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Katharina Körting: Endemischer Zweifel

Gedichte > Zeitzünder
Katharina Körting

Endemischer Zweifel


Eine kostbare Bank im Park, die den „Mindestabstand“ gewährt, ein paar unerlaubte Minuten mit Buch, die unablässigen, unbehelligten Vögel im Ohr: Die fette Luft im April schmeckt, als wäre nichts, doch die Corona-Pause misslingt. Ich halte gehorsam fast alle Regeln ein und kann doch den Zweifel nicht unterdrücken, ob all das, was passiert, richtig ist. Millionen Arme in Ländern, in die die Reichen zurzeit nicht mehr reisen dürfen, werden hungern, Kinder erhalten kein Essen mehr, weil die Schulen geschlossen sind, weil ihre Eltern arbeitslos werden, weil die Wirtschaft weltweit flach liegt. Impfkampagnen gegen Pocken und Masern sind gestoppt – zu teuer. Und in mir bohrt die Frage: Ist das richtig? Und warum war nicht längst verboten, was Klimatode vermeiden hilft: Fliegen ohne Ende und achtlos Kaufen, verbrauchen, wegwerfen? Wenn der Schutz des Lebens über allem steht, wie man uns einbläut, um Grundrechte-Verletzungen zu rechtfertigen – müsste sich dann nicht noch viel mehr ändern? Wirkt Klimaschutz nicht mindestens so lebenschützend wie Infektionsschutz?
    Wohlwollende betonen gutgelaunt die „Chancen der Krise“. Ich bin froh und gerührt, dass es sie gibt, die Menschen und die Chancen, aber mich höhlt der Zweifel, während ich mir meine gute Laune jeden Tag von neuem zusammenklaube aus Resten von „Normalität“. Existenzen brechen wie Glas an leeren Biertischen, deren Wirt (blass) kein Lächeln mehr findet. Ich bin befangen, natürlich, denn ich sorge und ich sehne mich. Nichts ist mehr, nichts wird mehr sein wie vorher. Ich will, scheinbar banal, wieder ins Schwimmbad gehen, in der Kneipe sitzen, im Kino heulen. Der Bildschirm, auf den ich nun im fortwährenden Homeoffice starre, wird mir zum Feindbild. In der „Zoom-Lesung“ stolpert das Bild, Sprachfetzen wackeln durchs „Netz“, Ungewissheit hinterlassend, ob ankommt, was man schreibt, was man sagt, was man lächelt.
   Die Söhne daddeln und zocken, machen ihre Schulaufgaben an Rechnern, treffen keine Freunde, machen keinen Sport mehr außer das von mir verordnete 20minütige Trampolinspringen täglich, was lächerlich ist für sie, die sonst dreimal in der Woche zum Training gingen, am Wochenende Spiele hatten, und zur Schule radelten. Mit Mundschutz und Handschuhen erledigen sie nun den Einkauf, das Müllraustragen, voll mit Verantwortung und Fragen und virologischem Wissen.
    Regelwidrig kommt die in der Nähe wohnende Tochter vorbei und zieht uns fort von den dysfunktionalen Bildschirmen, fort vom Gedankenkarussell. Wir gehen die immer-gleiche Runde im Park, ungläubig den Frühling bestaunend, als hätte er diesmal nichts mit uns zu tun, den Reiher beneidend, der so geschmeidig und effizient durch den Himmel fliegt. Wir essen zusammen zu Abend und machen einander zaghaft Mut.
  Auf Balkonen applaudieren Isolierte den Unterbezahlten, die unversehens zu „Helden“ mutieren, doch ich bringe es nicht fertig mitzutun, schaffe es auch nicht, mir die Maske überzuziehen; ich versuche es immer wieder, doch dahinter beschlägt mir die Brille, beschlägt das ganze Leben, gefangen in diesem alles überwölbenden Thema, als gäbe es keinen Himmel mehr, nur noch Hygiene, während andere im Dunkeln weiter sterben, die auch vorher unnötig starben, um die sich kaum jemand kümmerte, deren massenweises Leiden und Sterben keinen weltweiten Ausnahmezustand hervorrief. Der „Kampf gegen Corona“ hat uns angeblich alle verbunden; wir verkrampfen die Hände, die wir einander nicht reichen dürfen und lassen die Haut vertrocknen im kollektiven Waschzwang, im kollektiven Abstandhalten, Teil eines Welt-Angst-Körpers, während im Dunkeln Zusammengepferchte in weniger großen Wohnungen noch Schwächere prügeln, die Kinder herunterkommen lassen, die nun gar keinen Ausgleich mehr haben zum üblen Zuhause, kein Korrektiv, keinen Zuspruch, keine Sprosse auf der sozialen Leiter in Sichtweite. Sie drücken sich vor abgeriegelten Spielplätzen und warten, gefangen in der unnachsichtigen Gegenwart, auf morgen, während Alte mit oder ohne Corona-Infekt allein sterben, umgeben von „Schutzmasken“ und Seelennot.
   Die Möglichkeit der Liebe verliert sich in der Begegnungslosigkeit wie die Fähigkeit, sich inmitten der widersprüchlichen Informationen, eine Meinung zu bilden, stirbt mit den Lokalen und Geschäften, verdaddelt sich im xten „Stream“. Die Sonne im Blau zuckt in den Herzen, die trotz allem schlagen. Wie lange noch soll dieser Körper, wie lange noch soll diese Seele vernünftig sein, geschrumpft wie ein trockener Schwamm auf das erforderliche „Minimum an Sozialkontakt“, all diesen üblen Worten ausgesetzt, die zu schlucken sind wie Placebo-Medizin; sie bleiben mir in der Kehle stecken, mir wird übel davon wie von meinem Zweifel, den ich nicht lassen kann. Den Zweifel, ob ich das Richtige vermisse. Ob mir das Falsche fehlt. Und: Kann dieses Virus überhaupt „bekämpft“ werden? Die Kanzlerin vermeldet einen „zerbrechlichen Zwischenerfolg“, und niemand weist sie darauf hin, dass es entweder Erfolg heißen muss oder Misserfolg, aber nichts dazwischen. Anscheinend fruchten die „Maßnahmen“, Deutschland ist Corona-Musterschüler, die „Reproduktionszahl“, die ich bislang mit Geburten in Zusammenhang brachte, sinkt unter eins, während ich dies schreibe: Ein Infizierter steckt weniger als eine Person an. Vor einigen Wochen infizierte derselbe noch drei weitere Personen. Doch die Gefahr sei noch lange nicht gebannt! Immer, so wird uns versichert, stehen wir wie festgefroren „am Anfang“ der Pandemie. Statistik, Statistik! Nichts anderes zählt mehr. Die Krankenhäuser warten auf Corona-Patienten, kaum einer geht noch zum Arzt, alle starren auf das Virus. Ob diese Fokussierung auch medizinisch richtig gewesen sein wird, werde man später „bewerten“ müssen, höre ich einen Arzt im Radio; er füttert meine Zweifel wie der Ethiker, der nach der Verhältnismäßigkeit fragt oder der Bericht über eine teilnahmslose Beerdigung, weil Abschiednehmen verboten ist; Angehörige oder Freunde besuchen ist verboten, Gottesdienste sind verboten. Versammlungen sind verboten.
    Jeder meint etwas, wir alle „bewerten“ ohne Ende, halten uns an wackelnden Werten fest und führen die „Verantwortung“ im Mund, und das „Risiko“ und die „Katastrophe“ und die „Hygienemaßnahmen“ und die „Abstandsregeln“ und die „Solidarität“ und hören in jedem Husten die Welt zusammenbrechen.
    Die Beklemmung drückt mir den Leib zusammen; schweigend wütet sie in mir wie das hilflose im-Kreis-Denken, immer rund um das Virus, das in xfacher Vergrößerung an allen Ecken und Enden wie ein Geist aus der Flasche kommt.
    Die Enten auf dem Teich im Park kümmert es nicht. Wie immer wirken sie beruhigend: Wie sie einfach da herumschwimmen, bis sie irgendwann sterben, absichtslos wie das Virus, das so sehr beunruhigt, und von dem nicht klar ist, ob es überhaupt lebt, doch es bringt den Tod, und den Ausnahmezustand.
   Ich sehe ein, dass wir das „Gesundheitssystem“ nicht „überlasten“ dürfen, dass kein Arzt entscheiden müssen soll, wem er hilft und wem nicht. Ich sehe alles ein und zweifle am meisten an mir selbst, weil mir nicht gelingt, heiter und besonnen hinzunehmen, was doch offenbar alle hinnehmen, das soziale, überhaupt alles Denken den Virologen überlassend, die nur auf das asoziale Virus und auf dessen Ausbreitung schauen. Ich bemühe mich, ihrem Blick zu folgen, nicht zur Seite auszuweichen, doch etwas in mir weigert sich, zieht meinen Kopf weg, lenkt den Blick ab, zu den Anonymen Alkoholikern zum Beispiel, die sich nicht mehr treffen dürfen, oder in die Wohnungen, die keine polnische Putzfrau mehr putzt, weil sie so wenig „systemrelevant“ ist wie dieser Gedanke: dass jetzt vielleicht manch ein Wohlhabender zum ersten Mal in seinem Leben seine Wohnung selbst putzen muss. Ich denke an die Kinder, deren Eltern keine digitalen Endgeräte und Hausaufgabenhilfen zur Verfügung stellen können, so dass sie abgehängt werden von der verstreichenden Zeit. Ich denke an Indien und andere Länder, wo die Armut mit jeder „Maßnahme“ wächst, weil Wirtschaft verboten ist, weil Überleben im Namen des totalen Lebensschutzes verboten ist, und ich würde das gern richtig finden, wäre gern sicher, dass es nicht anders geht, Leben zu retten, indem man Leben verrotten lässt. Und meine Befangenheit verrät sich in jedem unter Verdacht geratenen Atemzug, in dem die Sehnsucht nach jenem Eben-noch mithaucht; so lange scheint es her: Weißt du noch, damals… da ging man einfach so auf die Straße! unter Leute! ins Büro! Da griff man gedankenlos nach Türklinken und ausgestreckten Händen und berührungswilligen Schultern! Da ging man nach draußen ohne „triftigen Grund“! Da musste man sich nicht rechtfertigen, wenn man Nähe suchte oder in Frage stellen, wenn man dem Nachbarn mit der Umzugskiste helfen will. Jetzt erinnert jeder Toilettenspiegel, erinnert die ganze Stadt, das ganze Land, der ganze Erdball an jeder Ecke, in jeder Nachricht mit Warnungen und Anweisungen an die Notwendigkeit zur Distanz. Die ganze Welt braucht „Schutzkleidung“, „Schutzausrüstung“, „Testkapazitäten“, „Tracking Apps“, „Infektionsschutz“, „Intensivbetten“, „Wirtschaftshilfen“.
  Vor den Verkäuferinnen hängen Spuckschutzplastikscheiben, in den Arztpraxen, den Apotheken. Für diese sinnvolle Maßnahme musste erst Corona kommen. Überall schwirren gefährliche Tröpfchen herum, in jeder Begegnung droht Gefahr, die Hygienisierung der Gedanken knebelt den Diskurs, definiert jede Bewegung, jede Begegnung. Einfach ist gar nichts mehr, kein Leben, keine Hand, kein Mund, keine Nase, kein Ohr, in das Zahlen strömen, tote Zahlen, die sich zu Horrorbildern zusammensetzen; leer sind die Straßen, voll ist die Welt mit Risiko. Jeder Mensch birgt Todesgefahr, und ich wünschte, ich könnte einstimmen in den Chor der begeisterten Isolierten, in den Glauben, das, was wir uns antun, sei alternativlos, sei das einzig Vernünftige.
    Die ganze Welt legt sich ins Krankenhaus und ruft nach dem Arzt und keiner kommt. Die ganze Welt rudert mit den Armen, um das Schlimmste zu verhindern, doch was ist das Schlimmste? Ist das Virus gefährlicher oder die Abwehrreaktionen? Richtet sich die Gesellschaft, ähnlich dem infizierten Körper, gegen sich selbst, weil sie nicht mehr unterscheiden kann, wo der Feind liegt? Fällt sie, wie der hinfällige Körper, in der Schlacht gegen das Virus, weil sie zu sehr auf das Virus starrt, ohne es zu sehen, weil es zu klein ist oder zu nah oder zu fern?


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