führen, bei dem, wie bei vielen literarischen und wissenschaftlichen Projekten, nie ein rationales Interesse allein den Ausschlag gibt. Das persönliche Verbinden mit der Lektüre wird mitunter zur Voraussetzung der Hermeneutik, des Weiterdichtens, des Integrierens eines lebendigen Zusammenhangs, eines Bereicherungsprozesses. Unprätentiös und offen ging der Literaturwissen-schaftler und Autor damit um und zeigte damit auch einmal mehr, dass vor allem seine Fähigkeit in Gleichnissen und Bildern zu sprechen und Welten zu vermitteln nichts an seiner Magie eingebüßt hat.

Die Trias der Eier

Die Zahl drei führte leitmotivisch und ordnend sowohl durch die gesamte Reihe, die dreiteilig aufgebaut ist, über die jeweils drei Gesprächspartner:innen der Abende, hin zum Gleichnis von den drei Eiern, das ebenfalls auf eine Episode aus dem »roten Ritter« zurückzuführen ist, aber auch gleichzeitig humorvoll die gegenwärtige Gesprächssituation mit berührte.

Einmal mehr zeigte sich die anregende und lockere Wiederaufnahme und Übertragung von Fäden, Bedeutungseinheiten, die Beziehbarkeit von Werk auf Biografie, von Symbolik und Situation. Feinsinnig und nicht ohne den nötigen Humor, um den allzu heiligen Ernst aufzulockern, wurde da der Metadiskurs von Text, Schöpfung und der ewigen Tragödie des Missverstehens in ein Gleichnis gepackt, ähnlich der drei Affen, nur wird jeweils nicht ein Sinn durch Verdecken weggenommen, sondern ein Sinn ist beim jeweiligen Ei allein und absolut ausgeprägt. Dieses Kapitel ist im Roman als eine Art metapoetischer Einschub zu verstehen, als der er auch kenntlich gemacht wird: »Wer nicht wissen will, wer hinter dieser Geschichte steckt, mag das folgende Kapitel überschlagen.«

Drei und eins. Ein absolutes Gehör, ein absolutes Sprechen, ein absolutes Sehen. Die Kommuni-kation untereinander erscheint dabei schwierig, aber auch urkomisch. Die Symbolik des Ureis schwingt automatisch mit und führt dann doch wieder in den Zusammenhang zwischen Vogel und Ei, Herkunft und Freiheit, Ursprung und Absolutheit, Sinn, Gral.

»[…] die höhere Instanz ist zerbrechlich.
Sie besteht aus 3 Eiern. Sie ist 3 Eier.
Ihren Standort nennen sie gern ›höhere Warte‹ oder ähnlich. Sie müssen ja zusehen, daß gesehen wird.«
(Der rote Ritter, S. 112)

Aufgeladen mit einer Ironie, die zwar über diese >höhere Warte< nachsinnen lässt, immer aber auf eine beinahe unbeschwerte Weise, die weder zu theoretisch noch zu lapidar daherkommt – und eingeleitet mit den Worten: eine höhere Instanz ist zerbrechlich, dünnschalig und (zurecht) eitel. Dass die Eier jeweils eine Öffnung, eine durchlässige Sinnesstelle aufweisen, macht sie zu Mängelwesen, gleichzeitig offenbaren sie ihre große, ins Absolute gesetzte Fähigkeit zum Austausch.

In diesem Sinne kann man diesen Abend auch in der Replik als sehr gelungen und durchgehend durch seine vielfältigen Erzählfäden als rund bezeichnen, der die eine oder andere Stelle offen und besetzbar ließ und Denkanstöße lieferte, Eier ins Rollen brachte und einmal mehr bestätigte, dass der Stoff und die Sprachkunst mittelhochdeutscher Dichtung nicht in die Bibliotheken gehört, sondern in den Dialog mit dem Heutigen.  


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