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Karin Fellner: Polle und Fu

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Beate Tröger

Karin Fellner: Polle und Fu. Gedichte mit Zeichnungen von Simone Cayé. Köln (Parasiten-presse) 2024. 72 Seiten. 12,00 Euro.

Heitere Fatalität


Dualität ist ein konstituierendes Ordnungsprinzip des abendländischen Denkens. Tag und Nacht gehören in diesem Denken ebenso zusammen wie Adam und Eva, wie Anfang und Ende, aber auch wie der Moderne Kunstfigurenpaare wie Max und Moritz, Fix und Foxi, Laurel und Hardy, komische Paare, oder so irritierende wie Jeremias und Arthur, die Gehilfen aus Kafkas „Schloss“, die K. sabotieren, sich in sein Bett legen, wenn er nachts mal raus muss und auch sonst immer nur im Weg stehen, anstatt zu helfen.
      „Dass ich eins und doppelt bin“ lautet eine berühmte Verszeile aus Goethes Gedicht „Gingko biloba“. Seltsam aufeinander verwiesen, symbiotisch, platonisch kann die Dualität sich manifestieren. Dyadisch ist sie auf alle Fälle auch in Karin Fellners wundersamem Gedichtband „Polle und Fu“.
Wer genau Polle und Fu sind, das wissen wir nicht, wir lernen dieses janusgesichtige Doppelwesen, das mit einem Augenpaar in die Vergangenheit zurück-, mit einem in die Zukunft blickt, kennen. Auch das titelgebende Gedicht des Bandes gibt uns Anhaltspunkte:

Im hingerichteten Hain sitzen Polle und Fu
links halbleere Akkus, vorn ein Rest Knäuelgras.

„Du?“, fragt Polle, „solln wir uns halten ans
allseitige Flackern und wie, und wie dazu
uns verhalten, enthält es uns oder was
hält es uns vor?“
„Halten, enthalten, das klingt nach good old Loop,
lass uns lieber hier unsern Unfug auslegen!“
Sich dem Unfug zu stellen, den Unfug auszulegen, das ist eine Lieblingstätigkeit des selt-samen und in Fellners Gedichten ausschließlich über sein Tun näher beschriebenen Paares, das auf einem Fuß hüpft, das sich laienhaft und unverblümt und unmittelbar und in gewisser Weise alterlos und anarchisch verhält:

„Komm, Fu“, sagt Polle, „wir
müssen nichts müssen, sind einfach
Kinder, unverbissen.“

Polle und Fu sind eine Einheit, die dem Transitorischen, sich Wandelnden, dem stets sich Erneuernden, dem Wachsenden in seiner Potentialität unvoreingenommen begegnet, aber eben auch mit den unwägbaren Folgen, dem Empfinden von Kontingenz, Verunsicherung, Bodenlosigkeit, Desorientierung zu kämpfen haben, einem Zustand, der nicht zuletzt durch die Rasanz der Digitalisierung, die in diesem Band durch Verben wie „rebooten“ angezeigt wird, die man sogar noch in der Dualität von Polle und Fu wiederfinden kann, wenn man deren Zweiergespann in Analogie zum Binärcode begreift, der in aller Regel die Grundlage für die Verarbeitung digitaler Informationen bildet.

Doch im Grunde wird die Herausforderung einer digitalisierten Welt eher lustvoll empfunden als ein „Fest des Fluiden“, wie es im Gedicht „Übergang“ heißt:

Es dünkte uns, etwas von hüben, von drüben, höbe das Meer
auf, dass es uns blühte, uns schleifte ins Ungeprüfte,
so schiens.
[…]

Sachte, sagte sie, kam ich
ins Wanken, das Wanken war
sich gewachsen, es wechselt mich aus,
in diagonalen Flächen begann ich
mein Ich auszuziehen, die lustige Hülle
und wurde aufgefächert,
ausgezogen zu Hallen,
wogegen nichts zu sagen wäre, denn
Wellen sind nahe Verwandte
des Sprechens, sie brachten mich auf,
kaperten Hals und Ganglien,
ohne Verärgerung brach
schließlich alles auf zum
Fest des Fluiden.

Die Freude bleibt, auch wenn sich die Einsicht gemorst breitmacht:

„Über lang-kurz-lang
werden wir blank gerieben
sein und über-
schrieben.

Der Ton heiterer Fatalität bestimmt diesen Band. Man mag an traurige Clowns denken, um sich Polle und Fu plastischer vorzustellen, auch an Samuel Becketts Vladimir und Estragon aus „Warten auf Godot“. Die Komik in diesen Gedichten wirkt auch deshalb so intensiv, weil Polle und Fu um die Fallhöhe wissen, die es braucht, damit eine Pointe mehr macht als einen Kalauer. Diese Gedichte sehen genau hin, immer wieder fühlt man sich versetzt in unser aller Alltag, herausgerissen aus selbigem. Das Gedicht „… Furt Fürt Fort …“ in seinem Witz beginnt mit den Versen: „Aus meinen Beamtenfluren biege ich ab und biege / die Flure selbst um, spanne ihren alten Beton / zu einem Halbbogen auf.“ Was für ein witziges Gedicht. Die Beamtenflure stehen hier für das Geordnete im Leben der Sprecherin, sich aus ihnen zu befreien, sich aus ihnen herauszubiegen, das heiß, sich mit Polle und Fu eben nicht den Normierungen zu beugen, denen man sich unterworfen fand.

Karin Fellner beweist in diesem Band erneut ihren Blick für die Materialität der Sprache, ihr einzigartiges Talent für Wortspiele. Sie pflegt einen innigen Umgang mit anagrammatischen Strukturen und Versatzstücken („Atonales Notat“), mit Rhythmus, Reim, Klang, das Gedicht wird sogar selbst zum Ohr, sie nimmt Redensarten wörtlich: „Gehn wir doch in die Binsen!“, scheint dabei die Aggregatszustände der Sprache zu wechseln, oder die Sprache wird ebenso von ihnen durchzogen wie Polle und Fu, die von sich sagen:

„Ins Stiefschwarz über die Mitte
liefen wir trotzig, wollten
nicht hart werden, nicht scharf.“

Dagegen kommt selbst Stein in seiner ganzen Härte nicht an:

Ver- und -lernet zu seyn!
sprach zu uns der Stein
und brachte uns schlagend zum Klingen.“

Polle und Fu gießt aus seinen sechs Zyklen ein Füllhorn von neunundreißig Gedichte, die singen und springen, deren Kapriolen von der Apfelmuse über die B-Lumen bis hin zu Mente, für die gilt: Frag Mente! ansteckend heiter sind und funkeln wie bunte Feuerwerkskörper. Zurück bleibt aus dieser Lektüre dabei aber weit mehr als Schall und Rauch, sondern regel-recht das Gegenteil: die unumstößliche Gewissheit, dass hier jemand spricht, der der Welt in ihrer überfordernden Gebrochenheit mit skeptischer Amüsiertheit, höchster Wachsamkeit und präzisester Sprache in dem Wissen begegnet, dass vermeintlicher Nonsens und Beherztheit, das die Wirklichkeit suchende, sie hinterfragende, sie überschreitende poetische Sprechen oft die einzig vernünftigen Reaktionen auf deren Irrsinn sind, getreu dem Vers: „Lang sei der Mut, wenn die Zustände wechseln!“
       Der große Ernst Jandl, wie Karin Fellner ein Lyriker, der die Bewegungen der Avantgarde besonders schätzte und womöglich auch Fellners Gedichte geschätzt hätte, schrieb in dem poetologischen Text „Aufgaben“: "Lyrik, denke ich, ist die beste Art, Literatur zu machen; richtig angewandt erlaubt sie, mehr als jede andere Gattung, Schärfe, Präzision, Intensität". Wer „Polle und Fu“ liest, wird sehen, wie heutig und zugleich über den Zeitgeist erhaben im Sinne Jandls Karin Fellners Lyrik schwingt.


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