Kate Tempest: Let Them Eat Chaos / Sollen sie doch Chaos fressen
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Timo Brandt
„Is this
really what it means to be alive?“
Vorweg: In diesem Band gibt es Seiten, auf denen die Verse
mit großen Abständen und Einrückungen positioniert sind. Beim Zitieren habe ich
mich manchmal nicht in der Lage gesehen, die betreffende Anordnung
nachzustellen.
And theseare the onlytimesyou have known.
Und dies
ist
die einzige
Zeit,
die
du kennst.
In meiner Besprechung zu Kate Tempest letztem Lyrikband „Brandnew
ancients/Brandneue Klassiker“ zitierte ich Billy Joels „Summer, Highland falls“,
das mit einem Satz über diejenigen beginnt, die sagen, dass dies gerade nicht
die besten Zeiten sind. Worauf das lyrische Ich erwidert, dass es aber die
einzigen Zeiten sind, in denen es sich gerade befindet, vielleicht sogar die
einzigen, die es je kennen wird.
Auch in diesem Langgedicht (das – so Tempests Zusatz zum
Titel – geschrieben wurde, um laut gelesen zu werden; auf Englisch gibt es „Let
Them Eat Chaos“ als Lyrikband, aber auch als Musikalbum) geht es um unsere Zeit;
die Zeit, die wir kennen, die Zeit, in der wir leben. Eine Zeit, in der vieles
gewaltig schiefläuft.
„Thinking we’re engaged,
when we’re pacified
Staring at the screen so
we
don’t have to see the planet die.
Wir wähnen uns beteiligt,
dabei
sind wir sediert.
Wir
starren auf den Bildschirm,
so müssen wir nicht sehen, wie unser Planet stirbt.
Tempest verdeutlicht dieses Schieflaufen nicht nur anhand
von kategorischen Feststellungen und Anklagen, sondern erzählt, wie in „Brand
New Ancients“, Geschichten von Existenzen, in deren Wesenszügen sich die Folgen
des Destruktiven und Desaströsen zeigen. Sieben Menschen lässt sie auftreten,
spricht über sie, lässt sie selbst sprechen. Alle leben sie in London – es ist
4:18 Uhr in der Nacht, und sie alle können nicht schlafen.
Doch nicht nur das haben sie gemeinsam: es ist da eine Leere
in ihnen, die der Leere des Kosmos gleicht, in welchen die Lichter von London
nicht einmal ein schwaches Signal senden. Sie sind am Leben, fühlen sich aber
nicht lebendig. Fragen sich: fühlt es sich denn so an, lebendig zu sein? Sie haben natürlich versucht, sich
lebendig zu fühlen: mithilfe der Stadt, mithilfe von Arbeit, geistiger
Anregung, der üblichen Kompromisse, und nicht zuletzt mit Nähe zu anderen
Menschen.
Desperate for a bodywho could save me.But I never really wantedwhat they gave me.„All I wantis someone great,to make meeverything I ain’tBut the onlyones for meare the onesthat shouldn’t be.”
Auf einen
Körper erpicht,
der mich
erlösen sollte.
Aber
was sie mir gaben,
wollte
ich nie so richtig.
Einsame Existenzen schildert sie, unendlich weit voneinander
entfernt, so scheint es, obwohl sie alle, wie sich herausstellt, sehr nah beieinander
ihre Wohnungen haben. Sie alle wirken gepeinigt, entwurzelt, verloren, die Welt
um sie herum macht sie schlaflos und taub.
„Let them eat chaos/Sollen sie doch Chaos fressen“ versucht
etwas Umfassendes und beruft sich dabei auf die kleinste fühlende Einheit. Das
Gedicht kommt wie eine Offenbarungsschrift, ein Manifest daher, und doch ist
sein größtes Dilemma, sein Kern, die Angegriffenheit der menschlichen Seelen,
ihre tiefsitzende Verletzung. Die Welt geht vor die Hunde, die Dämme brechen,
die Waagschalen kippen, und in diesem Chaos leben diese sieben Menschen (und 7
Milliarden andere), wissen nicht wohin oder was sie tun sollen.
Ihre Ratlosigkeit steht dem ratternden Betrieb der Welt
gegenüber, dem reibungslosen Ablauf bei der Produktion von blitzenden Fassaden,
in denen sich Detonationen spiegeln.
I am quietFeeling the onset of riot.But riots are tinythough systems are hugeTraffic keeps moving,provingthere’s nothing to do.Coz it’s big business, baby,and its smile is hideous.Top-down violence.Structural viciousness.
Ich bin ganz still.
Fühle den
Aufstand kommen
Aber
Aufstände sind winzig
und Systeme
gigantisch.
Der
Verkehr rollt ungerührt,
führt uns
vor,
wie sinnlos
Widerstand ist.
Das ist Big
Business, Baby,
mit widerlichem
Grinsen.
Gewalt
von oben nach unten.
Strukturelle
Bosheit.
Man könnte sagen: dieses Gedicht sagt nichts Neues. Worauf
das Gedicht antworten würde: Ich sage nichts Neues, weil zu viel Altes noch im
Wege steht, ungelöst, tickend. Es konfrontiert uns mit einer uns fast schon
beliebig erscheinenden, notdürftig akzeptierten Tatsache, die Tempest uns mit
aller verbliebenen Kraft und Deutlichkeit um die Ohren haut: die Menschen
entfernen sich voneinander und entfernen sich von der Welt, auf der sie leben. Sie
leben hauptsächlich in ihren Vorstellungsräumen, die Arbeit, Freizeit, Medien,
etc. heißen.
Manche sagen, dass die Texte von Tempest ohne ihre
Performance nicht dieselbe Durchschlagskraft erzielen. Das mag sein. Aber wenn
man diese Lyrik ernst nimmt, sie nicht auf einen Aufruf oder eine Agenda
runterbricht, sondern als eine Form begreift, die von den Defiziten unserer
Zeit berichtet, unbändig, bissig und umfassend, dann, so glaube ich, kann man
viel gewinnen bei der Lektüre.
Your skin pulled loose as a pup’sshakenthen tightened
Deine Haut
wird lose, welpengleich,
durchgeschüttelt,
dann
festgezurrt.
Noch zu sprechen kommen will ich kurz auf die deutsche
Übersetzung von Johanna Davids. Sofern die vorherige Übersetzerin Johanna Wange
nicht ihren Namen geändert hat, ist dies der erste Band, den Davids übersetzt
hat. Sie war offensichtlich bemüht, Tempests straighten und einfachen Ton etwas aufzupeppen, einen eigenen
Tempestton für das Deutsche zu finden. Das gelingt manchmal ganz gut, bspw.
hier:
Luxury bespoke flatsAnd this-has-got-to-be-a-joke flats.
Luxuriös mit Wunschausstattung
oder
unseriös, komplette Verarschung.
Manchmal wirkt das Ergebnis dieses Wunsches nach einer
unabhängigen, deutschsprachigen Version aber auch ungelenk, unpassend, oder
entfernt sich allzu weit vom Original. Eines der krasseren, auch leicht
problematischen Beispiele:
WoopsThere goes my promiseAll it took was two drinkstil I got on it.
Hoppla.
Das
war’s mit meinem Versprechen.
Ich
brauchte nur zwei Drinks,
dann
war Polen offen.
Solche Momente lassen einen fast wünschen, man würde statt
der Lektüre des Buches einen Vortrag von Tempest hören. Letztlich überwiegen
jedoch die Stellen mit akkurater Übersetzung, und das ein oder andere Mal
schneidet die deutsche Version ebenso schnell und tief wie Tempests unaufhaltsames
Original.
Tempest zu lesen ist nicht unbedingt heilsam, ermutigend,
aber sie gehört zu den besten Verfasser*innen von engagierter, dem Leben in persönlichen
und umfassenden Dimensionen zugewandter Lyrik, die es derzeit gibt. Sie lehnt
sich weit aus dem Fenster, damit ihre Zeit sie hören und verstehen kann. Manche
meinen, dass sie sich zu weit aus dem Fenster lehnt, und fangen an, das zu
bekritteln. Andere werden zuhören – und das ein oder andere mitfühlen.
You think you and I are different kinds?You’re caught up in specifics.
Du
hältst dich und mich für grundverschieden?
Du
verlierst dich in Kleinigkeiten.
Kate Tempest: Let Them Eat Chaos / Sollen sie doch Chaos
fressen. Lyrik. Engl. / dt. Übersetzt von Johanna Davids. Berlin (Suhrkamp)
2018. 154 Seiten. 15,00 Euro.