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Juninovember

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» […] das sind mindestens drei Etagen in denen man lebt«

Juninovember – Ein Abend für Sarah Kirsch



Eine Hommage und die Präsentation des ersten Nachlassbandes vereinte die Veranstaltung am 7. Mai im Lyrik-Kabinett. Es waren sowohl Thomas Rathnow, Verleger Sarah Kirschs bei der DVA, wie ihr Sohn und Nachlassverwalter Moritz Kirsch als auch die Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Kuratorin Verena Nolte zum Gespräch anwesend, um Einblicke in Leben und Werk der Lyrikerin zu eröffnen.


Verena Nolte


In drei Blöcken präsentierte sich das Programm, bei dem der, im Frühjahr dieses Jahres erschienene, Prosaband als Brücke zwischen biografischen Daten und Lyriklesung fungierte.

Der erste Nachlassband »Juninovember«, den Sarah Krisch noch selbst in Teilen vorbereitet hat, entstand aus Tagebuchaufzeichnungen zwischen dem 23.September 2002 und dem 28.März 2003.

In seiner Einführung lobte der Leiter des Lyrik-Kabinetts Holger Pils die »poetischen Tagebuchnotate« und wies darauf hin, dass der minimalistische Stil der Lyrikerin, die Verfremdungstechniken und Wortspiele keine unbestimmte Sprachspielerei, sondern Ausdruck eines autonomen Blicks seien, der ebenso ein Schutz in der Distanz ausdrücken könnte.¹     

Thomas Rathnow bezeichnete in seinem Grußwort Sarah Kirsch als die bedeutendste Lyrikerin der DVA, was unter anderem dazu beitrage, dass die lyrische Tradition des Verlags, der auch zeitweise Nelly Sachs und Paul Celan verlegt hatte, durch ihr Wirken erhalten bleibe. Auch die jährliche Herausgabe des Jahrbuchs der Lyrik leiste dabei einen wichtigen Beitrag.  

Die Sprachspiele Sarah Kirschs, die aus einem Mittwoch einen Mistwoch und aus der Akademie für Sprache und Dichtung die Akademie für Strafe und Richtung machte, sorgten für amüsierte Reaktionen aus dem Publikum.

Die philologische Frage der Einordnung des Tagebuchs eines Autors erscheint  durch die Verweigerung, in den Aufzeichnungen Reflexionen und poetologische Gedanken zu entfalten, besonders brisant und diskussionswürdig. Die Texte werfen grundsätzlich wieder die Frage auf: Was ist Literatur?

Warum sie gerade die Periode zwischen September 2002 und März 2003 wählte und sich diese Zeit mit dem Titel »Juninovember« nicht deckt, bleibt unklar.


Moritz Kirsch


Während des Gesprächs gab Moritz Kirsch Einblicke in die gemeinsamen Lebensstationen von der DDR bis zu dem zurückgezogenen Leben im ehemaligen Schulhaus in Tielenhemme. Auch gab er Einsicht in die ästhetische Arbeit. Die Gedichte Sarah Kirschs entstanden demzufolge in mehreren Arbeitsschritten und durchliefen mehrere Stadien, wobei die ersten Entwürfe stark bearbeitet wurden.

Ihr zu Lebzeiten letzter publizierter Gedichtband »Schwanenliebe« wurde in Bezug der Verknappung schon damals stark kritisiert. Sich selbst zu kopieren ist ebenfalls ein Vorwurf, zu dem sich die Lyrikerin nicht geäußert hat. Dennoch findet man in ihrem Prosaband genau diesen Vorwurf als produktive Arbeitsmethode wieder, als ob sie der Veröffentlichung der Tagebücher nach ihrem Tod habe entgegenwirken wollen:

»Was man bei der Arbeit so denkt, was man bei der ersten Niederschrift empfand, nun wieder erinnert das sind meistens drei Etagen in denen man lebt. So geht auch das Glück. Und Blätterhände flattern am Fenster vorüber wann ich mich umschau. Denn es entlaubt sich auch die Platane.«

4. November 2002, Montag  


Der poetische Titel »Juninovember«, ein Selbstzitat aus einem früheren Gedicht, scheint jedoch genau das zu suggerieren, was in zu lesenden Aufzeichnungen nicht eingelöst wird. Die Aufzeichnungen thematisieren das Wetter, die Pflanzen, das politische Weltgeschehen (Tschetschenien-Konflikt, Irak-Krieg) sowie Kommentare zu Kollegen wie Günter Grass und Hermann Kant. Hin und wieder deutet sich eine poetische Wendung in den Texten an und aus; diese wird aber durch Bemerkungen in salopper Manier wieder zurückgenommen. Das raue Wetter und die karge Landschaft des Nordens werden immer wieder zum Auslöser für Texte. Dabei gehen die Betrachtungen über Pflanzen nicht selten beinahe ins Gleichnishafte über:


»[…] Der Jelängerjelieber am Fenster des grünen Zimmers er hat schon Blättchen, wie immer sehr froh und optimistisch. Mitunter erfrieren die noch mal. Sie lernen nix daraus, das finde ich gut.«

10. Nerz 2003, Montach


Den Ausklang des Abends bildeten Gedichte Sarah Kirschs, die von denen, die sie in der Villa Massimo während ihres Stipendiums 1978 schrieb, bis hin zu solchen aus dem letzten Lyrikband »Schwanenliebe« reichten, die mitunter von japanischen Haikus inspiriert sind.

Die Veranstaltung bleibt mit dem letzten Gedicht des Abends und gleichzeitig dem letzten, das sie zu Lebzeiten schrieb, der Erinnerung an eine große Dichterin verschrieben. So nimmt sie in ihren letzten Versen die Erinnerung schon vorweg, die sie sofort ironisch konterkariert:

»Epitaph

Ging in Güllewiesen als sei es
Das Paradies beinahe verloren im
Märzen der Bauer hatte im
Herbst sich erhängt.«

Katharina Kohm


¹ An dieser Stelle sei auf die Rezension in der taz verwiesen, die titelte »Hinter ihrer Sprache versteckt«.


Sarah Kirsch: Juninovember. München (Deutsche Verlangs-Anstalt) 2014. 208 S., 19,99 Euro.

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