Direkt zum Seiteninhalt

Kateřina Bolechová: Fünf Gedichte

Montags=Text

0
Kateřina Bolechová

5 Gedichte

Aus dem Tschechischen von Patrik Valouch


im autobus
betrachte ich die leute
ich weiß nichts über sie
sie wissen nichts über mich
man kann nur spekulieren
aber eins ist sicher
ganz am anfang
waren wir alle „sieger“
das schnellste spermium



mit dünnem handschuh
berührt mich von innen
der doktor
öffnet meine knie
mich erfasst ein gefühl
absoluter nacktheit
die erinnerung
ans sonntagsmahl:
die zähne tasten
die gelenkkapsel
des brathuhns ab



habt ihr bemerkt
dass im bad aller
anfang und ende ist
die ganze essenz
im bad könnt ihr
singen tanzen schreien weinen irrewerden
sich mut zusprechen vor angst schlottern
duschen onanieren liebe machen
in den zähnen stochern pickel ausdrücken
die zunge ausstrecken
das erste graue haar erspähen oder
eine runzel die eines tages auftaucht
nackt schwingen angezogen schwingen
betrachten wie toll man aussieht
oder wie elendig
lesen trinken essen kotzen
herzinfarkt die adern aufschneiden
eine entscheidung treffen
selbstgespräche ferngespräche
träume in den spiegel einlassen

ich kenne keinen anderen ort
wo unser ganzes leben reinpasst



Ich trug Gedichte
Gedichte trug ich
zum Altpapiercontainer,
verwertet im Loch
mit der Aufschrift:
„Service for the future“



sie war schon vier monate lang tot
als sie in meinen traum kam
um sich zu verabschieden
abgemagert in blauen jeans
umarmte sie mich
ich zuckte ratlos die achseln
und schaute zu
wie sie die bäume hinunterfuhr
ich stand im staubigen nebel
und weiß nicht wieso
es duftete nach äpfeln
nach herrlich grünen äpfeln


Der Übersetzer dankt Klaus Anders für die kritische Durchsicht der Gedichte.


Kateřina Bolechová (1966, Budweis) ist eine tschechische Lyrikerin und bildende Künstlerin. In der tschechischen Gegenwartslyrik nimmt sie einen singulären Platz ein. Ihr rauer, „proletarischer“ oder „rockiger“ Sound, der ihr von der Literaturkritik attestiert wird, schlägt sich in überwiegend lakonisch-selbstironischen Miniaturen nieder. In diesen minima-listischen Gedichten wird der Alltag mit seinen absurden Ausprägungen inszeniert, manch-mal sentimentaler, dann wieder kaltschnäuziger. Aufbegehrende Emotionalität vermengt sich mit abgeklärter Reflexion. Sie nutzt verschiedene Genreformen – von der Litanei, über Prosagedichte, Tagebücher bis zur Collage.

0
Zurück zum Seiteninhalt