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Karin Kiwus: Das Gesicht der Welt

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Mario Osterland

Vom Vergessen der einfachen Gegenstände


Die Veröffentlichung ihres vierten und bisher letzten Gedichtbandes Nach dem Leben liegt acht Jahre zurück. Wie seine drei Vorgänger erschien er bei Suhrkamp, doch nicht einmal mehr dort scheint man sich daran zu erinnern. Auf der Verlagshomepage fehlt von Karin Kiwus' Büchern jede Spur. Dabei wurden ihr Debut Von beiden Seiten der Gegenwart (1976) und der nachfolgende Band Angenommen später (1979) seinerzeit von der Kritik viel beachtet und überwiegend begeistert aufgenommen. Zu einer Zeit also, in der die Begriffe „Alltagslyrik“, „Neue Innerlichkeit“ und „Neue Subjektivität“ längst zu den Schlagworten des bundesdeutschen Feuilletons gehörten. Bezogen auf das dritte in dieser Reihe schrieb Helmut Heißenbüttel: „Damit es kein Schlagwort bleibt, muss dieses Wort mit aktuellem und lebendigem Inhalt gefüllt werden. Hier, in den Gedichten von Karin Kiwus, wäre ein solcher Inhalt.“ Doch aus heutiger Sicht, so hat es den Anschein, sind vier Gedichtbände in 30 Jahren zu wenig, um dauerhaft im Gedächtnis von Kritikern und Lesern zu bleiben. Oder waren es ganz und gar die Inhalte, die zu einem relativen Vergessen von Kiwus' Lyrik führten? Mit dem nötigen zeitlichen Abstand fasste der Germanist Ralf Schnell das Problem der Alltagslyrik jedenfalls so zusammen: „Ein poetisches Verfahren, das sich in dieser Weise auf die ‚einfachen Gegenstände‘ bezieht, steht in der Gefahr, sich eben jenem Wandel unterwerfen zu müssen, dem auch die ‚einfachen Gegenstände‘ unterliegen, und gerade dadurch dem Vergessen anheim zu fallen.“

Während Suhrkamp 2010 nach Berlin umzog, blieb Kiwus' Werk in Frankfurt am Main zurück. Hier nahmen sich Schöffling & Co. der nun erschienenen Gesamtausgabe ihrer Gedichte an, die den Titel Das Gesicht der Welt trägt. Das Nachwort des 350 Seiten starken Bandes, in dem sich auch das oben erwähnte Heißenbüttel-Zitat findet, schrieb Mirko Bonné. Auch er kommt auf den Wahrnehmungsschwund von Kiwus' Gedichten in der Öffentlichkeit zu sprechen, verspricht jedoch: „Status und Größe, Umfang und standing sind der Dichterin herzlich gleichgültig.“ Nach dem Lesen von Das Gesicht der Welt bin ich bereit ihm zu glauben, denn es ist auffällig, dass Kiwus' Gedichte über die Jahrzehnte hinweg ihren unbedingten Anspruch auf Unabhängigkeit aufrecht erhalten haben. Das zeigt sich jedoch nicht in einer selbstgefälligen Abwehrhaltung gegenüber anderen lyrischen Strömungen, sondern in der Unbestechlichkeit der eigenen Stimme.

Wie aber klingt diese Stimme? Kiwus' Lyrik ist, unabhängig von der Zeit ihrer Entstehung, von einem prosaischen Stil geprägt, der die klassische Syntax mal mehr und mal weniger stark aufrecht erhält, in einzelnen Texten von „echter“ Prosa jedoch kaum mehr zu unterscheiden ist (z.B. Grabfigur eines mit Lorbeer bekränzten Mannes). Ihre Gedichte haben einen starken Hang zur szenischen Reflexion, der sich vor allem in den Langgedichten wie etwa Richtung Westend gegen neun, Sonny-Boy oder dem späteren Lament zeigt. Angesichts dieser Texte ist es verständlich, wie Wolfgang Hildesheimer zu der Einschätzung kommt, es gelänge Kiwus „in einem einzigen Gedicht mehr Wirklichkeit einzufangen, als andere in seitenlanger Prosa.“ Allerdings findet diese Art von Verdichtung meist nur auf inhaltlicher, nicht aber sprachlicher Ebene statt. Das führt wiederum zu einem Plauderton, der sich hin und wieder den Vorwurf des Banalen gefallen lassen muss, und in Einzelfällen auch mal entgleist. Wie etwa in Tassos Nachtmusik, die mit den Versen endet „ich leide damit ich für sie spielen kann/ und sie spielen daß sie mit mir leiden können“.

Trotz dieser Eindrücke wäre es jedoch vermessen, Kiwus' Gedichten Beliebigkeit zu unterstellen. Was ihr lyrisches Werk zu einem solchen zusammenzurrt und für einen Wiedererkennungswert sorgt, ist das akribische Arbeiten an den für die Autorin zentralen Themen: Identität, Existenz, Vergänglichkeit und Liebe. Zu beobachten, wie Kiwus diese Gegenstände über die Jahre hinweg immer wieder von einer anderen Warte her ausleuchtet, macht den Reiz ihrer Lyrik aus. Hierin wird die Wahl ihrer Sprache am deutlichsten, die immer auch eine öffnende Geste an den Leser ist und sagen will: „Sei mein Verbündeter bei der Lösung dieser Rätsel.“ Die somit erzeugte Nähe wirkt vor allem dann, wenn Kiwus, wie häufig, vor allem in ihrem letzten Band Nach dem Leben, über den Tod schreibt, dieses „Einwanderungsland,/ das noch jeden/ aufgenommen hat/ und niemanden/ je ausgewiesen.“


Karin Kiwus: Das Gesicht der Welt. Gedichte 1976 – 2006. Mit einem Nachwort von Mirko Bonné. Frankfurt/Main (Schöffling & Co.) 2014. 352 Seiten. 22,95 Euro.

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