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Karl Kraus: Heine und die Folgen

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Mario Osterland


Todesstille? Fürcherlich!



Tiefe Stille herrscht im Wasser,
Ohne Regung ruht das Meer,
Und bekümmert sieht der Schiffer
Glatte Fläche ringsumher.
Keine Luft von keiner Seite!
Todesstille fürchterlich!
In der ungeheuern Weite
Reget keine Welle sich.

Es erscheint schon etwas merkwürdig, dass ausgerechnet Goethes Meeres Stille zu den Lieblingsgedichten von Karl Kraus zählte, denn die darin beschriebene und gleichsam aufgebaute „Tiefe Stille“ passt so gar nicht zum ewig streitenden, immer Einspruch erhebenden Wiener. Oder ist es gerade die „Todesstille fürchterlich!“, die Ruhe vor dem Sturm, die Kraus so sehr schätzte? Wohl wissend, dass das nächste Gewitter, natürlich von ihm selbst ausgelöst, nicht lange auf sich warten lässt.

Nein, der wütende, polemische, manchmal schlicht beleidigende Karl Kraus ist kein Klischee der Literaturgeschichtsschreibung. Das verdeutlicht einmal mehr der im Wallstein Verlag erschienene Sammelband Heine und die Folgen, der, herausgegeben und kommentiert von Christian Wagenknecht und Eva Willms, eine Auswahl aus Kraus‘ Schriften zur Literatur präsentiert. Allen voran natürlich der titelgebende Großessay von 1910, in dem er Heinrich Heine bezichtigt, die „Franzosenkrankheit“ in den deutschsprachigen Raum „eingeschleppt“ zu haben. Gemeint ist damit das Feuilleton, das, sehr zum Ärger Kraus‘, „die Moral des deutschen Sprachgefühls“ gelockert hat. Seine aufmerksame Sprachkritik, mit der er unablässig die phrasenhafte Wortklauberei in Feuilleton und Tagespresse entlarvte, war ein Hauptbestandteil seiner publizistischen Arbeit. Zudem wird vor allem im Heine-Essay seine Abscheu gegenüber der bildungsbürgerlichen Verehrung kanonischer Dichter deutlich, die er meist nur als „Renovierung des geistigen Zierrats“ gelten lassen kann.


Legendär ist natürlich auch seine frühe Abrechnung mit der Wiener Kaffeehausszene um Hermann Bahr. Unter dem Titel Die demolirte Literatur (1897) erreichte der Essay als Broschüre fünf Auflagen. An kaum einem Literaten ging die Schrift seinerzeit vorbei, weil kaum ein Schriftsteller, sofern er zur Wiener Szene gehörte, darin verschont blieb. Bis heute hallen in erster Linie die Urteile über Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler nach. Ersterer war für ihn nichts weiter als ein Gymnasiast, der zu einem kleinen Goethe erzogen werden sollte. Letzteren sah Kraus so: „Der am tiefsten in diese Seichtigkeit taucht und am vollsten in dieser Leere aufgeht, der Dichter, der das Vorstadtmädel burgtheaterfähig machte, hat sich in überlauter Umgebung eine ruhige Bescheidenheit des Größenwahns zu bewahren gewußt.“

Es war die „affectirte Beziehung zur Kunst“, die Kraus vor allem bei den Kaffeehausliteraten verabscheute, und die er nicht müde wurde mit kernigen Formulierungen und einigem Witz immer wieder anzugreifen. Vor allem Schnitzler bekam das mehrfach zu spüren, der als künstlerischer Vertreter der Psychoanalyse Kraus‘ Zorn gleich in doppelter Hinsicht auf sich zog. „ … und wenngleich Schnitzler gewiß besser ist als jene, die ihn so richtig verstehen, so hat sein Werk doch Anteil an der Banalität einer Auffassung, die es mit der zweifelhaften Geistigkeit der Medizin zu verklären sucht. Diese ist ihr ‚die geheimnisvolle Wissenschaft, die geradenwegs in die Geheimnisse des Menschen und des Lebens hineinführt‘. Ein Rachenkatarrh ist die Gelegenheit, um alles zu erfahren, und wenn man den Leuten nur tief genug in den Mund hineinsieht, so weiß man auch, was sich im Herzen tut.“

Doch so amüsant Kraus‘ Polemiken auch sein mögen, sie können im Ganzen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie bisweilen ins Unsachliche abgleiten (wie in Der Fall Kerr) oder einige nicht zu übersehende Widersprüche aufbauen. So verurteilte Kraus zwar das eingeschleppte Feuilleton und war doch selbst einer der lautesten Feuilletonisten seiner Zeit. Er lehnte den bildungsbürgerlichen Kanon ab, versuchte jedoch mit überschwänglichen Lobreden auf Nestroy, Altenberg und Lasker-Schüler seinen eigenen zu etablieren. Dass Kraus‘ eigene literarische Werke ebenfalls zu diesem Kanon zu zählen haben, versteht sich indes von selbst. In seinem Essay Die Wortgestalt (1921), in dem er die „Sprachgestalt“ zum entscheidenden Qualitätskriterium der Literatur macht, heißt es: „Meine eigenen Schriften gebe ich als Gesamtheit her für einige Stellen, in denen das, worauf es ankommt und wozu überall der Weg beschnitten ist, mit einer fast den eigenen Zweifel besiegenden Unabänderlichkeit erfüllt scheint.“ Angesichts der Art und Weise, mit der Karl Kraus (Eigen-)Lob und Tadel kommunizierte, wundert es nicht, dass er zeitlebens polarisierte, strikt in Freund und Feind unterschied und bisweilen sogar tätlich angegriffen wurde.

In späteren Jahren äußerte sich Kraus weniger zu einzelnen Autoren und Werken, vermittelte mit Aufsätzen wie Von Humor und Lyrik (1921) oder Der Reim (1927) vor allem poetologische Standpunkte. Demnach galten ihm Lyrik und Dramatik immer mehr als Dichtung, da sie vom Satz her kamen, wohingegen die Prosa „nicht im Satz, sondern im Stoff beginnt“. „Darum auch werden zeitgenössische Erzähler von höchstem Rang, wie Musil und Kafka … allenfalls durch Stillschweigen anerkannt“, heißt es im Nachwort des Bandes. War das Stillschweigen also der eigentliche Ritterschlag, den Kraus bereit war zu vergeben? Mit diesem Gedanken leuchtet der Stellenwert des Goethe-Gedichts natürlich ein. Oder war Kraus nur der bekümmerte Schiffer, der sich nach Wellengang sehnte?


Karl Kraus: Heine und die Folgen. Schriften zur Literatur. Hg. und kommentiert von Christian Wagenknecht und Eva Willms. Göttingen (Wallstein) 2014. 464 Seiten. 32,00 Euro.

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