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Karl Kraus: Der Nörgler am Schreibtisch

Poetik / Philosophie > Glossen

Karl Kraus:

Der Nörgler am Schreibtisch

V. Akt, 54. Szene


Ich habe eine Tragödie geschrieben, deren untergehender Held die Menschheit ist; deren tragischer Konflikt als der der Welt mit der Natur tödlich endet. Ach, weil dieses Drama keinen anderen Helden hat als die Menschheit, so hat es auch keinen Hörer! Woran aber geht mein tragischer Held zugrunde? War die Ordnung der Welt stärker als seine Persönlichkeit? Nein, die Ordnung der Natur war stärker als die Ordnung der Welt. Er zerbricht an der Lüge: die Wesenlosigkeit, an die er den alten Inhalt seines Menschentums verloren hat, in den alten Lebensformen zu bewähren. Händler und Held zu sein und dieses sein zu müssen, um jenes zu bleiben. Er vergeht an einem Zustand, der als Rausch und Zwang zugleich auf ihn gewirkt hat. Gibt es Schuldige? Nein, sonst gäbe es Rächer, sonst hätte der Held Menschheit sich gegen den Fluch gewehrt, der Knecht seiner Mittel zu sein und der Märtyrer seiner Notwendigkeit. Und zehrt das Lebensmittel vom Lebenszweck, so verlangt es den Dienst am Todesmittel, um noch die Überlebenden zu vergiften. Gäbe es Schuldige, die Menschheit hätte sich gegen den Zwang gewehrt, Held zu sein zu solchem Zwecke! Den einzelnen, die es befahlen, hätte die Einheit geantwortet. Jene aber sind nicht Tyrannen. Ihr Geist ist aus dem Geist der Masse geschnitten. Wir alle sind einzeln. Wir haben jeder unsern Schmerz und der andere entbrennt nicht daran. Und wir entbrennen nicht an dem Kontrast, den unser Opfer zum Gewinn des andern täglich stellt, zum grausamen Gewinn des andern. Tyrannen wichen dem Schrecken. Wir aber hätten uns unsere Tyrannen immer wieder aus uns selbst ersetzt. Denn uns alle treibt ein hohles Wort, doch nicht des Herrschers, sondern der Maschine.

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